Gastkommentar für die Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" im Januar 2007
Wir leben nicht mehr in isolierten Nationalstaaten, sondern in einem größeren Verbund, der seit dem 1.1.2007 mit dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien 27 Staaten umfasst. In diesem Frühjahr sind es am 25. März 50 Jahre, dass die sechs Gründerstaaten der heutigen Europäischen Union (Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und Niederlande) die so genannten Römischen Verträge abgeschlossen haben. Sie haben frühere Vereinbarungen über eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl mit einem gemeinsamen Markt (Montanunion seit 1951) auf alle Wirtschaftsbereiche ausgedehnt und damit so etwas wie den Startschuss gegeben für das Zusammenwachsen der heute in der Europäischen Union zusammengeschlossenen Staaten.
Ohne eine zündende Idee wäre diese Gemeinschaft nie zustande gekommen. Es waren vor allem Politiker, die zu einem großen Teil auch engagierte katholische Christen waren, wie z.B. de Gasperi, Schuman, Adenauer, die aus dem blutigen Gegeneinander vor allem des 20. Jahrhunderts die Konsequenzen zogen, unterstützt auch durch Schriftsteller, Dichter und Philosophen. Die Europaidee fand auch in den Kirchen schon früh und eine immer größere Unterstützung, vor allem auch bei den Päpsten.
Viele waren auch im Lauf der Jahrzehnte enttäuscht. Sie nahmen eine zunehmende Vorherrschaft ökonomischer Interessen wahr. Die Brüsseler Büro- und Technokratie wurde mehr und mehr sprichwörtlich. "Brüssel" regierte bis in viele kleine Gesetze hinein, wurde unübersichtlich und beinahe anonym. Die politische Verantwortung im Parlament und in der Präsidentschaft des Rates wurde nicht so deutlich wie der mächtige Apparat. Kein Zweifel, es musste in diesem vielgestaltigen Europa durch eine effiziente Verwaltung auch nicht weniges koordiniert, ausgeglichen und korrigiert werden.
Zugleich gab es bei der Bevölkerung eine wachsende Ernüchterung. Der Schwung der Europaidee erlahmte. Man hatte sich mit bestimmten Regelungen, die zweifellos auch Vorzüge mit sich brachten (Reise-Verkehr, Schengener Abkommen), abgefunden. Aber Europa als eine zwar vielgestaltige, aber am Ende doch eine Gemeinschaft kultureller Errungenschaften und Werte wurde mehr und mehr verdunkelt. Dies steigerte sich nochmals, als Frankreich und Holland den Entwurf einer Europäischen Verfassung ablehnten. Die Europabegeisterung bewegte sich auf einen Nullpunkt hin.
In der Zwischenzeit sind wir eher aufgewacht, und zwar viel nüchterner. Aber wir brauchen doch mehr spirituelle Gemeinsamkeit, ohne dass die kulturelle Vielfalt zerstört werden dürfte. Manche Pioniere meinten, wenn sie noch einmal anfangen könnten, würden sie es mit der Kultur versuchen. Ich bin skeptisch, ob dies überhaupt gehen kann. Die Ökonomie ist auch im Blick auf die Europäische Einigung ein mächtiger Motor, den man gewiss geistig unterstützen muss, der aber eine gewaltige eigene Dynamik besitzt.
Im 50. Jahr des Abschlusses der Römischen Verträge haben wir eine große Chance, die Europaidee von Grund auf vitaler zu begreifen. Es ist nach wie vor ein Wunder, dass dieser zerstrittene Kontinent in wenigen Jahrzehnten eine erstaunliche Einheit finden konnte und seit mehr als 60 Jahren in Frieden leben darf (sehen wir einmal vom ehemaligen Jugoslawien ab). Im Zeitalter der Globalisierung wären wir, aufgeteilt in unsere Nationalstaaten, zur Ohnmacht verurteilt.
Die Übernahme der Präsidentschaft des Rates der Europäischen Union durch Deutschland zum 1.1. darf gewiss (auch wegen der Wahlen in Frankreich) nicht überschätzt werden, aber sie gibt doch eine einzigartige Gelegenheit, um auf eine Reihe von Problemen aufmerksam zu machen, vor allem aber einen neuen Schwung zu versuchen. Damit hängt auch der Versuch zusammen, den Entwurf einer Europäischen Verfassung nochmals zur Diskussion zu stellen. Viele andere Dinge kommen hinzu. Wir haben eine neue Gelegenheit für die Wiederbelebung der Europaidee. Die Kirchen werden dabei nicht fehlen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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