Hirtenwort des Bischofs von Mainz zur Österlichen Bußzeit 2007
I. Gottesdienst am Sonntag heute
II. Gründe für den Wandel
III. Die Tiefe des christlichen Sonntags
IV. Der Sonntag als einzigartige Chance für gelingendes Leben
V. Was will die Rede vom Sonntagsgebot?
Schluss
Vorschlag für Fürbitten
Anhang
Verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
Die Überschrift für dieses Hirtenwort zur Österlichen Bußzeit des Jahres 2007 stammt aus der afrikanischen Christenverfolgung um 304, als etwa 50 Christen von Abitinae bei der sonntäglichen Eucharistiefeier überrascht und verhaftet wurden. In den Verhören weisen sie darauf hin, wie lebenswichtig die sonntägliche eucharistische Gemeinschaft für sie ist. Auf die Frage, warum sie sich über das entsprechende Versammlungsverbot hinweggesetzt und die Zusammenkunft nicht verwehrt hätten, antwortet einer im Verhör: „Ich habe es nicht gekonnt, da wir ohne das Herrenmahl nicht sein können.“ Die anderen antworten ähnlich und erleiden dafür das Martyrium.
Gewiss herrschten auch in der frühen Kirche nicht überall diese Idealzustände der existenziellen Verbundenheit mit der sonntäglichen Eucharistiefeier, aber wir erschrecken doch, wie eng die ersten Christen den Herrentag und das Herrenmahl als unzertrennliche Einheit gesehen haben.
I. Gottesdienst am Sonntag heute
Lassen wir zunächst einmal die nüchterne Statistik für heute sprechen: Die moderne Sozialforschung hat sich schon von ihrem Beginn an mit der Sonntagskultur beschäftigt. Wenn wir nur auf das vergangene halbe Jahrhundert zurückblicken, können wir eine geradezu dramatische Veränderung nicht verbergen. Waren es um 1950 etwa die Hälfte der Katholiken, die am sonntäglichen Gottesdienst teilnahmen, so sind es im Jahr 2006 knapp unter 14 %, wobei ein sehr stetiger Rückgang nicht übersehen werden kann. Dies entspricht auch der Situation im Bistum Mainz. Natürlich sind die Zahlen nicht überall gleich, aber sie sind in vergleichbaren sozialen und kulturellen Räumen sehr ähnlich, wie ein Blick auf die Bistümer dem Rhein entlang zeigt.
Dies ergeben unsere zweimaligen Zählungen während des Jahres. Ein wenig gehen sie von der Annahme aus, jeder Katholik müsste ganz regelmäßig, d.h. jeden Sonntag, an der Eucharistiefeier teilnehmen. Tatsächlich beziehen sich die 14 % nicht auf die immer gleichen Personen. In Wirklichkeit geben ungefähr 40 % an, dass sie „ab und zu“ am Sonntag in die Kirche gehen. Wir alle wissen, dass z.B. am Heiligen Abend und an anderen hohen Festtagen, aber auch bei besonderen Gedenkgottesdiensten – nicht zuletzt auch bei großen Katastrophen – viel mehr Menschen den Weg in die Kirche finden.
Dies sind trotz des Schwundes immer noch viele Menschen. Etwa jeder sechste Bundesbürger ist ein regelmäßiger Kirchgänger. Selbst Sportveranstaltungen, Volksfeste, Diskotheken und Wochenendfahrten finden bei aller Anziehungskraft weniger Besucher. Dabei wollen wir auch nicht jene Mitchristen vergessen, die aus verschiedenen Gründen regelmäßig die sonntäglichen Gottesdienste im Fernsehen und im Hörfunk verfolgen.
Wir wollen mit diesen ergänzenden Beobachtungen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die religiösen Bindungen der Menschen – übrigens auch in anderen europäischen Ländern – an Kraft verloren haben. Gelegentlich wird vermutet, dass die Abkehr vom Gottesdienstbesuch nicht gleichbedeutend sein müsse mit einem Rückgang des Glaubens. Man verweist dann gerne auf die Erfahrung der Gegenwart Gottes in der Schönheit der Natur. In Wirklichkeit zeigen sorgfältige Untersuchungen, dass die Kraft des Glaubens sich in der regelmäßigen Teilnahme am Sonntagsgottesdienst der Gemeinde bezeugt und diese Teilnahme auch einen recht verlässlichen Gradmesser für das Engagement der Christen in anderen Bereichen des kirchlichen Lebens darstellt.
II. Gründe für den Wandel
Wir können zwar solche und andere Zahlen nicht leugnen, aber wir müssen zunächst einmal die Entwicklung hinter ihnen verstehen. Oft wird die Vermutung geäußert, der Sonntag habe seine Bedeutung als besonderer Tag zumindest teilweise eingebüßt; jedenfalls bestehe die Gefahr, dass er seine Sonderrolle im Ablauf der Woche verliere. Manches spricht dafür. Es gibt viele Gründe. Die Flexibilisierung der Arbeitszeit in den letzten Jahren hat z.B. zur Folge, dass jeder fünfte Berufstätige regelmäßig am Sonntag arbeitet. Überhaupt ist das Gefüge und damit die Stellung des Sonntags durch die Entstehung eines ausgedehnten „Wochenendes“ mindestens aufgelockert worden. „Stirbt der Sonntag am Wochenende?“ hat einer schon vor Jahren gefragt. Viele erblicken den einzigen Sinn des verlängerten Wochenendes in der Freizeit, die durch eine regelrechte Freizeitindustrie umworben wird. Auf der einen Seite ist der Sonntag im Vergleich zu früher z.B. durch die Schaffung des arbeitsfreien Samstags von manchen Arbeiten entlastet worden, auf der anderen Seite ist es für viele kein Problem, am Sonntag so gut wie alle Dinge zu tun, die in der Woche liegen geblieben sind.
Es haben sich aber nicht nur die Häufigkeit des Kirchgangs und die religiöse Einstellung geändert, sondern auch das, was man „Sonntagskultur“ nennt. Es gab ja auch eine weit verbreitete, bürgerliche Tradition, wie man den Sonntag verbringt. Es war der Tag der Familie, der Besuche zwischen Verwandten und Freunden, der Spaziergänge, in vielen Gegenden – ich erinnere mich noch an meine eigene Jugend – des Besuchs des Friedhofs, um sich der Vorfahren und damit der eigenen Herkunft zu erinnern. Es kam ein gutes Essen auf den Tisch.
Vieles hat sich an dieser Sonntagskultur geändert. Die Mitglieder der Familie zerstreuen sich; die Mediennutzung, besonders des Fernsehens, hat ein großes Gewicht erhalten. Ein besonders starker Wandel zeigt sich in der Kleidung vieler Menschen. Es war bis in die späten 80er Jahre geradezu selbstverständlich, dass man sich am Sonntag besser als an anderen Tagen kleidet. Man sprach gerne vom „Sonntagsstaat“. Hier ereignete sich ein gewaltiger Einschnitt. Der Sonntag hat mehr und mehr den Charakter des Alltags angenommen. Für nicht wenige reduziert sich der Sonntag auf eine gute Gelegenheit zum Einkaufen, zum Ausschlafen, bestenfalls zum Spazierengehen, zu Ausflügen und zum Spielen mit den Kindern.
Und doch ist dies nicht alles. Umfragen zeigen, dass man den Sonntag gewiss nachlässiger verbringt als früher, aber irgendwie hat sich doch in einer oft etwas fernen Erinnerung auch ein gewisser Zauber erhalten. Mehr als drei Viertel antworten auf die Frage, was der Sonntag für sie bedeute: „Sonntag ist ein ganz besonderer Tag, auf den ich nicht verzichten will.“ Es ist ein unverwechselbarer Tag, an dem auch die Besinnung für viele einen hohen Stellenwert hat. Es ist kein Tag wie jeder andere. Die Menschen haben trotz allen Wandels und aller manchmal dramatischen Einbrüche eine vielleicht vage, aber eben doch wirklich gegebene Überzeugung behalten: „Ohne Sonntag gibt es nur noch Werktage.“
III. Die Tiefe des christlichen Sonntags
Kirche und Pastoral können an diesem Punkt ansetzen. Schließlich ist der Sonntag der letzte gemeinsame Rastplatz und Ruhepunkt in unserer Gesellschaft, besonders auch für die Familie. Eine große Mehrheit der Bevölkerung weiß darum und will den Sonntag bei aller Individualisierung nicht einfach den Wirtschafts- und Konsuminteressen opfern. Man hat am Sonntag ein Bedürfnis nach Ruhe und „seelischer Erhebung“, wie unser Grundgesetz es etwas verlegen nennt (Artikel 140).
Freilich müssen wir Christen den Mut haben, uns zum vollen Sinn des Sonntags zu bekennen und dürfen ihn nicht der heutigen Erlebniskultur preisgeben. Man sieht dies schon an den Namen, die der Sonntag in unserer Tradition hat: Es ist der Tag des Herrn, an dem wir an den Anfang unserer Welt und den Segen in der Schöpfung denken. Es ist der Tag Christi, an dem vor allem die Auferstehung Jesu Christi mit der Überwindung von Leid und Tod lebendig und für unser Leben heilend werden soll. Dies ist das wahre Zentrum des christlichen Sonntags. Es ist der Tag der Kirche, da sie in der Eucharistie die Gegenwart des auferstandenen Herrn und darum auch die Hoffnung für unsere Zeit erfährt. So gehören Feier und Freude zu jedem Sonntag, aber auch die leibliche, geistige und geistliche Erholung, die uns wieder frisch zurüstet für die erneute „Sendung“ in den Alltag hinein. Es ist wie ein kräftiges Aufatmen und Atemholen. Viele Menschen suchen eine kräftige geistliche Nahrung für die beginnende Woche. So ist es auch der Tag des Menschen, der wirklich mit der Freude auch die Ruhe, von der die Bibel schon auf der ersten Seite spricht (vgl. Gen 2,2 f.), und die Solidarität im Sinne geschwisterlichen Teilens bringt (vgl. schon die erste Sammlung für die Armen am Sonntag: 1Kor 16,1 f.). In diesem Sinne ist der Sonntag auch der Tag der Tage, das Urbild des Feiertages überhaupt und auch des Sinnes der Zeit, die uns im Reigen des Kirchenjahres geschenkt wird. So geht der Blick auch auf die Vollendung unserer Welt. Der Sonntag ist immer eine Vision der neuen Schöpfung und so eng verbunden mit der Hoffnung auf die Auferstehung und das Ewige Leben. Deshalb ist der Sonntag auch Aufbruch in den Anfang einer neuen Woche (vgl. Joh 20,19.26 und Apg 10,41), nicht der siebte Tag als Ende der Woche, wie die Zeitrechnung heute nahe legt.
IV. Der Sonntag als einzigartige Chance für gelingendes Leben
Dies alles könnte und müsste noch tiefer entfaltet werden, besonders in praktischer Hinsicht. Ich habe es vor genau 20 Jahren in einem meiner ersten Hirtenworte mit dem Titel „Freiwerden für Gott und Freisein für die Menschen“ (1987) versucht. Jetzt kommt es mir jedoch noch mehr darauf an, dass wir als Christen den Sonntag als einen „besonderen Tag“, wie wir ihn soeben umschreibend bezeichnet haben, neu entdecken.
Der Sonntag hat in der Tat viel mit unserem Glauben zu tun, angefangen vom ersten Tag der Schöpfung bis zur Vollendung unserer Welt im ewigen Frieden Gottes, wo alles Leid überwunden ist. Er ist zugleich in der Eucharistiefeier der Gemeinde das zugleich verborgene und offenbare Herz des christlichen Lebens. Thomas von Aquin nennt die Eucharistie „die Vollendung des geistlichen Lebens“ und „das spirituelle Gemeinwohl der Kirche“, in der alle Vollzüge zusammenlaufen, „Quelle des Lebens“ und „Höhepunkt allen kirchlichen Tuns“, wie das Zweite Vatikanische Konzil sagt (vgl. SC 10, 106). Es geht nicht nur um den Kirchgang des Einzelnen.
Gerade in dieser Verwurzelung und mit dieser Ausrichtung ist der Sonntag eine hohe Schule christlicher Humanität. Er bringt den rastlosen Menschen zur Ruhe und Besinnung. Er zeigt ihm bei aller Bedeutung des Wirtschaftens die Grenze bloß ökonomischer Interessen und des Konsums, nicht nur im Blick auf die gesetzliche Regelung der Ladenschluss- bzw. Öffnungszeiten der Geschäfte. Er befreit den Menschen von den Zwängen der Arbeit, sodass wir uns nicht in neue Sklavereien und Abhängigkeiten verstricken dürfen. Er ist ein ausgezeichneter Ort, an dem auch heute Familie, Nachbarschaft und Freundschaft gelebt werden können, große Kultur lebendig wird, die Vereine sich entfalten können und die Verbindung mit unserer Herkunft nicht abreißt.
Nicht zufällig hat der Mensch immer wieder im Lauf der jüngsten Geschichte allen Versuchen widerstanden, den Sonntag abzuschaffen oder umzufunktionieren. Er ist eben auch noch für ein eher geschichtsvergessenes, kraftlos gewordenes Gedächtnis „ein besonderer Tag“. Wir wissen oft gar nicht mehr, was uns der Sonntag alles gebracht hat und auch heute noch zu schenken vermag. Deshalb müssen wir auch den Sinn des Wortes, das diesem Hirtenwort als Überschrift dient und wofür Christen in den Tod gegangen sind, für uns neu entdecken: „Wir können ohne das Herrenmahl nicht leben.“ Wirklich? Dabei sieht, wie schon gesagt, der Glaube Herrentag und Herrenmahl in tiefer Einheit (vgl. schon Ignatius von Antiochien, Brief an die Magnesier, 9,1).
V. Was will die Rede vom Sonntagsgebot?
Jetzt wird es leicht, über das so genannte „Sonntagsgebot“ noch einige Worte zu finden. Es hat nur Sinn, von einer Verpflichtung zur Teilnahme an der sonntäglichen Eucharistiefeier zu sprechen, wenn man von der Größe und den oft verborgenen Chancen des christlichen Sonntags herkommt und davon überzeugt ist. Sonst ist es ein lästiges Gesetz, das dem Menschen, der heute besonders im Blick auf seine Freiheit sensibel ist, auf die Nerven geht.
So ist es auch verständlich, dass der christliche Glaube über eine sehr lange Zeit kein förmliches Gebot zur regelmäßigen Teilnahme am sonntäglichen Gottesdienst kannte. Vor allem im späteren Mittelalter hat man die Verpflichtung herausgehoben. Sie gehört zu den fünf Geboten der Kirche, hat aber tiefe theologische Wurzeln. Wer Christ war, konnte und wollte auf diese Feier des Sonntags nicht verzichten.
Gewiss hat man da und dort auch gelegentlich, gleichsam in Ausnahmefällen, zum Strafrecht gegriffen. So sagt ein Konzil des vierten Jahrhunderts (Elvira, ca. 306-309): „Wenn jemand an einem Ort niedergelassen ist und an drei Sonntagen nicht zur Kirche gekommen ist, dann soll er für kurze Zeit ausgeschlossen werden, damit er als einer, der zurechtgewiesen wird und werden muss, erscheine.“ Aber solche Bestimmungen und auch spätere Vorschriften (vgl. im heutigen Recht can. 1247 CIC) dürfen nicht die tiefe menschenfreundliche Weisheit des Sonntags verdunkeln, die dem Menschen in aller irdischen Not Rettung, Heilung und Heil bringen will.
So ist es einsichtig, dass spätere Zeiten die absichtliche, nachlässige Nichtbeachtung des Sonntags als schwere Sünde gewertet haben. Wenn jemand sich in der Tat bewusst so verhält, ist es auch heute noch wahr, was die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland vor gut 30 Jahren so formuliert hat: „Auch wenn es vielen widerstrebt, angesichts eines so einzigartigen Angebotes von ‚Sonntagspflicht' zu sprechen, so ist es doch nach wie vor eine ernsthafte Verfehlung gegen Gott und die Gemeinde, wenn ein Christ die Eucharistiefeier am Sonntag ohne schwerwiegenden Grund versäumt. Ob das im einzelnen Fall als schwere Sünde bezeichnet werden muss, ist von daher zu beurteilen, inwieweit sich hier eine Haltung der Undankbarkeit, Gleichgültigkeit oder Ablehnung gegenüber Gott und seiner Kirche ausdrückt. So ist das Gewicht dieser Verfehlung zu messen an der Haltung, in der der Einzelne zu Gott und der Kirche steht. Zumal wer immer wieder ohne Grund der sonntäglichen Eucharistiefeier fernbleibt, steht in schwerem Widerspruch zu dem, was er als Getaufter und gefirmter Christ der Gemeinschaft der Kirche und sich selbst schuldig ist und er weist damit zugleich undankbar das Angebot Gottes zurück. Das Gebot der Kirche will die innere Verpflichtung nur bewusst machen und unterstreichen. Es will eine Hilfe zur Selbstbindung sein und deutlich machen, dass die Teilnahme an der Eucharistiefeier nicht dem Belieben des Einzelnen überlassen bleiben kann.“ (Offizielle Gesamtausgabe I, 2.3, S. 200, auch aufgenommen in den von der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen Katholischen Erwachsenenkatechismus, Band II, Leben aus dem Glauben, S. 222)
Die Müdigkeit auch der Guten hat es immer schon gegeben. Schon der Hebräerbrief mahnt: „Lasst uns nicht unseren Zusammenkünften fernbleiben, wie es einigen zur Gewohnheit geworden ist, sondern ermuntert einander.“ (10,25) Das Sonntagsgebot schützt uns auch – wie jede recht verstandene Weisung – vor uns selbst, nämlich vor unserer Willkür und vor unseren Launen sowie Ausreden. Jeder weiß, dass es sich nicht selten lohnt, innere Widerstände gegen solche und andere Zumutungen zu überwinden. Wenn man dies mutig tut, entdeckt man nicht selten in jedem Sonntagsgottesdienst unvorhergesehen und unberechenbar kostbare Einsichten. Auch wenn vielleicht im Gottesdienst nicht immer alles auf die beste Weise gelingt, so wird doch das Wort Gottes verkündet. Die meisten Christen begegnen ihm vor allem am Sonntag. Wo wollen wir uns sonst von ihm ansprechen lassen? Schließlich ist das Wort Gottes noch wichtiger als die beste Predigt. Wir können in jedem Gottesdienst etwas für unser Leben mitnehmen, wenn wir auch nur ein wenig aufmerksam bleiben.
Schluss
Eine Geschichte geht mir immer wieder nach: Vor Jahren war eine Gruppe evangelischer Christen aus Namibia (Afrika) in unserem Land zu Besuch. Sie waren ungemein überrascht, wie gut die Menschen hierzulande leben können und was uns alles möglich ist. Am Sonntag unmittelbar vor dem Abflug gingen sie in einer deutschen Großstadt in den Gottesdienst und waren hell entsetzt über den äußerst geringen Besuch. Dies konnten sie nicht verstehen. Einer hat mir deswegen danach einen Brief geschrieben und gefragt: „Euch geht es so gut, und warum seid Ihr vor Gott so undankbar?“ Ich konnte diese Frage nicht mehr vergessen. Darum habe ich in diesem Jahr auch nochmals zu dieser Herausforderung etwas sagen wollen.
Gebe Gott, dass uns in der Eucharistie immer die Danksagung in unserem Leben, vor Gott und den Menschen, gelingt. Der Sonntag ist dafür ein einzigartiges Geschenk und die beste Gelegenheit.
Dies erbitte ich für uns alle und erteile Ihnen den Segen des Dreifaltigen Gottes,
des + Vaters, des + Sohnes und des + Heiligen Geistes.
Mainz, am Aschermittwoch 2007 (21. Februar)
Ihr Bischof
+ Karl Kardinal Lehmann
Bischof von Mainz
***
Herr, unser Gott, Du hast Dein Volk im Heiligen Geist zum Mahl an Deinem Tisch versammelt und schenkst ihm die Gewissheit, dass Du lebst. Im Vertrauen auf Deine Verheißung, dass uns aus Deiner Hingabe die Kraft der Liebe erwächst, die stärker ist als der Tod und die uns leben lässt, bitten wir Dich:
-Du hast uns den Sonntag geschenkt, damit wir uns über die Schöpfung freuen. Gib uns Christen den Geist der Ehrfurcht und das Bewusstsein, dass Du ein Gott des Lebens bist und öffne uns neu den Blick dafür, was Du mit uns und dieser Welt vorhast.
Christus, höre uns!
Christus, erhöre uns!
-Du bietest uns den Sonntag an als den Tag Deiner Auferstehung, an dem wir Woche für Woche das Ostergeschehen feiern dürfen. Lass allen, deren Leben von Leid und Finsternis überschattet ist, immer neu Dein österliches Licht aufstrahlen, das das Dunkel der Herzen vertreibt.
-Du hast uns den Sonntag geschenkt, damit wir frei werden von den Lasten und Bürden der Arbeit und der alltäglichen Zwänge. Lass uns Christen erkennen, welch großes Geschenk der Sonntag ist, da wir aufatmen und in Deiner Gegenwart zur Ruhe kommen dürfen.
-Du hast viele Völker und Kulturen durch viele Jahrhunderte in der gemeinsamen Feier des Sonntags geprägt. Schenke uns den Mut, dafür einzustehen, dass der Sonntag nicht dem Konsum und den wirtschaftlichen Interessen zum Opfer fällt, sondern dass in allen Überlegungen und Entscheidungen der Mensch und seine Würde geachtet bleibt.
-Stärke die getrennten Christen und Kirchen, dass sie sich entschieden und glaubwürdig gemeinsam für den Sonntag einsetzen.
-Hilf auch in unserer Zeit Möglichkeiten zu entdecken, eine Kultur des Sonntags zu leben, die heilsam ist für unsere Welt und unser Zusammenleben in Familie, Gemeinde und Staat.
Herr Jesus Christus, Du hast Dein Leben eingesetzt, damit wir das Leben in Fülle haben. Wir kommen mit unseren Bitten zu Dir und vertrauen auf Deine Nähe: Schenke uns im Österlichen Mahl und im gemeinsamen Bekenntnis Deines Todes und Deiner Auferstehung die Kraft, Dir auf deinem Weg zu folgen! Darum bitten wir Dich, der Du in der Einheit des Heiligen Geistes mit dem Vater lebst und herrschest in alle Ewigkeit. Amen.
1. Das 1987 veröffentlichte Hirtenwort zur Österlichen Bußzeit „Freiwerden für Gott und Freisein für die Menschen. Vom Sinn des Sonntags“ findet sich, abgesehen von dem eigenen Sonderdruck, in der gekürzten Fassung zur Verlesung im Gottesdienst im Kirchlichen Amtsblatt für das Bistum Mainz, 129 (1987) Nr. 5 vom 10. März 1987 (lfd. Nr. 56), 25-27, aber auch in der Sammlung meiner Hirtenworte „Frei vor Gott. Glauben in öffentlicher Verantwortung“, Freiburg i.Br. 2003, 85-97 – Die Sonderdruck-Ausgabe der Bischöflichen Kanzlei enthält auch im Anhang verschiedene Texte zur Vertiefung (vgl. S. 12-16).
2.Weiter möchte ich auf meinen Artikel „Der Sonntag als gemeinsames Erbe und ökumenische Verpflichtung. Historisch-systematische und praktisch-pastorale Streiflichter“ verweisen, der u.a. erschienen ist in: Kirche in ökumenischer Perspektive, hrsg. von P. Walter, K. Krämer, G. Augustin. Kardinal Walter Kasper zum 70. Geburtstag, Freiburg i. Br. 2003, 441-452. Hier findet sich auch ein ausführliches Literaturverzeichnis (vgl. 450f.), auf das darum hier verzichtet wird.
3.Nachdrücklich hinweisen möchte ich auf das viel zu wenig bekannte Apostolische Schreiben „Dies Domini“ von Johannes Paul II. vom 31. Mai 1998, erschienen in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 133, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1998. – Text auch im Internet: www.dbk.de/imperia/md/content/schriften/dbk2.vas/vas133_pdf.zip
4.Eine gute Zusammenfassung aller Aspekte bringt R. Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, Art. Sonntag, 3. durchgesehene Auflage der Gesamtauflage, Freiburg i. Br. 2005, 479-483 (Literatur).
5.Nachzutragen wäre auch noch ein Hinweis auf den „Katechismus der Katholischen Kirche“, Neuübersetzung, München 2003 (vgl. Register) und das ebenfalls deutsch übersetzte Kompendium „Katechismus der Katholischen Kirche“, München-Vatikan 2005 (vgl. Register).
6.Mehrere Bischofskonferenzen haben sich intensiv mit der Bedeutung des christlichen Sonntags befasst. Dazu gehört auch die Kirche in Italien, die den Sonntag zum Jahresthema 2005 machte. Wenigstens zwei herausragende jüngere Veröffentlichungen daraus sollen genannt werden:
·E. Bianchi, Vivere la Domenica, Mailand 2005
·B. Forte, Perché andare a Messa la Domenica? L’eucaristia e la bellezza di Dio, Mailand 2005.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz