Vor uns liegt ein Zeitraum von vier Jahren für alle neugewählten Räte in unserem Bistum. Wir dürfen also nicht lange zögern, die entscheidenden Themen der kommenden Zeit genauer in Angriff zu nehmen. Im Blick auf die Aufgaben der vergangenen Ratsperioden können wir durchaus sagen, dass wir unsere Themen stets zeit-, situations- und sachgerecht ausgewählt haben. Auch für die nächsten Jahre, so scheint es mir, lässt sich ein Bündel zentraler Probleme angeben, ohne dass ich mit meinen heutigen Ausführungen Vollständigkeit beanspruchen möchte:
Das fundamentale Gewicht der Gottesfrage: In einer Welt zunehmender säkularer Verschlossenheit ist es unbedingt notwendig, inmitten vieler aus der Gegenwart andrängender Probleme das unvergleichlich wichtigere Gewicht der Gottesfrage nicht zu vergessen. Ich darf dafür auf mein Eröffnungsreferat in Fulda bei der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz im September 1999 verweisen.
Die bleibende Bedeutung von Ehe und Familie: Schon lange Zeit gehören die Lebensformen, die wir wählen und die uns bestimmen, zu den sensiblen und drängenden Themen. Aus vielen Gründen haben es Ehe und Familie immer schwerer. Dazu gehört auch die Frage nach der Sorge um die Kinder. Besonders in der öffentlichen Meinung scheinen andere Themen diese Grundwirklichkeit unseres Lebens zu übertönen.
Anfang und Ende des menschlichen Lebens: Es besteht kein Zweifel, dass sich sehr viele Probleme in der Bioethik konzentrieren. Dabei geht es vor allem um den Anfang und das Ende des menschlichen Lebens, Geburt und Tod. Sie sind ohnehin die Lebensgeheimnisse, die uns immer stark beschäftigen und bestimmen. Kindsein und Altwerden, Schwangerschaft und Abtreibung, Sterben in Würde und Sterbebegleitung werden auch in den kommenden Jahren zentrale Problemfelder sein. Die Bioethik wird sich freilich noch sehr viel intensiver mit dem Schutz der Embryonen befassen müssen. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms wird viele bedrängende Fragen bringen, die sich nicht nur auf einen fragwürdigen Gebrauch etwa seitens von Arbeitgebern und Versicherungen beschränken. Das Stichwort "Präimplantationsdiagnostik" kündigt ganz neue Probleme im Blick auf das Lebensrecht des ungeborenen Kindes an. Die moderne Technik bringt uns hier nicht minder Segen wie Fluch. Wir müssen in diesem Bereich mit vielen Ambivalenzen leben lernen. Das Thema "Sterbebegleitung und Sterben in Würde" wird uns ebenfalls in Zukunft gewiss noch sehr viel mehr als bisher beschäftigen.
Heute möchte ich wiederum auf ein herausragendes Thema kommen und darum an dieser Stelle auf grundsätzliche Ausführungen zum Anfang und zum Ende des Lebens verzichten (2.). Es geht um die Zukunft der Schwangerschaftskonfliktberatung.
Dabei will ich nicht lange nach rückwärts schauen. Ich habe solche Analysen des Geschehens schon öfter in den jeweiligen Phasen der letzten Auseinandersetzungen vorgelegt (3.). Die Gründe für diese Auseinandersetzungen sind vielfältig. Wir haben einen wohl in der ganzen Welt einzigartigen gesetzlichen Lösungsversuch des Schwangerschaftskonflikts. Es ist ein neues Modell, das zwei spannungsvolle Elemente miteinander vereinigt. Einerseits bleiben Abtreibungen – abgesehen von bestimmten Indikationen (= 3%) – Unrecht und als solches unerlaubt. Dies ist und bleibt das entscheidende Prinzip, das freilich durch andere Gesichtspunkte ergänzt wird. Andererseits bleibt ein Abbruch straflos, wenn die schwangere Frau sich zuvor beraten ließ und einige andere hier nicht zu wiederholende Bedingungen einhielt. Diese Beratung hat präventiven Charakter und dient dem Leben. Die schwangere, aber abtreibungsgeneigte Frau soll vom Lebensrecht des Kindes her und durch das Angebot von Hilfen zur Annahme und zum Austragen des Kindes ermutigt werden. Diese Beratung ist ein dialogisch-personaler Prozess, in dem die schwangere Frau ihre Schwierigkeiten darlegen soll. Der Erhalt des Kindes ist das einzige Ziel der Beratung. Ob die schwangere Frau diesem Rat folgt, kann nur sie allein entscheiden. Im einzelnen konkreten Fall bleibt darum offen, ob eine Beratung mit diesem positiven Resultat gelingt. Wir sprechen darum von "Ergebnisoffenheit". Eine "ergebnisoffene" Beratung ist nicht eine gleichrangige, prinzipielle, alternative Möglichkeit zur positiven Lebensberatung, sondern beschreibt nur die Möglichkeit, dass die zielgerichtete Beratung im einzelnen Fall nicht das Ziel erreicht. Ergebnisoffenheit ist nicht Zieloffenheit. Dies wird oft übersehen, aber auch nicht selten bewusst falsch dargestellt.
Wir hatten dieses neue Paradigma der Beratungslösung einstweilen akzeptiert, um in diesem Rahmen den abtreibungswilligen Frauen zu begegnen und ihnen mit Rat und Tat bei der Annahme ihres Kindes behilflich zu sein. Dabei waren wir uns der Ambivalenz einer solchen Beratung in diesem Rahmen bewusst. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Bewältigung dieses Auftrages sind leider im Verlauf der Diskussion schlechter geworden: die Urteile des Bundesverfassungsgerichts haben den Lebensschutz eher vermindert als gestärkt; die "Spätabtreibungen" haben einen unhaltbaren Zustand geoffenbart (geschehen ist bisher kaum etwas oder gar nichts!); die Statistik der Abtreibungen ist zwar noch nicht genügend auswertbar, sie zeigt bis jetzt jedoch auch keine Verbesserung; die von der Verfassung und vom Gesetz geforderte und gestützte Überzeugung vom Unrechtscharakter jeder Abtreibung wurde schwächer; neue Fragestellungen, wie z.B. die Pränatale Diagnostik und die Präimplantationsdiagnostik, verleiten zu verstärkten Eingriffen, die das Lebensrecht verletzen; die Diskussion um den "Schein" hat abgelenkt vom wahren Thema, der Beratung zum Leben und der Abtreibung als solcher, und zu einer höchst problematischen Fixierung geführt, zumal viele Sachverhalte z.T. verkürzt oder gar entstellt wiedergegeben wurden. Ich habe immer wieder auf diese Probleme und dabei auch durchaus auf die Wahrheitsmomente in anderen Positionen hingewiesen, auch wenn ich diese Positionen selbst insgesamt nicht teilen konnte.
Nun ist die Sache entschieden. Ich will im einzelnen nicht auf die Umstände dieser Entscheidung zurückkommen. Nach wie vor glaube ich, dass wir gute Argumente hatten und haben, um unseren eigenen Auftrag unmissverständlich innerhalb des gesetzlichen Beratungssystems durchzuführen. Wir konnten unsere Position aus vielen Gründen nicht ausreichend zur Geltung bringen. Wir müssen ohne Wenn und Aber klar sagen, dass wir die Auseinandersetzung verloren haben. Dies darf man nicht umdeuten. Wir werden darum auch im Bistum Mainz ab dem 1.1.2001 keine "Scheine" mehr in der Beratungspraxis ausgeben. Dies steht – wohl mit Ausnahme von Limburg – in allen Diözesen fest.
Jetzt kommt es darauf an, nach vorne zu schauen. Wir können – abgesehen vom Schein – alle Elemente der Beratung und Hilfe weiter einsetzen wie bisher. Darum möchte ich jetzt von den Chancen sprechen, die eine künftige Neuordnung haben kann. Ich spreche jetzt aber nur für das Bistum Mainz. Dabei will ich nicht auf die ganze Palette derzeitiger Probleme eingehen, die uns bewegen. Ich denke an "Donum vitae" und an die erste Donum-vitae-Beratungsstelle Homburg (Bistum Speyer, Saarland), an den Ort und Rang des "Sozialdienstes katholischer Frauen" und das Verhältnis zwischen Donum vitae und Sozialdienst katholischer Frauen, an die Rolle von weiteren Neugründungen wie "Frauen beraten" in Bayern oder "Frauenwürde" in unserer Region. Zu manchen Themen habe ich mich schon geäußert. Ich muss aber jetzt nicht zu allen Themen Stellung nehmen.
Ich möchte nun die künftigen Grundlinien einer Rahmen-Regelung der Schwangerenberatung im Bistum Mainz vortragen, die auf den bisherigen Richtlinien gründen, nun aber überarbeitet, teils vertieft, teils erweitert, erneuert werden müssen. Diese Neuregelung soll einerseits die bisherigen Träger: Diözesan- und Bezirkscaritasverbände und Sozialdienst katholischer Frauen zur Fortsetzung der bisherigen Kooperation einladen und zugleich genügend Raum lassen, um sich bei bewusst größer gehaltenen Freiräumen – auf der Ebene der Deutschen Bischofskonferenz – neu zusammenzuschließen.
In der Erklärung des Ständigen Rates vom 22./23.11. 1999 heißt es im Blick auf den Brief von Papst Johannes Paul II. vom 20.11.1999, dass wir im Lauf des Jahres 2000 "eine Neuordnung der katholischen Beratung im Sinn der Weisung des Papstes durchführen". "Neuordnung" war insofern notwendig, weil nach diesem Bescheid aus Rom klar war, dass wir nach einer gewissen Zeit keine Beratungsnachweise mehr ausstellen können. Der Papst wünscht eine Fortsetzung der intensiven Beratung, "allerdings mit der Weisung verbunden, keinen Beratungsnachweis ausstellen zu lassen, der den Weg zur straffreien Abtreibung ermöglicht". Bei aller Offenheit, die dem Begriff "Neuordnung" zu eigen ist, bedeutet dies, dass wir keine Beratungsnachweise im Sinne des Gesetzes ausstellen. In der Zwischenzeit ist auch deutlich geworden, dass dafür der 31.12.2000 ein Grenztermin ist, der wohl fast allen Bischöfen nach eigenen Aussagen in ihren Diözesen angemessen erscheint, um noch einige Klärungen durchzuführen. Das Bistum Limburg hat einstweilen eine Sondersituation, da der Bischof erklärte, dass er ohne eine überzeugende Alternative sich vorbehält, auch in Zukunft bei der bewährten Beratungspraxis zu bleiben. Wir haben diesen Zeitraum bis zum Jahresende 2000 gewählt, um nochmals gleichsam mit letzter Kraft zu suchen, ob es unter letzter Anstrengung ein Verbleiben in der gesetzlichen Beratung geben kann ohne Ausgabe von Nachweisen. Diese erneute Überprüfung hat nach den zahlreichen Vorarbeiten der Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz vor allem im Jahr 1998/99 ergeben, dass eine solche Alternative seriöser Art ohne eine Gesetzesänderung nicht in Sicht ist.
Man darf "Neuordnung" nicht nur rückwärtsgewandt verstehen. Deshalb habe ich mich in den Weihnachtsferien 1999/2000 und um die Jahrtausendwende daran gemacht, auch hier mehr nach vorne zu schauen (4.). Die ersten Elemente einer solchen Neuordnung habe ich am 24. Januar bei der Sitzung des Ständigen Rates der Bischofskonferenz vorgetragen und schriftlich ausgehändigt, aber bis jetzt nicht veröffentlicht. Im Lauf des Monats Januar kamen auch erste Gespräche mit den Verantwortlichen des Diözesancaritasverbandes und des Sozialdienstes katholischer Frauen, speziell auch mit Vertreterinnen der Beratung hinzu. In der Zwischenzeit ist die Arbeit in dieser Gruppe weitergegangen.
Die Hauptfrage besteht nun darin, ob wir den Verlust an Zugangsmöglichkeiten zu abtreibungsgeneigten Frauen ein Stück weit kompensieren können. Bei den eigentlichen Konfliktberatungen nach §§ 5-7 des Gesetzes kamen ja – vom Bistum Fulda einmal abgesehen – ungefähr 80% der zu beratenden Frauen, die einen Abbruch beabsichtigten, über die Frauenärztinnen und Frauenärzte zu den Beratungsstellen. Dies zeigt, wie wichtig das Verhältnis zu den Gynäkologen ist und bleibt. Ohne dass ich jetzt den Streit mit unserem Nachbarbistum Fulda wieder entfachen möchte – wir haben alle in den letzten Jahren dieselben Zuwachsraten an Beratungsfällen gehabt -, dürfte feststehen, dass nach der Änderung der Beratungspraxis im Sinne einer Verweigerung des Nachweises dieser Zugang über die Gynäkologen in einem hohem Maß zurückging. Dies war ja ein Hauptgrund, warum die Mehrheit der Bischöfe überzeugt war, dass ein Verzicht auf die Ausstellung des Nachweises weniger einen Rückgang der allgemeinen Schwangerenberatung, aber der spezifischen Konfliktberatung im Sinne von §§ 5-7 des Gesetzes nach sich ziehen würde. Auf diesen Punkt war unsere ganze Sorge konzentriert.
Wenn wir nun eine Neuordnung ins Auge fassen, dann kann von dieser Sorge her der Weg nicht darin bestehen, nur die Beratung im bisherigen Sinne, wenngleich ohne Nachweis, einfach fortzuführen. Dann wäre nämlich diese grundlegende Beunruhigung, wie wir den abtreibungswilligen Frauen begegnen können, nicht oder nicht genügend berücksichtigt. Hier sehe ich auch – mindestens teilweise – eine gewisse Differenz zu Paderborn und Speyer.
An diesem Punkt setzt unsere Neuordnung ein, wobei ich gleich von Anfang an erklären will, dass das nun Darzustellende nicht beanspruchen will, in allem schlechterdings neu zu sein. In vieler Hinsicht ist auch bisher schon so beraten worden. Aber wenn wir nun die Freiheit haben, unsere Beratung zu überprüfen, dann wollen wir auch manche Perspektiven und Dimensionen, die weniger erkennbar und weniger systematisch zu unserem Beratungsverständnis zählten, deutlicher aufgreifen.
Eine fundamentale Überprüfung gilt also dem Ansatz. Wir wollen uns fragen, ob wir die möglichen Zugänge und die Möglichkeiten, abtreibungswilligen Frauen zu begegnen, nicht grundlegend erweitern und vertiefen können. Dabei ist der Zugang über die Ärzteschaft auch in Zukunft wichtig.
Es besteht zwar kein Zweifel, dass beim Wegfall der Scheinausgabe bestimmte Frauen nicht mehr erreicht werden. Hier gilt es jedoch weiter zu differenzieren. Wer nur den blanken Beratungsnachweis will und alles andere als "Prozedur" ("Protokollberatungen") über sich ergehen lässt, kann zwar durchaus in unsere Beratungsstellen kommen, damit man in jedem Fall ein Gespräch versucht. Aber wer hartnäckig nur den Schein in diesem Sinne begehrt, gehört eigentlich nicht zu jenen Frauen mit wirklich ambivalenter Einstellung, bei denen ein Gespräch zugunsten des ungeborenen Kindes noch wirkliche Chancen hat. Bei solchen rein formalen Kontakten, die den Namen "Beratung" gar nicht verdienen, darf nach unserer Überzeugung auch kein Schein ausgestellt werden, was nach dem Gesetz vom 21.8.1995 nicht so klar ist und darum auch verschieden ausgelegt wird.
So entsteht für uns die Frage, ob wir uns nicht als Kirche viel mehr mühen sollten, unser Beratungs- und Hilfsangebot jenen in ihrer Notlage schwankenden Frauen noch besser bekannt zu machen und nahezubringen. Wenn die bisher gut funktionierende Vermittlung von Frauen an unsere Beratungsstellen über die Ärzteschaft sich vermindern sollte, müssen wir dafür sorgen, dass die Beratungsstellen auf anderen Wegen leichter zu finden sind. Wir werden uns also in Zukunft nicht nur auf die sogenannte "Komm-Struktur" verlassen dürfen, sondern uns überlegen müssen, ob wir nicht von uns aus stärker auf die möglichen Adressaten zugehen sollen ("Geh-Struktur"). Ohne darum gleich in eine sich anbiedernde Werbung zu verfallen, können die Zugänge zur fachspezifischen Beratung doch gewiss erweitert werden.
Zunächst müsste es im Raum von Kirche und gerade auch der Gemeinden eine Fülle von einladenden Hinweisen zur Beratung geben. Man sollte die Frauen nicht nur in den Räumen der Beratung erwarten, weil sie evtl. vom Arzt geschickt werden, vielmehr müssten sie schon in den ganz normalen Situationen und Orten des menschlichen und kirchlichen Lebens, zumal beim Vorliegen von Schwierigkeiten mit ihrer Schwangerschaft, eine Einladung zur Beratung finden. Es kann doch nicht unmöglich sein, dass wir als Kirche Frauen mit einem (potentiellen) Schwangerschaftskonflikt auch in ihren je eigenen Lebenssituationen begegnen. Die Kirche würde ihre Sendung in diesem Bereich sehr verkümmern lassen, wenn sie sich nicht zutrauen würde, die Frauen in anderen Kontexten ansprechen zu können.
Dabei gilt dies für die ganze Kirche in allen ihren Funktionen und Situationen, ohne dass ich damit diese Möglichkeiten überschätzen möchte und wir die ganz spezifischen, professionellen Möglichkeiten einer fachlichen Beratung gering schätzen dürften. Es hätte ja keinen Sinn, gerade angesichts der hohen professionellen Anerkennung der Arbeit der Beraterinnen in einen längst überholten Dilettantismus zu verfallen. Aber wir könnten doch wohl in den Gemeinden, in den Verbänden, gerade auch in der Jugendarbeit, in der Erwachsenenbildung usw. sensibler werden für die oft verborgene Not schwangerer Frauen und wenigstens durch eine noch bessere Öffentlichkeitsarbeit mehr auf unsere Beratungsmöglichkeiten aufmerksam machen. Ich meine aber damit nicht nur Plakate beim Schriftenstand und im Schaukasten unserer Kirchen und kirchlichen Gebäude – so wichtig dies ist -, vielmehr müssen wir selbst als Christen in der Nachbarschaft und in Freundeskreisen, am Arbeitsplatz und in der Schule sensible Zeugen für das Leben sein und werden. Mir hat in den USA Eindruck gemacht, dass es in einigen Gemeinden und besonders Pfarrgemeinderäten ganz unkompliziert neben den auch bei uns verbreiteten Sachausschüssen, z.B für die Senioren, die Jugend und die Feste der Gemeinde, auch einen Ausschuss "Pro Life" gab.
Man sollte nicht nur bei der – gewiss sehr hilfreichen und anerkennenswerten – "Aktion Erstausstattung" bzw. "Initiative Babykorb" stehen bleiben, dass also eine Gemeinde besonders für Notsituationen immer eine Baby-Erstausstattung bereithält. Vielmehr könnte man auch Aktivitäten der Gemeinden anzielen, die die Arbeit der Beratungsstellen vor allem durch ein dichtes Netz ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer sowie Familien ergänzen. Hier können alle Altersstufen und Lebensalter etwas beibringen: "Jugendliche, die Babysitterdienste organisieren, Männer, die eine Wohnung einrichten, Frauen, die Gesprächspartnerinnen sind und vielleicht zu Freundinnen werden, Opas und Omas, die nicht nur für die eigenen Enkel da sind." (5.) Dies kann den Rang qualifizierter Beratungsarbeit jedoch in keiner Weise herabmindern, steigert sie sogar.
Ich bin mir voll bewusst, dass dieses Auffinden gerade von abtreibungsgeneigten Frauen im offenen Raum der kirchlichen Gemeinde Grenzen hat. Schwangerschaft und gerade Abtreibung gehören trotz öffentlicher Diskussionen im konkreten Fall doch noch zu den großen Tabus oder wenigstens zu den mit Diskretion behandelten Vorgängen, besonders in der Frühphase der Schwangerschaft. Da wir aber ohnehin in den Gemeinden und in unseren kirchlichen Situationen viel wahrnehmungsfähiger werden müssen für verborgene Nöte – dies gehört zu den Grunderfordernissen der Gemeindeerneuerung -, sind wir schon auf einem wichtigen Weg. Die Erhöhung von Wahrnehmungsfähigkeit und Sensibilität können auf jeden Fall helfen, wirkliche Not schwangerer Frauen besser zu entdecken. Unsere Umfrage in den Gemeinden des Bistums Mainz hat dafür ja auch einige zuversichtliche Perspektiven ergeben. (6.) Dies gilt im übrigen auch analog für die Dienste und Ämter in den Gemeinden. Seit langem bemühen wir uns um eine intensivere Zusammenarbeit zwischen den territorialen und den kategorialen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie zwischen Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen. Hier ist ein gutes Exempel, diese Aufgabe an einem konkreten Beispiel zu präzisieren.
Es hatte im übrigen unheilvolle Folgen, dass die Diskussion um die Schwangerenberatung sich jahrelang allzu sehr auf den "Schein" und damit indirekt immer nur auf den Konfliktfall fixierte. Auch wenn man die grundsätzliche Ambivalenz der Schwangerschaft für viele Frauen, besonders in der Frühzeit, nicht verkennen darf, so darf doch nicht der Eindruck entstehen, Schwangerschaft sei notwendigerweise immer konflikthaft und gar krankmachend. Im Gegenteil, die Beratungsstellen könnten stärker auch nach außen hin die Freude über das Ankommen eines Kindes zum Ausdruck bringen, die ja auch viele Schwierigkeiten überwinden helfen kann. In Wirklichkeit geschieht dies wohl auch so, aber im öffentlichen Bewusstsein und in unserer Rede über die Beratungsstellen spielt dieser Aspekt eher eine untergeordnete Rolle. Die lange Diskussion hat hier zu Verzerrungen geführt. Nicht zufällig machen uns Ärzte darauf aufmerksam.
Man darf sich jedoch keine Illusionen machen. Trotz aller Vernetzung, die hier notwendig ist, werden wir bestimmte Frauen, die ihre Schwangerschaft als belastend empfinden und evtl. an einen Abbruch denken, nicht über die Gemeindeebene und ihre Möglichkeiten erreichen. Nicht wenige Frauen haben nur einen geringen oder gar keinen Bezug zum Gemeindeleben; manche gehören zudem Schichten an, die in ihrer gesamten Existenz in hohem Maß gesellschaftliche Außenseiter geworden sind und sich geradezu in so etwas wie einen sozialen Untergrund zurückgezogen haben. Es sind nicht selten verschämte Arme, die sich nicht so leicht von selbst melden, sondern die man bei aller Rücksicht und Diskretion aktiv suchen muss. Dies bedeutet, dass man ergänzend zum ‚Netzwerk Gemeinde‘ spezifische Projekte zur Bekämpfung vor allem der Frauenarmut unternehmen muss. Wir haben zwar in allen gesellschaftlichen Bereichen und in vielen Verbänden von der Bekämpfung der Frauenarmut geredet, in der Praxis des Lebens klafft jedoch eine große Lücke. An dieser Stelle können wir gezielt neu ansetzen.
Dies gilt erst recht im Blick auf einzelne Gruppen, die weniger schichtspezifisch anzusprechen sind. Ich denke hier z.B. an Asylbewerberinnen, Studentinnen, Alleinerziehende. Frauenhäuser und Frauenzentren müssen in diesem Zusammenhang als ein wichtiger Ort der Lebenshilfe für Mutter und Kind genannt werden. Hier ist eine präzise Zielgruppenarbeit notwendig. Diese gibt es im Blick auf die Frauen im Raum der Kirche, aber auch der Gesellschaft bisher nur in relativ wenigen Situationen, wie z.B. bei der Schwangerenberatung und bei den Müttergenesungsinitiativen. Darüber hinaus hat gerade der Sozialdienst katholischer Frauen hier insgesamt eine große Erfahrung. Ich bin überzeugt, dass die Sozialarbeit im Raum der Caritas und ihrer Fachverbände findig genug ist, um solche Möglichkeiten einer stärkeren Zielgruppenorientierung weiter zu konkretisieren und umzusetzen.
Hierher gehört in ganz besonderer Weise auch der Umgang mit psychosozialen Konflikten nach einem Schwangerschaftsabbruch. Wir müssen unsere bisherigen Bemühungen intensivieren. Dazu gehören auch Beratungen in besonderen Lebenssituationen: das ganze Feld der pränatalen Diagnostik bei zu erwartender Behinderung, bei Erkrankung der Mutter, bei ausländischen Frauen bzw. Paaren, bei Frauen mit Gewalterfahrung, bei ungewollter Kinderlosigkeit, bei Trauer-, Verlust- und Trennungssituationen.
An dieser Stelle muss auch darauf hingewiesen werden, dass die Beratungsstellen noch stärker die Beratung von Jugendlichen und von Erwachsenen im Blick auf Fragen der Sexualität, Familienplanung, Empfängnisregelung und damit Vermeidung von ungewünschten Schwangerschaften in ihr Programm aufnehmen sollten. Damit würde auch deutlich, wie wichtig uns der Gedanke der Prävention auch in anderen Bereichen ist, nicht nur in der Schwangerenberatung.
In diesen Zusammenhang gehört auch eine Intensivierung des Themas "Anfang des Lebens" in der pädagogischen Arbeit, in der Erwachsenenbildung aller Stufen und in den Unterrichtsplanungen der Schulen. Hier liegt vieles seit langem brach. Das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 28.05.1993 hatte energisch einen viel höheren Einsatz besonders auch der öffentlich-rechtlichen Medien, der Schulen und der Erwachsenenbildung für den Lebensschutz angemahnt. Ich muss in einem hohen Maß hier "Fehlanzeige" feststellen. Diese notwendigen Anstrengungen gehören auch zum Anspruch der Medienarbeit, die von der Kirche verantwortet und von Katholiken gestaltet wird.
Die Vernetzung im professionellen Bereich wird noch verbessert werden können. Wir haben dies im Bistum Mainz zum Teil schon in den Beratungsstellen der Caritas umgesetzt, soweit diese zum Beispiel in die Allgemeine Lebensberatung einbezogen sind. Aber auch in der Schuldnerberatung kann man belastete Frauen mit der Intention einer Abtreibung finden. Wir müssen uns fragen, wie weit unsere Beratungsdienste bei aller fachlichen Spezifizierung sich manchmal auch in bedenklicher Weise voneinander abgrenzen und noch nicht ausreichend im Interesse des einen und ganzen Menschen kooperieren. Es scheint mir, dass die Caritas und der Sozialdienst katholischer Frauen je auf ihre Weise hier noch viele Möglichkeiten zu intensiverer Netzwerk-Arbeit finden können.
Unsere Beratungsstellen haben immer schon Öffentlichkeitsarbeit betrieben, nicht nur durch die Kontakte mit den Medien, sondern besonders auch in den Schulen. Es war ein wichtiges Ergebnis der Studie der Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz des Jahres 1998/99, im Zusammenhang einer Neuordnung diesen ganzen Komplex entscheidend zu verstärken, und zwar um die Öffentlichkeit mehr für den Lebensschutz zu sensibilisieren und auch gesellschaftliche Veränderungen in den Bereichen Lebensschutz, Frauenfragen und Familienförderung anzustreben.
In der Zwischenzeit ist diese Aufgabe noch viel dringlicher geworden. Wir müssen unsere Beratungsstellen bei aller Anerkennung, die sie schon haben, öffentlich noch bekannter machen. Die Öffentlichkeitsarbeit wird auch die Aufgabe mitüberlegen müssen, wie weit wir zusätzliche finanzielle Hilfen zur Unterstützung unserer Arbeit erschließen können (Stiftungen, Sponsoring, Fundraising).
Ich will die einzelnen Inhalte hier nicht näher ausführen. Wir haben ja eigens eine Arbeitsgruppe eingesetzt, mit der ich in engerem Kontakt stehe. Wir wollen in absehbarer Zeit dieses Gesamtprogramm, das ich jetzt nur perspektivisch und tendenziell dargestellt habe, ausarbeiten und in neue Richtlinien überführen. Diese haben noch viele andere Inhalte zu klären, über die ich jetzt nicht gesprochen habe, z.B. über die Organisation und Struktur der Beratungsstellen, über die Anforderungen und Aufgaben der Beraterinnen, über die Aufgaben des Trägers und der Diözesanebene, aber auch der zentralen Träger und schließlich über die pastorale Begleitung.
Hier sind in den letzten Tagen auch wichtige weitere Vorentscheidungen gefallen, die wichtig bleiben für die nähere Zukunft:
Nachdem die Suche nach einer Neuordnung in den letzten Monaten und Wochen zu Beginn des Jahres 2000 in einigen Diözesen – wie ich annehmen und vermuten kann – fruchtbar verlaufen ist und die einzelnen Elemente für eine Neuordnung erkennbar geworden sind, hat der Ständige Rat am 3. Mai 2000 beschlossen, unter Beachtung dieser kreativen Überlegungen an der Diözesanbasis eine neue Rahmenordnung zu entwerfen und sie nach Möglichkeit bis zum Spätherbst den einzelnen Diözesen und Verbänden zur Realisierung und Konkretisierung anzubieten. Unsere Arbeit im Bistum muss also auch diese Ebene mit im Blick haben, wie dies andere auch tun. Die Diözesen, die jetzt schon oder bald das gesetzliche Beratungssystem verlassen haben oder verlassen werden (Paderborn zum 1.01., Speyer zum 1.04., Köln zum 15.07.), haben in ihren Bestimmungen Klauseln, dass sie sich später wieder einer möglichen Gesamtordnung anschließen werden.
Wir haben in Rheinland-Pfalz keine leichte Situation, da die einzelnen Diözesen, wenigstens zum Teil, eigene Wege gegangen sind. Wir haben aber nun bei dem jährlichen Gespräch mit der Landesregierung von Rheinland-Pfalz am 2. Mai 2000 vereinbart, dass wir die von Herrn Ministerpräsidenten Kurt Beck schon früh vorgeschlagene Arbeitsgruppe der Bischöfe und der Staatskanzlei, selbstverständlich unter Beteiligung der zuständigen Fachministerin, Frau Dr. Rose Götte, einberufen werden. Dabei geht es vor allem darum, in welcher Weise wir mit der Neuordnung der Schwangerenberatung – am besten lässt man zunächst einmal den Begriff Schwangerenkonfliktberatung beiseite – eine gewisse Anerkennung von staatlicher Seite erwarten können. Diese kann natürlich nicht mit der formellen Anerkennung nach §§ 5-7 des Gesetzes in Verbindung gebracht werden. Wir sind jedoch der Meinung, dass wir im Sinne einer weitgefassten Sexualberatung, zu der auch die allgemeine Schwangerenberatung gehört, durchaus in den Kontext von § 2 des Gesetzes passen. Dabei muss es ja nicht um eine volle Beanspruchung aller Inhalte von § 2 gehen – hier haben wir einige Schwierigkeiten (z.B. Informationen über Abbruchmethoden) – , aber wir können beanspruchen, dass wir eine erhebliche Zahl wichtiger Teilleistungen des § 2 erfüllen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage nach dem finanziellen Ersatz wegfallender Zuschüsse. Dies sind höchst schwierige und rechtlich kontroverse Fragen, die noch der eingehenden Untersuchung bedürfen. Wir sind dem Ministerpräsidenten des Landes Rheinland-Pfalz, Frau Staatsministerin Dr. Götte und der Landesregierung überhaupt dankbar für diese gemeinsame Initiative. Ähnliches werden wir auch, wenigstens vom Bistum Mainz aus, in Hessen versuchen, wo die Lage in den Diözesen Fulda und Limburg im Vergleich mit Mainz nicht weniger kompliziert und komplex ist.
Bewusst habe ich den Titel dieses Eröffnungsreferates überschrieben mit "Neuaufbruch für den Lebensschutz am Anfang und am Ende des menschlichen Lebens". Es geht jetzt nicht nur bloß um eine Neuordnung, sondern um einen Neuaufbruch. Dazu möchte ich alle besonders in den neu gebildeten Räten einladen. Ich sehe diesen Neuaufbruch auch als eine Chance, die ganze Sorge für den Lebensschutz deutlicher zur Sache der ganzen Kirche zu machen. Dies ist ja wahrhaftig nicht ein Spezialauftrag des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, des kirchlichen Amtes und der Räte. Hier muss es wirklich überall heißen: Tua res agitur! Es geht um deine ureigene Sache! Darin sehe ich auch bei aller Verschiedenheit der Ansätze eine Gemeinsamkeit mit "Donum vitae", die erst noch auszuloten sein wird. Wir brauchen ein großes Forum in der Öffentlichkeit für den ungeteilten Lebensschutz. Auch müssen wir wieder die ökumenische Gemeinsamkeit vertiefen, die wir in dem immer noch bemerkenswerten Dokument "Gott ist ein Freund des Lebens" aus dem Jahr 1989, unmittelbar vor der "Wende", erreicht hatten und die wir nun seit bald 10 Jahren in der "Gemeinsamen Woche für das Leben" an einzelnen Themen bewähren.
Es gibt noch manche Fragen, ich möchte aber hier schließen. "Neuordnung" stelle ich mir in dieser Richtung vor. Gerade im Gang befindliche Marketingforschungen ermutigen uns dabei sehr. Trotz der schwierigen Entscheidung vom November 1999 haben wir vor allem wegen des Ansehens unserer Beraterinnen, denen ich auch an dieser Stelle nochmals persönlich sehr herzlich für ihre professionelle Tätigkeit, ihre Geduld und vor allem ihre Loyalität danke, noch sehr große Chancen, diese Neuordnung, die auch künftig auf viel Anerkennung aufbauen kann, zu einem Neuaufbruch werden zu lassen. Allerdings wird dies auf die Dauer nur gelingen, wenn wir noch viel mehr und vor allem offensiver um das tiefe Anliegen des Lebensschutzes ringen. Dies ist nicht nur wichtig, weil unsere Botschaft ein "Evangelium des Lebens" ("Evangelium vitae") ist, sondern weil dieser Schutz des Lebens auch zu den höchsten Verfassungsaufträgen einer menschlichen Gesellschaft gehört. Deshalb werden wir das Thema nicht ruhen lassen.
Ich habe immer die These vertreten, dass es bei diesem Streit auch um den Ort der Kirche in der heutigen und künftigen Gesellschaft geht. Dies ist nicht minder wahr im Blick auf den Neuaufbruch, sondern noch sehr viel mehr wahr. Jetzt sind wir alle noch dringlicher herausgefordert, dass die Kirche heute und morgen durch unser Zeugnis zu einer Botschafterin der Rettung des Lebens und zu einer Stätte umfassender Beratung und vielfältiger Hilfe wird. Ich bitte, dass wir gerade in den nächsten Jahren darin ganz eng zusammenstehen und möglichst viele für die gemeinsame Sache gewinnen. Ein guter Anfang im Jahr 2000 wäre ein großes Geschenk. Kommen Sie und ziehen Sie mit! Dafür danke ich Ihnen schon jetzt.
Copyright: Bischof Karl Lehmann, Mainz
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz