Notwendiger Wandel der Sozialen Marktwirtschaft?

Der Vortrag wird veranstaltet von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft „Chancen für alle" in Berlin (DG-Bank)

Datum:
Donnerstag, 13. Juni 2002

Der Vortrag wird veranstaltet von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft „Chancen für alle" in Berlin (DG-Bank)

I.

Man kennt Soziale Marktwirtschaft – für die einen ist sie die einzig akzeptable Wirtschaftsform, für die anderen bereits ein Mythos. Nicht wenige sehen in ihr so etwas wie eine Technik und Strategie des Wirtschaftens, die man gewissermaßen beliebig von einem Ort zum anderen weitergeben und anwenden kann. Besonders in der Wendezeit, als man in Osteuropa nach der sozialistischen Planungswirtschaft einen neuen Weg suchte, hat man regelmäßig die Soziale Marktwirtschaft empfohlen. Im Prinzip war dies zweifellos richtig, aber dies durfte ja nicht so verstanden werden, als ob man bloß eine Idee exportieren müsste, ohne nach den Voraussetzungen zu fragen, damit ein solches „System" funktionieren kann. Ähnliches gilt für die Länder in der Dritten Welt.

In diesem Zusammenhang hat man gewiss mit Recht gefordert, dass es bestimmte Voraussetzungen für das Gelingen geben muss, wie z.B. Demokratie, und zwar nicht nur als formales Verfahren, sondern als anerkannte Lebensform. Es ist auch deutlich geworden, dass ein Minimum an gemeinsamen Wertvorstellungen vorhanden sein muss. Hier wird es schon schwieriger. Es kann diesbezüglich nicht zuerst oder allein auf eine allgemeine Grundwerte-Debatte ankommen, sondern auf die Frage, welche spezifischen und konkreten Wertentscheidungen notwendig sind, damit so etwas wie Soziale Marktwirtschaft erfolgreich realisiert werden kann.

Die Soziale Marktwirtschaft ist im Lauf der Jahrzehnte in unserem Land vielfach überlagert worden durch gewisse Entwicklungen, die die Grundprinzipien auszuhöhlen drohten: Eigeninitiative, Selbstverantwortung, Leistungsbereitschaft und Mut zum Wettbewerb. Die Diagnose ist auch bei Vertretern verschiedener Tendenzen ziemlich konsensfähig: Das Einwirken des Staates und seine Ansprüche sind mehr und mehr gewachsen. Schon der demographische Wandel zwingt uns zu mehr Eigenverantwortung in der Sozialen Sicherung. Wir brauchen an den Rändern mehr Eigenbeteiligung, um die Grundrisiken für möglichst alle Menschen abdecken zu können, denn diese können die allermeisten nicht selber tragen. Dennoch bleibt richtig: Es braucht mehr Hilfe zur Selbsthilfe. Arbeit muss sich mehr lohnen als Nichtarbeit. Im Sozial- und Arbeitsrecht muss manches überdacht und verbessert werden, was die Schaffung neuer Arbeitsplätze verhindert. Auf diesem Weg muss die bedrückend hohe Arbeitslosigkeit grundlegend verringert werden. Dazu bedarf es auch einer Entlastung von Steuern und Abgaben, um mehr Spiel- und Freiräume für die Eigeninitiative zu ermöglichen. Die Tarifpolitik muss den Unternehmen in Absprache mit den Gewerkschaften mehr Gestaltungsspielraum gewähren. Nicht nur mehr Leistung muss sich lohnen, auch qualifizierte Bildung und Ausbildung müssen viel mehr anerkannt werden. Die Bildungspolitik ist ein ganz entscheidendes Element jeder Reform. Der Wettbewerb auf den globalisierten Märkten lässt uns dafür nicht viel Zeit.

Dass es in allen diesen Hinsichten einer Erneuerung bedarf, steht außer Zweifel. Wenn die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft „Chancen für alle" hier einen verstärkten Vorstoß wagt und dafür wirbt, kann sie gewiss mit einer vielfachen Zustimmung rechnen. Dabei schließen diese reformerischen Akzente die Sorge, für den wirklich Bedürftigen und Schwachen ein.

Hier besteht bei näherem Zusehen auch kein Widerspruch oder Spannung zwischen der recht verstandenen Katholischen Soziallehre und den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft, die sich freilich auch immer wieder gegen Missbrauch und Missdeutung wehren muss. Ich bin der festen Überzeugung, dass spätestens mit der Päpstlichen Enzyklika „Centesimus annus", die im Jahr 1991 zur hundertsten Wiederkehr der Veröffentlichung der ersten Sozialenzyklika „Rerum novarum" durch Papst Leo XIII. erschien, zwischen der Sozialen Marktwirtschaft und der Katholischen Soziallehre eine endgültige Annäherung und geradezu eine Art von Versöhnung stattgefunden hat, und zwar in folgender Hinsicht:

Es wird ein Wirtschaftssystem bejaht, das die grundlegende und positive Rolle des Marktes, des Privateigentums, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt.

(Vgl. Enzyklika „Centesimus annus" vom 1. Mai 1991 = Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 101, Bonn 1991, Nr. 42.)

Der freie Markt – so die Enzyklika – „scheint das wirksamste Instrument für die Anlage der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse zu sein."( Ebd., Nr. 34.)

Die Enzyklika würdigt über alle bisherigen Ansätze hinaus die fundamentale Rolle des Unternehmers neben Kapital und Arbeit.( Vgl. ebd., Nr. 32-35.)

Im Zusammenhang der Betonung des Subsidiaritätsprinzips stellt die Enzyklika in Richtung eines überdehnten Wohlfahrtsstaates fest: „Der Wohlfahrtsstaat, der direkt eingreift und die Gesellschaft ihrer Verantwortung beraubt, löst den Verlust an menschlicher Energie und das Aufblähen der Staatsapparate aus, die mehr von bürokratischer Logik als von dem Bemühen beherrscht werden, den Empfängern zu dienen: Hand in Hand geht damit eine ungeheure Ausgabensteigerung."( Vgl. ebd., Nr. 48) Noch vieles ließe sich anführen.( Vgl. dazu R. Marx, H. Wulsdorf, Christliche Sozialethik = Amateca XXI, Paderborn 2002, 289ff., dort weitere Lit.)

Diese Grundthesen sind heute weithin anerkannt, wenn sie auch leider in der öffentlichen Meinung noch nicht den erwünschten und notwendigen Bekanntheitsgrad erreicht haben. Ich habe diese Zusammenhänge schon öfter angesprochen.( Vgl. vor allem „Vergiss nie die Armen und die Kranken, die Heimatlosen und die Fremden. Über den eigenen Auftrag der Kirche zwischen Wohlstand und Armut angesichts der heutigen Sozialstruktur und veränderter Lebenslagen." Eröffnungsreferat des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz zur Eröffnung der Herbst-Vollversammlung am 23.09.1996 in Fulda.)

Dieser Vortrag ist bewusst unmittelbar vor der Abschlussberatung des Wortes der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland im Herbst 1996 gehalten worden, um einige kritische Ergänzungen zu dem Wort „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" zu formulieren, die ich nicht genügend in dem zu verabschiedenden Text durchsetzen konnte.( Vgl. Text und Kommentar von M. Heimbach-Steins/A. Lienkamp, München 1997; J. Wolf, Kirche im Dialog. Sozialethische Herausforderungen der Ekklesiologie im Spiegel des Konsultationsprozesses der Kirchen in Deutschland (1994-1197) = Ethik im Theologischen Diskurs, Band 3, Münster 2002; Visionen für Gesellschaft und Christentum, hrsg. von B. Nacke, 2 Teilbände, Würzburg 2002.)

Ich möchte heute und bei dieser Gelegenheit der Ludwig-Erhard-Lecutres jedoch einen anderen Zugang wählen, der von einer Reflexion zu den Anfängen und der Herkunft der Sozialen Marktwirtschaft auf die Gegenwart zurückkommt und so die Zukunft anpeilt.( Vgl. zur gegenwärtigen Situation R. Rodenstock Chancen für alle. Die Neue Soziale Marktwirtschaft, Köln 2001; H. Tietmeyer, Besinnung auf die Soziale Marktwirtschaft = Kirche und Gesellschaft 285, Köln 2001)

Die Ursprünge der Sozialen Marktwirtschaft könnten uns nämlich bei mancher Verwirrung zur Orientierung verhelfen und sind darum mehr als bloße Rückschau. Ich bin nämlich der Überzeugung, dass ein großer Teil der Väter der Sozialen Marktwirtschaft sich sehr viele Gedanken machte über ihre geistigen Fundamente. Dies ist bei den einzelnen Vertretern gewiss verschieden ausgeprägt, ja manchmal auch kontrovers. Aber es hat sie wohl sehr viel mehr beschäftigt als viele ihrer Schüler in Theorie und Praxis. Es scheint mir, dass die Rezeption der entsprechenden volkswirtschaftlichen Theorien weitgehend abgesehen hat von diesen, wie man wohl glaubte, entbehrlichen oder verzichtbaren weltanschaulichen, philosophischen oder religiösen Voraussetzungen. Man hat jedoch, wie mir scheint, wenig darauf reflektiert, was an die Stelle dieser fundierenden Voraussetzungen treten könnte.

Dieses Thema möchte ich gerne entwickeln, ohne den Anspruch auf besondere Originalität zu erheben. Ich bin als Theologe und Kirchenmann ja ein „Laie" in diesen Dingen, habe aber neben diesem großen Nachteil vielleicht den kleinen Vorteil, die Schriften der großen Urheber der Sozialen Marktwirtschaft mit einer philosophisch-theologischen Brille zu lesen, die vielleicht in der Fein-Einstellung auf diese Dimension etwas ins Gespräch einbringen kann, das zu vertiefen sich lohnt.

 

II.

Die Idee der Sozialen Marktwirtschaft ist nicht einfach vom Himmel gefallen. In der Geschichte der Freiburger Widerstandskreise ist dies besonders deutlich zu greifen. Die Wirtschafts- und Sozialordnung ist ein gutes Beispiel dafür. Allen Beteiligten war klar, dass man in der Zeit nach Hitler zwischen einer liberalen und einer zentralgelenkten Konzeption einen neuen Weg suchen muss. Dies hat den Freiburger Bonhoeffer-Kreis (Vgl. In der Stunde Null, eingeleitet von H. Thielicke, Tübingen 1979, 86ff., 90ff., 128ff., 153ff ) mit den Bemühungen des Kreisauer Kreises eng verbunden. So heißt es etwa in den Leitsätzen des Kreisauer Kreises für den Aufbau der europäischen Volkswirtschaften nach dem Krieg - der Europa-Gedanke spielt eine erstaunlich dominierende Rolle - in einer These, die von G. Schmölders stark beeinflusst ist: „Maßgebend sind nicht die eigennützigen Interessen der Produzenten, sondern die wohlverstandenen, der jeweiligen Kaufkraft entsprechenden Bedürfnisse der Konsumenten. Sie können nur am freien Markt ermittelt werden. So weit der am Markte unter Mitwirkung eines volkswirtschaftlich orientierten, aber freien Handelns auszutragenden Leistungswettbewerbs und die darauf fußende Preisbildung zur Wahrnehmung der volkswirtschaftlichen Interessen nicht genügt, hat der Staat für die erforderliche Ergänzung zu sorgen."( Dossier: Kreisauer Kreis. Dokumente aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus, hrsg. und kommentiert von R. Bleistein, Frankfurt 1987, 273)

Nicht zufällig werden hier auch Dezentralisation der industriellen Arbeit und Mitbestimmung gefordert. Inzwischen ist deutlich geworden, dass Alfred Delp die katholischen rechts- und sozialphilosophischen Grundlagen in die Überlegungen des Kreisauer Kreises für eine neue Ordnung Deutschlands in eben diesem Sinne eingebracht hat.

( Vgl. Michael Operty, Alfred Delp SJ Im Kreisauer Kreis = Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen, Band 63, Mainz 1994, 179ff., vgl. auch 52ff., 87f)

Es ist erstaunlich, in welchem Maß gerade die Freiburger Denkschrift, an der Franz Böhm, Constantin von Dietze, Walter Eucken, Adolf Lampe, Gerhard Ritter, Erik Wolf - um nur die Freiburger zu nennen - beteiligt waren, sehr kräftige, religiös motivierte Akzente setzt. So heißt es zum Reichtum und zum Eigentum: „Auf jedem Eigentum liegt eine soziale Hypothek, die mich nicht nur an einem Missbrauch zur Ausbeutung des Nächsten hindern soll, sondern zugleich verpflichtet, mit all meinem Hab und Gut der Gemeinschaft nützlich zu werden. Auch Wettbewerb und freie Initiative, die in der hier empfohlenen Wirtschaftsordnung eine so große Rolle spielen, sind nicht ohne sittliche Gefahren. Jede freie Wettbewerbswirtschaft, auch die staatlich regulierte, bedarf starker sittlicher Gegenwirkungen gegen den Privat-Egoismus, damit dieser nicht überwuchert und den Gedanken des Dienstes am Ganzen nicht verschwinden lässt."( In der Stunde Null, 94.) Immer wieder wird um einen Ausgleich für eine neue Wirtschafts- und Sozialordnung gerungen. „Alle staatliche Sozialfürsorge kann zur Gefahr werden, wenn sie der Verantwortungsfreudigkeit der Wirtschaftenden Abbruch tut. Auf der anderen Seite widerspricht die Beschränkung öffentlicher Wohlfahrtspflege auf solche Volksteile, die noch irgendwie als Arbeitskräfte nutzbar gemacht werden können, allen Grundsätzen christlicher Nächstenliebe; sie ist weiter nichts als getarnter Hochmut. Die christliche Nächstenliebe macht nicht vor den Kranken, Schwachen und Hilflosen Halt, sondern nimmt sich gerade ihrer nach dem Vorbild ihres Meisters mit selbstloser Liebe an."(Vgl. ebd, 90). In diesem Sinne werden das Übel unverschuldeter Arbeitslosigkeit (Vgl. ebd, 92) und die große Bedeutung der Familie als Aufgabe angesprochen. Die natürliche Grundlage des Sozialaufbaus ist trotz ihrer Gefährdung nach wie vor die Familie (Vgl. ebd, 88). Heute wissen wir, (Vgl. dazu Chr. Blumenberg-Lampe, Das wirtschaftspolitische Programm des „Freiburger Kreises", Berlin 1973 und ihre späteren Studien, z.B. Der Weg in die Soziale Marktwirtschaft, Stuttgart 1986.) wie sehr die Freiburger Denkschrift nach dem Krieg weiterwirkte und wie vor allem Walter Eucken, Erwin von Beckerath und Franz Böhm dafür sorgten, dass die Grundentscheidungen unserer Verfassung den Raum für eine Soziale Marktwirtschaft offen hielten. Zwischen einem wirtschaftlichen Kollektiv und einer Wirtschaftsanarchie musste ein neuer Weg gefunden werden. Ludwig Erhard hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die unter seiner Führung und Verantwortung getroffenen politischen Entschlüsse von den Grundentscheidungen der „Freiburger" bestimmt gewesen seien.

 

III.

Es ist bekanntlich nicht so leicht, Liberalismus, Neoliberalismus, Ordoliberalismus und Soziale Marktwirtschaft schon rein begrifflich voneinander ausreichend abzuheben. Ich möchte dies hier nicht im einzelnen versuchen.( Vgl. dazu D. Dietzfelbinger, Soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsstil. Alfred Müller-Armacks Lebenswerk = Leiten, Lenken, Gestalten 3, Gütersloh 1998, 235ff) Es gibt jedenfalls aus unterschiedlichen, wenn auch mitunter zusammenhängenden Ausgangspunkten gemeinsame Perspektiven in Richtung der Sozialen Marktwirtschaft, die mit so verschiedenen Namen wie Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke, Walter Eucken und Alfred Müller-Armack verbunden sind.

Zum erstenmal scheint Müller-Armack unmittelbar nach dem Krieg 1946 den Namen Soziale Marktwirtschaft verwendet zu haben, wenn damit auch noch nicht feststeht, dass er wirklich der Schöpfer des Begriffes ist, obgleich er dies für sich in Anspruch nimmt. Der Name ist Programm. Deshalb schreibt Müller-Armack Soziale Marktwirtschaft immer groß, was vielleicht zu wenig beachtet wird. Müller-Armack geht jedenfalls von der Tatsache aus, dass das Soziale nicht nur eine allgemeine Beiordnung, sondern ein ebenbürtiges Prinzip wirtschaftlicher Aktivität darstellt. Jedenfalls erscheint der Begriff Soziale Marktwirtschaft bei Müller-Armack zum erstenmal in schriftlicher Form. Bis dorthin spricht er selbst eher von „gesteuerter Marktwirtschaft". Dabei muss man auch einräumen, dass ein vermittelnder Weg zwischen liberaler Marktwirtschaft und zentral gelenktem Sozialismus in der Nationalökonomie schon länger vorbereitet wurde. Die Automatik des Marktes kann allein keine soziale Ordnung schaffen. Sie kann auch nicht die Notwendigkeiten des staatlichen und kulturellen Lebens von sich aus berücksichtigen. Deshalb muss die Marktwirtschaft grundlegend sozial ausgerichtet sein, damit in ihr nicht nur dem Ideal der Freiheit, sondern auch dem der sozialen Gerechtigkeit entsprochen werden kann. Darum wehrt sich Müller-Armack auch gegen eine vermeintlich unabhängige Eigengesetzlichkeit marktwirtschaftlicher Strukturen.

(Vgl. A. Müller-Armack Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, 1946, in: ders., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, Bern 1976, 107)

Bei der näheren Bestimmung der Sozialen Marktwirtschaft möchte ich ausgehen von der Überzeugung, dass Soziale Marktwirtschaft eine außerordentliche, nicht auflösbare Spannung enthält, der man sich stets bewusst bleiben muss. Markt und Lenkung werden zu einem komplementären Ausgleich geführt. Damit werden zwei Grundsätze, die weithin als unvereinbar erschienen, einander zugeordnet. Es genügt also nicht zu denken, Soziale Marktwirtschaft sei Marktwirtschaft plus Sozialpolitik. Manche ziehen daraus die Konsequenz, die Marktwirtschaft sei um so sozialer, je mehr umverteilt werde. Dies wäre aber ein unhaltbares Missverständnis. Das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft beinhaltet vorrangig die Grundsätze von Selbstverantwortung und Subsidiarität. Der Staat hilft dem Einzelnen, wenn dieser aus eigener Kraft nicht in der Lage ist. Umgekehrt heißt dies jedoch auch, dass die sozialpolitische Unterstützung bei einem steigenden allgemeinen Wohlstand nicht wachsen kann, sondern eher zurückgenommen werden muss.

Zwei Extrempositionen wären so nach Müller-Armack im Konzept Sozialer Marktwirtschaft vermieden: Die Anfälligkeit der Marktwirtschaft, z.B. im Sinne eines schonungslosen Wettbewerbs, muss bewusst gemacht werden; auf der anderen Seite kann eine Überbetonung des sozialen Gedankens mindestens langfristig in eine gelenkte Form der Wirtschaft führen. Entscheidend ist die gegenseitige Ergänzung. Es wird dadurch auch erkennbar, dass die Soziale Marktwirtschaft immer wieder des Ausgleichs bedarf. Sie darf nicht einseitig belastet werden. Dann bricht sie notwendigerweise zusammen. Jedes Testen der Belastbarkeit der Sozialen Marktwirtschaft ist in diesem Sinne gefährlich, wenngleich die Tarifparteien beim „Aushandeln" ihrer Positionen so etwas mit Augenmaß und gegenseitiger Rücksicht stets versuchen müssen. Gemeint ist ja eher ein mutwilliges, rücksichtsloses, letztlich ideologisches Testen und Belasten.

Man sollte nicht vergessen, dass die Idee der Sozialen Marktwirtschaft als freiheitliche und menschengerechte Alternative nicht nur zur zentral geplanten staatlichen Zwangsverwaltungswirtschaft, sondern ebenso zum reinen Laissez-faire-Kapitalismus erdacht und verwirklicht worden ist. Sie entstammt der durchaus kritischen und von Anfang an mit einer ethischen Fragestellung versehenen Grundfrage, wie denn der modernen Industriegesellschaft eine funktionsfähige und zugleich menschenwürdige Ordnung gegeben werden könnte. Dieser Ansatz ist wichtig, weil mit Sozialer Marktwirtschaft keineswegs das liberalistische Freibeutertum einer vergangenen Epoche, auch nicht das naiv vorgestellte „freie Spiel der Kräfte" gemeint ist, sondern eine Form des Wirtschaftens, die das einzelne Individuum mit seinen Fähigkeiten und seiner Verantwortung zur Geltung kommen lässt, aber auch die soziale Gerechtigkeit unseres Gemeinwohls nicht aus dem Auge lässt. Die Soziale Marktwirtschaft gründet sich auf souverän handelnde Menschen, deren freie Entscheidungen bei aller Prägung auch durch die Situation am Ende doch in der Eigenverantwortlichkeit begründet sind.

In diesem Zusammenhang ist es darum wichtig, dass die Soziale Marktwirtschaft eigentlich gar nicht ein „System" im engeren Sinne darstellt, das eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung gewährleistet. Marktwirtschaft in diesem Sinne ist sehr viel mehr ein offenes Gefüge von wirtschaftlichen Verhaltensweisen, entspricht viel eher einem „Stil" des Umgangs mit der wirtschaftlichen Realität.( Vgl. B. Schefold, Wirtschaftsstile I, Frankfurt 1994, 93-110. Ich übergehe an dieser Stelle die intensive Auseinandersetzung zwischen Eucken und Müller-Armack um das Verständnis des Begriffs „Stil", vgl. dazu D. Dietzfelbinger, Soziale Marktwirtschaft, 219 ff) Darum ist es auch konsequent, dass die geistigen Väter der „Sozialen Marktwirtschaft" nicht nur die ethische Dimension wirtschaftlichen Handelns deutlicher herausgestellt haben, sondern sie wussten um das sich gegenseitig bedingende Geflecht von Sozialer Marktwirtschaft und Demokratie, von individueller Anstrengung und sozialer Verantwortung, von Privateigentum und seiner Sozialpflichtigkeit. Die Begründer der Sozialen Marktwirtschaft setzten hier von ihrer Kultur und Humanität her Verhaltensweisen voraus, die man gewiss nicht als „Sekundärtugenden" relativieren darf.

Es sind gerade Voraussetzungen, die heute relativ wenig thematisiert werden. Im Umkreis der Marktwirtschaft braucht es nämlich auch vernünftige Lebensplanung, Familiensinn, feste moralische Bindung, mehr Selbstverantwortung, Achten auf die Rangordnung der Werte und Subsidiarität mit der notwendigen Solidarität. Dies lässt sich leicht aus den Schriften der Gründerväter ablesen. Bei allem sozialen Wandel, der inzwischen eingetreten ist, wird man nicht behaupten dürfen, diese angeforderten Verhaltensweisen seien unauflösbar mit einem überholten Gesellschaftsstatus verquickt. In der konkreten Ausgestaltung muss sich gewiss jede Generation hier um eine eigene Prägung bemühen, aber dies gilt nicht für die grundsätzliche Intention und das Erfordernis eines solchen Verhaltens überhaupt. Gerade Ludwig Erhard hat den Sinn der Sozialen Marktwirtschaft darin gesehen, dem einzelnen Menschen reichere und bessere Lebensmöglichkeiten und damit überhaupt neue Perspektiven der Lebensführung zu eröffnen. „Wohlstand für alle" ist die Kurzformel dafür. Heute heißt es: Chancen für alle.

 

IV.

Vielleicht kann diese Struktur und besonders die ethischen Grundlagen nochmals näher im Blick auf den Markt erläutert werden. Markt und Ethik werden heute rasch als unversöhnliche Gegensätze dargestellt. Man wittert die Raffgier eines rücksichtslosen Marktes, der sich bloß nach dem Recht des Stärkeren durchsetzt. In dieser Hinsicht werden dem Markt ethisch oft nur negative Eigenschaften zugeschrieben: Er kennt nur die eigenen Interessen, er gefährdet oder zerstört Solidarität, er geht nur vom Eigennutz aus, er ist blind.

In dieser Hinsicht scheint mir ein mannigfaches Umdenken notwendig zu sein. Der Eigennutz ist nämlich nicht nur eine mächtige Triebfeder wirtschaftlicher Dynamik, die man als schrankenlosen Egoismus oder zügellose Selbstsucht verstehen dürfte. Zweifellos gibt es immer wieder Anarchisten aller Schattierungen, die im Namen des Eigeninteresses absolute Freiheit fordern und Gemeinsinn sowie Ordnung leugnen. Der wahre Ausgangspunkt ist einfach: Der Einzelne will seine Existenz sichern sowie sein Los und seinen Platz in der Gemeinschaft materiell und ideell verbessern. In diesem Sinne gehört das Streben nach Existenzsicherung, Wohlstand und Anerkennung gewiss zur menschlichen Realität. Dies ist nicht möglich ohne Wettbewerb. Dieser fördert auch Innovationen, weil sich auch der Erfolgreiche nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen kann. Ein solches Selbstinteresse darf nicht einfach mit einer verwerflichen egoistischen Selbstliebe identifiziert werden. Alle Versuche, eine intakte und lebensfähige Gemeinschaft nur auf dem Prinzip des blanken Altruismus aufzubauen, müssen scheitern, wenn nicht das Eigeninteresse des Menschen klug und nüchtern mitbedacht und eingesetzt wird. Selbstinteresse und Gemeinsinn verschränken sich miteinander und sind beide Grundelemente des menschlichen Verhaltens. Der Mensch ist unglaublich fähig, wenn er sich dieser Dynamik bedient.

Wir haben hier gewiss in der deutschen Intellektuellensprache ein Problem. Es scheint mir, dass man dem Denken von Adam Smith und seinem Verständnis von Eigennutz wenig gerecht wird, indem man von vornherein ihre mögliche ethische Qualifikation leugnet oder herabsetzt. Märkte haben gewiss auch ethische Konsequenzen. Sie veranlassen z.B. die Teilnehmer, die Interessen anderer Menschen zu berücksichtigen. Wer diese Interessen überhaupt nicht beachtet, kann auf die Dauer nicht erfolgreich sein. Der Markt bestraft darum auch Faulheit und Leistungsverweigerung. Man darf ethische Triebkräfte im Marktgeschehen nicht übersehen. Der Markt setzt, wenn alles sich darauf einlässt, ungewöhnliche Kräfte frei und gibt einen mächtigen Anreiz. Freilich muss hinzukommen, dass viele Anbieter und viele Nachfrager sich möglichst unabhängig gegenüberstehen und eine wirkliche freie Marktwirtschaft erreicht wird. Dann müssen alle die Preise hinnehmen. Man kann sie weniger manipulieren.

Nebenbei darf ich darauf aufmerksam machen, dass die Enzyklika „Centesimus annus" von Papst Johannes Paul II. diese Struktur der menschlichen Realität, zu der auch Eigennutz und Eigeninteresse gehören, durchaus sieht und annimmt, wenn auch zugleich begrenzt: „Wo nämlich das Interesse des einzelnen gewaltsam unterdrückt wird, wird es durch ein belastendes System bürokratischer Kontrolle ersetzt, das die Quellen der Initiative und der Kreativität versiegen lässt. Wenn Menschen meinen, sie verfügen über das Geheimnis einer vollkommenen Gesellschaftsordnung die das Böse unmöglich macht, dann glauben sie auch, dass sie für deren Verwirklichung jedes Mittel, auch Gewalt und Lüge, einsetzen dürfen."

( Ebd., Nr. 25..) Dies ist bemerkenswert, denn die klassische kontinentaleuropäische ethische Reflexion tut sich schwer mit der ethischen Würdigung einer mehr angelsächsisch konzipierten Ethik.( Vgl. dazu den in dieser Hinsicht viel zu knappen Artikel „Eigennutz" von H. Reiner, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie II (Basel 1972) 334-335)

Aber dies ist natürlich nur eine Seite und ein unvollständiges Bild. Es wäre eine Täuschung anzunehmen, der Markt reguliere sich ethisch total von selbst. Es gibt - wie gerade erwähnt - zwar in begrenztem Rahmen Selbstheilungskräfte, aber sie funktionieren nur, solange das „System" selbst zum Ausgleich und zur Balance fähig ist und dazu bereit bleibt. Man darf die ethische Gefährdung des Marktes nicht übersehen. Monopole und Oligopole verzerren und manipulieren die Preise. Die Märkte können freilich auch von der Nachfrageseite her Machtstrukturen ausgeliefert werden, wie z.B. in der Rüstungsindustrie offenkundig wird, wo es nicht selten nur einen Nachfrager gibt. Der Markt zwingt uns auch nur dazu, den Interessen kaufkräftiger Nachfrager zu dienen. Er schaut nicht auf alle Bedürftige. Wer nicht kapitalkräftig ist, interessiert mindestens jetzt nicht oder interessiert sehr viel weniger. Für seltene Krankheiten wird weniger geforscht. Es ist deshalb sehr schwierig, dass der Markt an ihm selbst Unbeteiligte ins Auge fasst oder gar berücksichtigt.

Es hat durchaus auch im diakonischen Handeln, wo es um extrem Bedürftige geht, einen gewissen Sinn, bis zu einem bestimmten Grad stärker marktwirtschaftliche Gesichtspunkte und auch Elemente des Wettbewerbs einzuführen, aber es würde scheitern, wenn es sich nur nach diesem Denken ausrichten würde. Man muss immer auch auf diejenigen schauen, die auf dem Markt nicht mithalten können, obgleich sie nicht das ganze System bestimmen dürfen. Die Märkte dürfen sich nicht selbst überlassen werden, denn in der reinen Marktwirtschaft bedrohen Konzentration und Missbrauch wirtschaftlicher Macht die Freiheit des einzelnen. Außerdem liefert der Markt weder öffentliche Güter noch Einkommen für diejenigen, die nicht am Erwerbsleben teilnehmen können.

Hier muss man nach zwei Seiten kämpfen. Auf der einen Seite gibt es ein immer wieder ungeheures Misstrauen gegen die Freiheit, die sonst überall schnell in Anspruch genommen wird. Wir können den Missbrauch der Freiheit nicht ausschließen, wir dürfen sie aber deshalb auch nicht grundlegend beschränken. Es braucht ein Vertrauen, dass die Freiheit im Ganzen mehr Dynamik zum Guten als zum Schlechten auslösen wird.( Vgl. F.A. von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971 u.ö., 40) Dennoch muss unserem freien, zunächst unbegrenzten Streben immer auch die sozial-ethische Verantwortung eingeimpft werden. Die Zügellosigkeit der Interessen ist nicht bloß ein Märchen. Es ist nach wie vor eindrucksvoll, dass gerade Ordoliberale wie Walter Eucken und Wilhelm Röpke sich des ständigen Vorgehenmüssens gegen alle Machtstrukturen bewusst waren. Gerade deswegen fordert Walter Eucken stets wieder den „vollständigen Wettbewerb".

Hier setzt die Verantwortung des Staates ein. Dieser soll freilich wirtschaftliches und gesellschaftliches Handeln nicht behindern, sondern die freie Entfaltung des einzelnen gewährleisten. Der Staat soll nicht die Produktion lenken, sondern die Rahmenbedingungen setzen, die die Freiheit des Marktes erst ermöglichen. Der Staat kann die Zukunft nicht planen, sondern muss Rahmenbedingungen gestalten, mit denen eine ungewisse Zukunft bewältigt werden kann. Es muss eine Offenheit für verschiedene, alternative Gestaltungsmöglichkeiten geben.

In diesem Sinne darf man die Marktwirtschaft freilich auch nicht für Fehlentwicklungen verantwortlich machen, die gerade nicht aus ihr selbst, z.B. aus dem Walten von Angebot und Nachfrage, sondern im Gegenteil: eklatanten Verstößen gegen dieses Prinzip entspringen, man vergleiche z.B. die lähmende Wirkung vielfältiger Regulierungen. Das Gelingen der Sozialen Marktwirtschaft hängt sehr entscheidend davon ab, wie wir mit der Freiheit umgehen und welchen Gebrauch wir konkret von ihr machen.

Das Aushalten der damit beschriebenen Gegensätze und das immer wiederholte Ringen um einen Ausgleich sind eine eminente geistige und ethische Aufgabe. Es scheint mir, dass diese Dimension in der Rezeption der Sozialen Marktwirtschaft, wie sie die Gründungsväter konzipiert haben, eher zu kurz gekommen ist. Damit wird aber auch der Ordnungsgedanke verfehlt. Walter Eucken (Vgl. die Grundlagen der National-Ökonomie, 9. Auflage, Berlin 1989, 239.) verweist in diesem Zusammenhang auf den Ordo-Begriff, der eine bessere und gerechtere Ordnung anzeigt. Die antike Ethik hat von Aristoteles bis Augustinus immer wieder, besonders in Notlagen, diesen Begriff entfaltet. Er ist vor allem auch durch Maß und Gleichgewicht bestimmt. „Schon die antike Philosophie.... suchte in der Mannigfaltigkeit der Dinge den verborgenen architektonischen Gestaltungsplan der Welt... Er bedeutet die sinnvolle Zusammenfügung des Mannigfaltigen zu einem Ganzen.... Heute lebt diese Idee wieder auf angesichts der dringenden Notwendigkeit, für die industrialisierte Wirtschaft die fehlende funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung der Wirtschaft, der Gesellschaft, des Rechtes und des Staates zu finden."( Ebd, 239; W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Auflage, Tübingen 1990, 372ff). Ordnungspolitisches Denken ist also nicht ein beliebiges, durch politische Taktik bestimmtes Dekretieren, sondern ist ein verantwortungsvolles Gestalten nach Normen, die deshalb vorgegeben sind, weil sie dem Menschen entsprechen. „Die Gesamtordnung sollte so sein, dass sie den Menschen das Leben nach ethischen Prinzipien ermöglicht."( W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 199; dazu J. von Lüpke, Ordnung, in: Evangelisches Soziallexikon, Neuausgabe, Stuttgart 2001, 1188-1192)

Soziale Marktwirtschaft gibt es so nur als Konzept einer ständigen Ausgleichsbemühung, die den Gedanken der Solidarität und der Subsidiarität verpflichtet ist. Wir sprechen viel von den ökonomischen Rahmenbedingungen unserer Wirtschaft, aber wohl zu wenig von den humanen und damit auch ethischen Rahmenbedingungen gerade der Sozialen Marktwirtschaft. Wir dürfen darum die Probleme der Sozialen Marktwirtschaft nicht abkoppeln von einem tragfähigen Menschenbild, einer funktionierenden Demokratie und der Gültigkeit verlässlicher Grundwerte in einem Gemeinwesen und im Staat. Soziale Marktwirtschaft ist gewiss äußerst leistungsfähig. Man kann sie jedoch nicht einfach als ein in sich stehendes System auffassen und beliebig verpflanzen. Sie beruht in vieler Hinsicht auf sehr verletzlichen Voraussetzungen, die stets gepflegt und weiterentwickelt werden müssen.

 

V.

Unter den geistigen Vätern der Sozialen Marktwirtschaft hat Alfred Müller-Armack wie kaum ein anderer den Zusammenhang zwischen Religion und ökonomischen Ordnungen untersucht. (Vgl. Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform, 3. Auflage, Bern 1981) Müller-Armack geht dabei weit über Max Weber hinaus, der die Religion als einen unter mehreren Faktoren gesellschaftlicher Dynamik zu begreifen versucht. Müller-Armack hebt den Rang des religiösen Bekenntnisses außerordentlich hervor. Er sieht in der abendländischen Geschichte einen zunehmenden Abfall des Menschen vom konkreten Glauben. Es werden Idolbildungen und Ersatzmetaphysiken ausgebildet. Der Mensch kompensiert den metaphysischen Verlust durch diesseitige Befriedigungen. Müller-Armack vertritt die Meinung, den Folgen von Glaubensabfall in Form von Normen- und Werteverlust nur durch eine Wiederbelebung der christlichen Überzeugungen begegnen zu können. Eine wirtschaftliche Erneuerung ist für ihn ohne eine Wiederbelebung des Glaubens nicht möglich. (Vgl. A. Müller-Armack, Das Jahrhundert ohne Gott. Zur Kultursoziologie unserer Zeit, Münster 1948, auch in: Religion und Wirtschaft, 371-512) „Eine Rehchristianisierung unserer Kultur ist.... die einzige realistische Möglichkeit, ihrem inneren Verfall in letzter Stunde entgegenzutreten. In ihren Zeichen vereinigt sich die Wahrheit des Wortes mit den letzten Kräften der europäischen Tradition und den geistigen Überzeugungen unserer Gegenwart, um jene wenigen, aber unverrückbaren Richtmaße zu geben, deren wir im irdischen Dasein bedürfen."( Das Jahrhundert ohne Gott, 182 bzw. 496)

Das „Jahrhundert ohne Gott" ist etwas mehr als 50 Jahre alt. Ähnlich wie R. Guardinis Entwürfe einer Situation der Gegenwart „Das Ende der Neuzeit" und „Die Macht" gehört dieses Buch zu den großen Ortsbestimmungen der Gegenwart nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges. Auch wenn wir heute manches im theologischen Bereich viel differenzierter sehen (Zu A. Müller-Armack vgl. D. Dietzfelbinger, Soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsstil, 168 ff. u.ö), so bleiben doch die Grundfragen bestehen, woher wir nämlich für unser Zusammenleben und angesichts der sich steigernden pluralistischen Wertsetzungen unverrückbare Maßstäbe erhalten, die möglichst alle verpflichten. Diese Aufgabe kann ich im Rahmen dieses Beitrags nur noch nennen, ohne die Themen im einzelnen ausführen zu können, was freilich an anderer Stelle oft geschehen ist.

Wir spüren die Defizite in den Fundamenten unserer Gesellschaft. Die sicher unzureichende Wertediskussion zeigt mehr Verlegenheiten als Lösungen. Immer wieder wird der „Ruck" angemahnt, der durch unsere Gesellschaft gehen soll. Nicht selten schielt man auf die Kirchen und mahnt ihren Beitrag an. Dies geschieht sicher mit Recht. Aber genauso gewiss ist, dass dies eine Aufgabe aller gesellschaftlichen Kräfte ist, nicht nur der Kirchen allein. Mit diesem Beitrag wollte ich wenigstens aufzeigen, wie diese Aufgaben bei den Vätern der Sozialen Marktwirtschaft noch sehr deutlich im Bewusstsein ist. Nicht selten empfinden heute viele diese Ausführungen der geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft als zeitbedingten, letztlich ideologischen Ballast, den man auch übergehen kann. Nun will ich gewiss nicht leugnen, dass man diese Ausführungen, sofern sie auch Philosophie und Theologie betreffen, zweifellos radikal vertiefen und gelegentlich korrigieren muss, aber es bedeutet auf keinen Fall eine Lösung, diese Fragen und Probleme einfach zu eliminieren. Es entsteht dadurch ein falscher Eindruck des Konzepts von Sozialer Marktwirtschaft. Sie leistet in concreto dann auch nicht das, was von ihr erwartet wird. Sie ist kein in sich von selbst funktionierender Regelkreis, sondern das Leitbild einer offenen Gesellschaft, die immer wieder neu Maß nehmen muss auch an anthropologischen und ethischen Prinzipien.

Dies ergibt auch eine eigentümliche Offenheit der Sozialen Marktwirtschaft. Alfred Müller-Armack hat die Soziale Marktwirtschaft nicht zu der „freiheitlichen Lebensordnung schlechthin" hochstilisiert, sondern hat in ihr bei allen notwendigen ethischen Voraussetzungen so etwas wie ein Organisationsmodell und eine Zweckmäßigkeitsstruktur gesehen, die instrumentellen Charakter trägt. Sie ist nicht selber Ziel. Müller-Armack war überhaupt grundsätzlich offen für eine ständige Korrektur der Sozialen Marktwirtschaft.

So hat er sich 1946 (Vgl. Wirtschaftslenkung, 74.) gefragt, ob die Soziale Marktwirtschaft nicht besonders für eine Zeit geschaffen sei, die eine langfristige Güterknappheit befürchten müsse. Die Soziale Marktwirtschaft sei in der Lage, solche Knappheitserscheinungen in der Nachkriegszeit ziemlich schnell zu überwinden. Wenn sich jedoch nach Jahren das Problem des Güterüberflusses stelle, müsse man neu nach einer marktwirtschaftlichen Ordnung fragen. Ähnlich hat er im Jahr 1960 von einer „zweiten Phase der Sozialen Marktwirtschaft" gesprochen (Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur europäischen Integration, Freiburg 1966, 267-291; auch in: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, 2. Auflage, Stuttgart 1976, 267-291.). So hat er z.B. auch auf erhebliche Mängel der realisierten Ordnung hingewiesen und neue Defizite genannt: die mangelnde Rücksicht der produktionell-technischen Entwicklung auf Umweltschäden, vermehrte Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten, institutionelle Sicherung von Vollbeschäftigung. Immer wieder hat er nach einem Leitbild gefragt und gesucht. Dieses muss jedoch auch von innen her als erstrebenswertes Ziel bejaht werden. „Nur so kann das Vakuum ausgefüllt werden, das im Innern unserer Gesellschaft so deutlich spürbar ist. Wir stehen vor der Aufgabe einer inneren Integration unserer Gesellschaft. Diese ist nur von einem Fundament gemeinsamer Werte und Überzeugungen her möglich.... Die Sicherung unserer freien Ordnung kann daher politisch und geistig nur dann erfolgen, wenn wir auch den wirtschaftlichen und sozialen Bereich im weitesten Umfang als Ausdruck eines bestimmten geistigen Leitbildes umgestalten."( Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, 288).

So geschrieben 1960. Wir wissen es also schon lange. Nur daran wollte ich erinnern, damit wir die Aufgabe nicht länger verdrängen.

Ganz gewiss gibt es heute über diese schon erstaunlich hellsichtigen Erkenntnisse Müller-Armacks hinaus ganz neue Herausforderungen. Die entscheidende Bewährungsprobe ist zweifellos die Globalisierung in der Weltwirtschaft. Dies ist ein eigenes Thema, das ich hier im Rahmen der zur Verfügung stehenden Zeit nicht mehr behandeln kann (Vgl. meinen Vortrag „Globalisierung und Soziale Marktwirtschaft. Vortrag beim Unternehmertag 2000 der Landesvereinigung Rheinland-Pfälzischer Unternehmerverbände am 23. Mai 2000 in Mainz, auszugsweise mehrfach gedruckt, vgl. „Noch fehlen Regeln", in: Rheinischer Merkur, 13. April 2001, Nr. 15, 11).

Ich bin jedoch davon überzeugt, dass die Soziale Marktwirtschaft, wenn sie ihre ersten ethischen Grundlagen, die gleichsam zu ihrer Geburtsstunde gehören, reaktiviert, auch dieses Phänomen bewältigen kann. Aber gewiss ist dies kein „Automatismus", sondern verlangt besonders in der internationalen Ordnung des Welthandels und anderer politisch-wirtschaftlicher Beziehungen einen hohen Einsatz für das Wohl aller Menschen. Zugleich sind mit einem Rückgriff auf die ethischen Ursprünge der Sozialen Marktwirtschaft auch die Kriterien entwickelt für das, was heute „Neue Soziale Marktwirtschaft" genannt wird.( Vgl. das gleichnamige Diskussionspapier der CDU Deutschlands, Berlin, 27. August 2001, 146 Seiten, hrsg. von der CDU-Bundesgeschäftsstelle). Dieses Maß ist auch deshalb notwendig, weil diese „Neue Soziale Marktwirtschaft" nicht unter der Hand verwechselt werden sollte mit einer starken Imprägnierung der ursprünglichen Sozialen Marktwirtschaft durch einen kräftigen Schuss Neoliberalismus. Entsprechenden Veränderungen ist sorgfältig nachzuspüren. So fiel mir z.B. auf, dass die bekannte Formulierung von Alfred Müller-Armack, die sich auch bei Ludwig Erhard findet, es gehe der Marktwirtschaft darum, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden",( Art. „Soziale Marktwirtschaft", in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Tübingen 1956, 390) nun im eben erwähnten CDU-Programm unter der Hand leicht umformuliert worden ist. Dort heißt es über die Soziale Marktwirtschaft: „Sie ist ein dynamisches Modell, im stets neu zu bestimmenden Spannungsverhältnis zwischen größtmöglicher Freiheit und dem Auftrag zu sozialem Ausgleich und Gerechtigkeit – 1957 wie 2001."( Diskussionspapier Neue Soziale Marktwirtschaft, 11)

Es ist viel von Freiheit, ja von einer neuen Stufe der Freiheit (Vgl. ebd., 14) die Rede, aber vom Sinn dieser Freiheit und ihrem Verhältnis zu Ordnung und Bindung sollte wohl mehr die Rede sein. Man kann sich darüber nur eine intensive Diskussion wünschen.

Ich bin überzeugt, dass die Soziale Marktwirtschaft, wie sie sich entwickelt hat, der Erneuerung bedarf (Weitere Einzelheiten dazu bei H. Tietmeyer, Besinnung auf die Soziale Marktwirtschaft, 7 – 16; ders, Eigeninitiative und Unternehmergeist, Vortragsreihe des Instituts der deutschen Wirtschaft Nr. 43, Köln 2000; ders, Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft. Grundlage für eine stabile Währung. Vortrag in der Landeszentralbank München am 15.10.2001 (Manuskript, 12 Seiten); ders, Soziale Marktwirtschaft – Modell für die Globalisierung ? Vortrag anlässlich der Bundestagung des BKU am 19.10.2001 in Berlin (Manuskript, 13 Seiten); O. Schlecht, Ordnungspolitik für eine zukunftsfähige Marktwirtschaft, Schriftenreihe „Zukunft der Marktwirtschaft" der Ludwig-Erhard-Stiftung, Band 1, Bonn 2001)

Ich bin aber ebenso überzeugt, dass die ökonomischen und finanziellen Aspekte bei aller Vordringlichkeit für ein wirksames Gelingen der Reform nicht völlig isoliert werden dürfen von einer sehr viel weiteren Erneuerung tragender ethisch-spiritueller und gesellschaftlich-politischer Grundwerte. Dabei will ich keinen Zweifel lassen, dass es wohl weit über die erwähnten Reformschritte hinaus auch Reformen geben muss im Blick auf die Wandlungen an den Börsen, die Rolle der internationalen Finanzmärkte und die Shareholder-Value-Mentalität. Nur wenn der Reformeifer sich auch auf Fehlentwicklungen in diesen und anderen Bereichen der Globalisierung bezieht, die ich gewiss nicht verteufle, ist eine nachhaltige Erneuerung möglich.

 

VI.

Ich möchte nicht enden, ohne eine letzte Bemerkung über das Verhältnis von Glaube und Kirche einerseits und Wirtschaft und Gesellschaft anderseits, vor allem auch im Lichte ethischer Perspektiven zu machen. Wir dürfen diese verschiedenen Bereiche bei aller Eigengesetzlichkeit nicht einfach voneinander trennen. Unternehmen und Kirche, aber auch Gewerkschaften leben bei uns in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung. Es gibt innere Zusammenhänge zwischen freier Gesellschaft, leistungsfähigem Unternehmertum, unabhängigen Tarifparteien und garantierter Glaubens- und Religionsfreiheit. Wir haben allen Grund, die uns jeweils offenstehenden gesellschaftlichen Freiheitsräume zu nützen und gegen mannigfache Bedrohungen zu schützen. Hier sitzen wir alle in einem Boot. Vielleicht haben wir diese gemeinsame Herausforderung noch nicht genügend aufgenommen.

Die Kirche mag nicht über jene blitzschnelle Anpassungsfähigkeit verfügen wie viele Unternehmen. Das Gesetz des Fortschrittes ist in der Kirche ein anderes. Sie kommt von weit her und hat viele Erfahrungen der Menschheitsgeschichte und des Glaubens in ihrem lebendigen Gedächtnis, die noch längst nicht abgegolten sind, auch wenn sie manchmal verstaubt aussehen mögen. Im Blick auf das so erweiterte Gespräch zwischen Kirche und Wirtschaft möchte ich am Ende thesenhaft folgendes nennen:

Wir verwirklichen technologisch-organisatorisch viel, ohne es bereits auf längerfristige Folgen überprüft zu haben. Es gibt aber kein menschliches Tun, das nicht ethisch verantwortet werden müsste. Hier sollte unser Wahrnehmungsvermögen geschärft werden. Wenn die Ethik der Technik immer hinterherlaufen muss, hat sie - und mit ihr der Mensch selbst - auf die Dauer das Nachsehen.

Die Wirtschaft lebt und wirkt inmitten der Kultur und der alltäglichen Lebenswelt. Ihre Veränderungen bewirken oft unbeabsichtigte Nebeneffekte, die bei genauerem Zusehen die Schatten- und gar Nachtseiten des Fortschritts offenbaren. Rücksicht allein auf Marktmechanismen und Wettbewerbsvorteile können partiell blind machen. Die Wirtschaft dient dem Humanum auch in der Sorge um bewahrenswerte Überlieferungen und grundlegende Spielregeln menschlichen Lebens. Pflege im Museum durch Mäzene kommt allemal zu spät. Die Wirtschaft ist letztlich ein Bereich, der nicht von den Kultursachgebieten getrennt werden darf. Aber dies bringt auch neue Rücksichten auf wechselseitige Wirkungen und Verflechtungen.

„Die große Revolution der Denkungsart, welche die Neuzeit mit sich brachte, hat ... zwar die Fähigkeiten von Homo faber ungeheuer erweitert, hat ihn gelehrt, Apparate herzustellen und Instrumente zu erfinden, mit denen man das unendliche Kleine und das unendliche Große messen und handhaben kann, sie hat ihn aber zugleich der festen Maßstäbe beraubt, die ihrerseits, weil sie jenseits des Herstellungsprozesses selbst liegen, ihm einen echten, aus seiner Tätigkeit selbst stammenden Zugang zu etwas Absolutem und unbedingt Verlässlichem verschafften."( H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 2. Aufl., München 1981, 300) Die Arbeit und die total auf sie bezogene Freizeit sind kein Letztes. Sonst verkommt der Mensch und ähnelt auf Dauer einem schlauen, aber angepassten Tier.

In diesem erweiterten Kontext, der nicht von außen willkürlich aufgepropft ist, sondern die ganze Herkunfts- und Ursprungsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft reflektiert, kann die Kirche wichtige Grundzüge der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, wie sie als überparteiliche Reformbewegung von Bürgern, Unternehmen und Verbänden ins Leben gerufen ist, unterstützen. Dabei ist auch das Gespräch wichtig zwischen den Wirtschaftswissenschaften und der Theologie. Wenn nicht alles täuscht, gibt es hier, z.B. in den wirtschaftsethischen Entwürfen von Bruno Molitor, Peter Koslowski, Peter Ulrich und Karl Homann, neue vermittelnde Brücken, die man entschiedener betreten muss (Vgl. dazu J. Gerlach, Ethik und Wirtschaftstheorie. Modelle ökonomischer Wirtschaftsethik in theologischer Analyse = Leiten, Lenken, Gestalten 11, Gütersloh 2002).

Es gilt das gesprochene Wort

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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