Wenn ich an die Geschichte und Gegenwart der Beziehungen zwischen den getrennten Kirchen und an ihren Wandel in den letzten Jahrzehnten denke, komme ich mit Dank und Bitte immer wieder vor ein zentrales Wort der Bibel: „Du führst uns hinaus ins Weite" lässt sich auch gut anwenden und durchspielen für den Bereich des ökumenischen Verhältnisses der christlichen Kirchen untereinander. Dieses Wort aus Ps 18,20 kommt aus einer tiefen Bedrängnis des Menschen: „Er (der Herr) hüllte sich in Finsternis, in dunkles Wasser und dichtes Gewölk wie in ein Zelt ... Er griff aus der Höhe herab, umfasste mich, zog mich heraus aus gewaltigen Wassern. Er entriss mich meinen mächtigen Feinden, die stärker waren als ich und mich hassten. Sie überfielen mich am Tag meines Unheils, doch der Herr wurde mein Halt." Es ist ein Danklied für Rettung aus Not und für den Sieg. Wir denken auch an Ps 4, wo es heißt: „Du hast mir Raum geschaffen, als mir angst war. Sei mir gnädig und hör auf mein Flehen!" (4,2)
Auch in der Geschichte der Kirchen untereinander und der Religionen gibt es zunächst die Erfahrung gegenseitigen Misstrauens, der Ablehnung und der Angst voreinander, woraus Enge und Ausweglosigkeit entstehen. So versteht man dann das befreiende Wort: „Er führt mich hinaus ins Weite."
Seit einiger Zeit verbreitet sich bei uns die Meinung und wohl auch nicht selten die Erfahrung einer neuen Enge und sogar manchmal eines Rückschritts im Verhältnis der Konfessionen zueinander. Man muss nicht gleich von der „Eiszeit" reden, aber nach dem guten Gelingen auf der Suche nach einem größeren Zueinander fürchten jetzt viele einen Stillstand, ein Treten auf der Stelle, ja eben auch eine Rückkehr zu Positionen, die man überwunden glaubte. In letzter Zeit hat sich dieses Klima sogar offenbar noch verstärkt.
Man muss jedoch nicht nur die jetzige Situation überprüfen, ob es wirklich so ist, wie manche empfinden. Man muss auch fragen, woher wir kommen und wohin wir gehen. Die Verheißung, dass wir in die Weite geführt werden, kann auch missverstanden werden. Es ist ja keine vage und unverbindliche Weite gemeint, die uns wie in einen unwirklichen Traum hinein entlässt. Es ist ein Weg, der auch bestimmt ist von dem, was war und ist. Auch wenn es sich manchmal wie ein bleiernes Gewicht ausmacht, das uns nach unten zieht, so können wir doch nicht einfach unsere Geschichte und unsere Situation überspringen. Gleichwohl brauchen wir gerade auch für den Weg der Ökumene eine Hoffnung, die sich nicht zufrieden gibt mit dem, was wir bisher erreicht haben, sondern die uns wirklich nach vorne hin beflügelt und mutig macht. Wir wollen ausloten, welche neuen Spielräume sich dafür in Zukunft für die Ökumene auftun.
Wir stehen an einem eigentümlichen Ort: Wir haben in diesem neuen Zueinander viel erreicht, aber wir sorgen uns zugleich um den weiteren Weg, der uns wirklich nach vorne bringt. Es gibt ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten, das etwa mit dem Bild umschrieben werden kann, dass uns wie bei einer eingestürzten oder zerstörten Brücke noch viele verlässliche Pfeiler stehen geblieben sind und uns mehr Gemeinsames verbindet als Trennendes hindert. Dennoch gibt es bei allen Erfolgen noch bestehende Hindernisse. Sie werden angesichts der wiedergewonnenen Gemeinsamkeit noch belastender. Es handelt sich hauptsächlich um drei Brennpunkte, die nicht zufällig zwischen Theorie und Praxis, Theologie und Alltag des Lebens angesiedelt sind: das Fehlen vollwertiger gemeinsamer Gottesdienste an Sonn- und Feiertagen, die uneingeschränkt anerkannt werden; die kirchliche Anerkennung und seelsorgliche Begleitung konfessionsverschiedener Ehen; das Warten auf eine gegenseitige Einladung und Anerkennung im Blick auf das Herrenmahl. Die Tragik der Kirchenspaltung erweist gerade im Persönlichsten, wie es Ehe und Familie darstellen, ihre stärkste Macht. Hier erleben viele Menschen die jahrhundertelange Entfremdung furchtbarer als im öffentlichen Verhältnis der Konfessionen selbst. Dies muss ein wichtiger Motor unseres ökumenischen Einsatzes bleiben. Dies hat nachhaltig bis heute mein eigenes ökumenisches Engagement bestimmt.
Eine solche Situation ist schwierig. Der erste große Aufbruch scheint sich erschöpft zu haben. Die Hoffnung scheint nicht mehr weiterzutragen. Das Verhältnis der Kirchen zueinander erscheint trotz einiger Rückschläge in grundlegenden Fragen als entschärft. Ökumene ist auf allen Veranstaltungen und Ebenen hoffähig geworden. Wir spüren aber auch, dass dieses Klima nicht ungefährlich ist. Schwerwiegende Differenzen, über die noch zu reden sein wird, werden eher zurückgestellt. Sie stören und sind lästig. Man geht ihnen aus dem Weg.
Hier gab es gewiss auch manchmal eine falsche Höflichkeit. Wir sind in den letzten Jahren manchen unangenehmen Wahrheiten, die uns drängen, aus dem Weg gegangen. Wir haben das gemeinsam Erarbeitete nicht energisch umgesetzt. Man hat sich dann in dem, was erreicht worden ist, recht und schlecht eingerichtet. Aber der notwendige Schwung ist lahmer geworden. Es lässt sich nicht leugnen: Je geringer die Differenzen geworden sind, umso schwieriger kann der Dialog werden. Es besteht die Gefahr, dass immer weitere Unterschiede beigebracht werden, welche vielleicht keinen entscheidenden Rang haben, aber eben als beinahe unüberwindbar angesehen werden. So erscheint plötzlich der Ablass viele trennende Aspekte aufzuweisen, dass man dies - manchmal ohne es zu wollen - gegen die Grundvereinbarung in der Rechtfertigungslehre vom 31. Oktober 1999 wendet, ohne im Übrigen die wichtigen neueren theologischen Interpretationen zum Ablass zur Kenntnis zu nehmen. Selbst wenn in diesem Bereich noch einiges aufgearbeitet werden muss, so dürfen wir doch nicht diese große Vereinbarung vor bald fünfzehn Jahren dahinwelken lassen.
Diese objektiv heikle Situation kann leicht zu falschen Grundeinstellungen führen. Man verfällt in Resignation, weil der ökumenische Frühling vorüber sei. Vielleicht hat man da und dort auch zu sehr und zu unreflektiert auf irreale Hoffnungen gesetzt. Viele sehen nur noch einen Stillstand auf dem Weg zur Einheit; der offizielle Ökumenismus bestätige nur sich selbst; darum sei der Rückzug auf kleine, lebendige Basisgruppen der Ökumene die einzige Rettung; die etablierten Kirchen seien letztlich reformunfähig und unbußfertig; eine Stärkung dieses Ökumenismus sei - so heißt es - sogar unerwünscht, weil er nur die konservativen Kräfte in den Kirchen stütze. So wird der Aufruf zum eigenen, nur aus dem ökumenischen Gewissen geborenen Handeln verständlich, das in antizipatorischer Zivilcourage das tun soll, was ohnehin längst geboten, aber formell (noch) nicht erlaubt sei. Andere erblicken in dem angeblichen Stillstand erste Anzeichen einer innerkirchlichen Beruhigung. Sie sind ohnehin der Meinung, dass die Ökumenische Bewegung am Ende den Kirchen nur schade, denn sie begünstige einen Identitätsverfall der einzelnen Konfessionen, der in der Zeit der schleichenden oder offenen Erosion religiöser Kräfte ohnehin drohe, oder begünstige den Indifferentismus sowie die Bildung einer „Dritten Konfession", nämlich die von Christen ohne Kirche.
Es gehört zur Nüchternheit und auch Glaubwürdigkeit der ökumenischen Arbeit, dass man sich des bleibenden Wegcharakters bewusst sein muss. Dabei werden Enttäuschungen und auch manchmal rückläufige Tendenzen unvermeidlich sein. Es gibt im Leben des Geistes und des Glaubens nie bloß breite Pracht- und Königsstraßen ohne verschlungene Pfade, Umwege und Holzwege, Abwege und Irrwege. Dennoch wäre es fatal, wenn eine resignierende Grundstimmung sich gegen ihre letzte Absicht daran beteiligen würde, das immer noch brennende ökumenische Feuer löschen zu helfen. Wer die gewachsenen Differenzen in ihrer Tiefenwirkung zu gering schätzt und auf ihre ernsthafte Aufarbeitung meint verzichten zu können, wird nur Scheinerfolge erreichen können. Nach meiner Erfahrung sind jedoch nicht gedeckte Schecks in der Ökumene besonders gefährlich, weil nach ihrer Entlarvung, dass sie nämlich das Versprochene doch nicht tragen, die Enttäuschung entsprechend groß ist. Dies darf uns nicht überraschen, denn das Leid und der Schmerz der Ökumene verlangen nach einer gediegenen Überwindung, die sich wirklich bewährt. Ökumene braucht den langen Atem. Sonst kann es geschehen, dass Resignation und Revolte sehr dicht beieinander wohnen. Wehe, wenn wir dies durch Unbeweglichkeit oder blinden Übereifer begünstigen.
Der Dialog unterscheidet sich von Unterhaltung und Gespräch durch eine spezifische Zielsetzung. Er ist von Hause aus auf das Erreichen eines Konsenses ausgerichtet. Das Ziel ist eine theologische Übereinstimmung um der kirchlichen Einheit willen. Die Übereinstimmung muss freilich nicht alle Verschiedenheiten aufheben, sondern will nur jene überwinden, die eine grundlegende kirchliche Gemeinschaft verhindern. Wir sprechen so von kirchentrennenden Differenzen. Bei der Konsensbildung bilden darum Divergenzen und Konvergenzen eine entscheidende Rolle. Auch wenn nämlich ein hoher Konsens erreicht wird, muss es noch längst kein Maximal- oder gar ein Totalkonsens sein. Entscheidendes Kriterium ist die Frage, ob eine Divergenz kirchentrennenden Charakter hat. In den letzten Jahrzehnten ist die Hermeneutik des Ökumenischen Gespräches gerade in dieser Hinsicht intensiv entwickelt worden. Ich sehe keine grundlegende Alternative zu ihr. Wenn diese Methode nicht sorgfältig, sondern oberflächlich angewendet worden wäre, dann ist dies noch kein Argument gegen die Wahl dieses methodischen Instruments. Dies hält man nicht immer genügend gut auseinander.
Unter diesen Voraussetzungen bezieht sich der evangelisch-katholische Dialog vor allem auf die folgenden drei Gebiete, die ich hier freilich nur nennen kann: Eucharistie, Kirchesein, Amt.
Es lässt sich nicht übersehen, dass diese und andere Fragen, vor allem auch der Marien- und Heiligenverehrung, durch die am 31. Oktober 1999 unterzeichnete Vereinbarung zwischen dem Lutherischen Weltbund und dem sogenannten „Einheitsrat" in Rom für die Katholische Kirche zur Rechtfertigung eine ganz neue Dimension erhalten haben. Es kommt darauf an, dass hier im Zentrum der inneren und äußeren Genese der Reformation ein Einvernehmen gefunden worden ist, und dass trotz verbleibender Unterschiede im Einzelnen in Grundwahrheiten des Rechtfertigungsverständnisses keine kirchentrennenden Hindernisse gegeben sind. Dies ist ein Mark- und Meilenstein in der ökumenischen Gesprächsserie. Die Diskussion darüber und auch die bleibende Ablehnung nicht weniger evangelischer Theologen bis heute zeigen aber deutlich, wie manches noch tiefer geklärt und fortgeführt werden muss. Dies geschah und geschieht z.B. im Ökumenischen Arbeitskreis katholischer und evangelischer Theologen, der 1946 auf den Trümmern des Zweiten Weltkrieges gegründet worden ist, ein Zeichen für einen neuen Anfang.
Inhaltlich wird die Weiterarbeit nicht zuletzt darin bestehen, dass im Zusammenhang der Rechtfertigungsbotschaft die gemeinsamen Fundamente für das Verständnis der Kirche und des Kircheseins bedacht werden müssen. Die Frage nach den Sakramenten und dem Amt kann leichter und besser gelöst werden, wenn man sie in diesen größeren Kontext der Kirchenfrage einbezieht. Dies ist, so bin ich überzeugt, ein wesentlicher Unterschied gegenüber der früheren Erörterung der Ämterfrage. Gewiss macht die Erweiterung ihres Kontextes mit den Themen von Kirche und Sakramenten die Sache nicht einfacher, aber sie kann zu einer gewissen Entkrampfung der Ämterfrage führen, die dann wieder den Blick auf eine Lösung der Probleme erleichtern kann. Schließlich will ich darauf hinweisen, dass bei der Aufarbeitung der „Lehrverurteilungen" das umfangreiche Stück „Sakramente" bis heute noch weitgehend ungenutzt ist, zurzeit aber nochmals in Angriff genommen wird.
Vielleicht darf ich an einem Beispiel zeigen, dass wir auch Probleme noch ungelöst vor uns haben, die weit zurückreichen. Immer und zunehmend wird von evangelischer Seite bedauert, die evangelischen Kirchen würden nicht ebenbürtig als Kirchen in einem theologischen Sinn anerkannt, also nicht in einem allgemeinen gesellschaftlich-organisatorischen bzw. staatskirchenrechtlichen Sinn.
Aber hier ist manches auch widersprüchlich. Will man denn im Ernst theologisch so Kirche sein wie die katholische Kirche? Was A. v. Harnack vor 85 Jahren formulierte, steckt immer noch in vielen Köpfen: „Der Protestantismus muss rund bekennen, dass er eine Kirche wie die katholische nicht sein will und sein kann, dass er alle formalen Autoritäten ablehnt, und dass er ausschließlich auf den Eindruck rechnet, welcher die Botschaft von Gott und dem Vater Jesu Christi und unserem Vater hervorruft."
Man sieht sofort, dass hier bis in die elementarsten Worte hinein noch manches klärungsbedürftig ist und theologisch sorgfältig bearbeitet werden muss. Man kann diese Klärung nicht einfach abtun oder pragmatisch erledigen.
Man muss auch nüchtern betrachten, dass es in der Bearbeitung ökumenischer Probleme manchmal auch eine Ungleichzeitigkeit gibt. Manche Themen nehmen für Jahre viel Zeit in Anspruch, wie dies z.B. beim Projekt „Lehrverurteilungen" zwischen 1980 und 1986 der Fall war. Größere Untersuchungen, die in der Zeit vorher unternommen worden sind, liegen unter diesen Umständen eher etwas brach und werden nicht mehr mit größerer Aufmerksamkeit verfolgt. Dies muss kein Zeichen der Missachtung oder des Desinteresses sein, sondern es ist ein Zeichen dafür, dass die Umsetzung gewisser Ergebnisse auf allen Ebenen ihre Kapazitätsgrenzen hat. Als ein weiteres wichtiges Beispiel dafür nenne ich die Gemeinsame Untersuchung lutherischer und katholischer Theologen zum Augsburgischen Bekenntnis aus dem Jahr 1980, die viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Auch darf man die wichtigen Aussagen zur Person Martin Luthers im Zusammenhang des 500. Geburtstages im Jahr 1983 nicht vergessen. Persönlich bin ich auch der Meinung, dass wir an verschiedener Stelle in den 70er Jahren im Blick auf die Thematik unterschiedlicher Konzeptionen der Ämter schon manche Studien durchgeführt haben, die man damals nicht weiter verfolgt hat (z.B. über Ordination, Presbyterat-Episkopat), weil eben ganz andere Themen auf die Tagesordnung kamen. Leider wurden damals auch manche Ergebnisse nur zögerlich veröffentlicht.
In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals daran erinnern, dass wir besonders in unserem Land im Lauf der letzten 40 Jahre nicht nur beträchtliche Fortschritte im Bereich der Glaubenslehre und damit der klassischen Kontroversthemen erreichen konnten, sondern dass wir auch mit der Übereinstimmung in Fragen der ethisch verantworteten Gestaltung unserer Gesellschaft eine zweite wichtige Säule geschaffen haben. Sie umgreift ca. 25-30 Texte. Hier ist wirklich viel gemeinsames Profil geschaffen worden, das freilich in seiner Bedeutung nicht genügend beachtet worden ist. Dazu gehören nicht nur die wichtigsten Studien zur Transplantation (Ethik der Transplantation, Xenotransplantation), sondern eine Reihe von grundlegenden Themen für unsere Gesellschaft: Staat und Kirche im Blick auf die europäische Union (1995), Die Herausforderungen durch Migration und Flucht (1997), Chancen und Risiken der Mediengesellschaft (1997), Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland („Sozialhirtenbrief", 1997), Gemeinsame Erklärung zur Reform der Alterssicherung (2000). In diesem Zusammenhang darf als das letzte größere Dokument das Wort „Demokratie braucht Tugenden. Zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens" (2006) genannt werden. Für diese sozialethische Gemeinsamkeit, die natürlich auch konkrete Fundamente in einem Land hat und braucht, gibt es kaum außerdeutsche Parallelen.
Unter diesen Verlautbarungen darf die Gemeinsamkeit in Fragen der Bioethik nicht ungenannt bleiben. Dabei hat uns gewiss die Einführung der „Woche für das Leben" geholfen, die wir seit 1990 gemeinsam durchführen (vorher einige Zeit allein auf katholischer Seite). Ein Grunddokument für diesen gemeinsamen Einsatz zugunsten eines ungeteilten Schutzes des Lebens, besonders des menschlichen Daseins, war die gemeinsame Schrift „Gott ist ein Freund des Lebens", eine Gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der DBK in Verbindung mit der ACK. Dazu kommen zahlreiche Aussagen über die Sterbebegleitung in Auseinandersetzung mit Tendenzen zu einer aktiven Sterbehilfe, eine Stellungnahme zu den Chancen und Risiken der pränatalen und prädiktiven Diagnostik sowie der Präimplantationsdiagnostik. Schließlich ist an dieser Stelle die Handreichung „Christliche Patientenverfügung" zu nennen, die seit 1999 eine Auflage von 1,6 Mio. Exemplaren gewann und in überarbeiteter Form vorliegt. In diesem Zusammenhang ist auch ein umfangreiches Dokument „Neuorientierung für eine nachhaltige Landwirtschaft" (2003) zu nennen.
Es darf hier freilich nicht verschwiegen werden, dass wir in letzter Zeit im Blick auf diese Gemeinsamkeit in den bioethischen Verlautbarungen einen Riss verzeichnen müssen. Der Dissens betrifft vor allem die Haltung zur embryonalen Stammzellforschung und besonders zur Frage der Verlegung eines Stichtages. Ich kann diese Frage hier nicht ausführlicher behandeln. Wir sind und bleiben darüber in einem intensiven Gespräch. Bei der Frage der Sterbehilfe, besonders beim Problem der ethischen Wertung der Assistenz beim selbstgewählten Freitod, knistert es im Gebälk. Dabei ist nicht zu übersehen, dass es dabei auch beträchtliche Unterschiede und verschiedene Stimmen unter den evangelischen Kirchenleitungen gibt. Angesichts der vielen Gemeinsamkeiten habe ich jedoch die Hoffnung, dass wir manche Missverständnisse beseitigen können. Es ist freilich möglich, dass es in der Frage der Kriterien einer christlichen Ethik noch zu weiteren Untersuchungen kommen muss. Es zeigt sich schon längere Zeit, dass die theologisch-wissenschaftliche Erörterung auf evangelischer Seite hier mehr Differenzen betont, als dies in der Zwischenzeit allgemein wahrgenommen worden ist. Dafür werden wir uns Zeit nehmen müssen. Die Gemeinsamkeit in der Bioethik ist zwar manchen ein Dorn im Auge, aber ein kostbarer Schatz, der gehütet und weiter entfaltet werden muss (dies gilt etwa auch für Einzelfragen zur Patientenverfügung).
Wir vergessen ja auch immer wieder schnell, was wir in der Zwischenzeit erreicht haben. Dies gilt z.B. für die Feier der Tauferneuerung und die Unterzeichnung der wechselseitigen Anerkennung der Taufe im Jahr 2007 im Dom zu Magdeburg, wo der älteste Taufstein nördlich der Alpen steht. Auch hier wird es darauf ankommen, dass wir diese Gemeinsamkeit stärker zur Vertiefung des Christseins nutzen und missionarisch zur Gewinnung neuer Christen einsetzen. Hier ist leider noch wenig geschehen.
Ich komme noch einmal kurz auf die erwähnte neuerliche Trübung des Verhältnisses zwischen der Evangelischen Kirche unseres Landes und der katholischen Kirche zu sprechen. Es kann hier gewiss nicht darum gehen, dass wir uns gegenseitig „Sündenregister" vorlegen, wenn sie überhaupt solche sind. Es ist freilich notwendig, sich die Frage zu stellen, was hinter einem gewissen Wandel der Grundstimmung stehen könnte, der sich für mich ungefähr bald nach der Jahrtausendwende bemerkbar gemacht hat (vgl. für beide Seiten einerseits die Bevorzugung der „Lutherübersetzung" in ökumenischen Gottesdiensten sowie anderseits das Erscheinen von „Dominus Iesus"). Diese Grundstimmung ist nach dem Erscheinen der genannten Erklärung der Glaubenskongregation zum Verständnis der Lehre über die Kirche vom 29. Juni 2007 - veröffentlicht am 10. Juli 2007 - (vor allem zum „subsistit" in LG 8) auf einen Tiefpunkt gefallen. Ich kann in diesem Zusammenhang nicht näher darauf eingehen. Einige weitere Irritationen entstanden durch die Veröffentlichungen des Heiligen Stuhls zum erweiterten Gebrauch der vorkonziliaren Liturgie und zur Neufassung des Karfreitagsgebetes für die Juden innerhalb dieser Gemeinschaften. Hier hat es zweifellos neben Missverständnissen und Ungeschicklichkeiten katholischerseits auch manche Fehlinterpretationen gegeben. Umso gründlicher muss den Ursachen eines gewissen Stimmungswandels nachgegangen werden.
Ich sehe gewisse Probleme im Zusammenhang der Identität und des eigenen Profils, das jede Kirche hat. Wenn in der ökumenischen Arbeit und auf dem Weg zur Einheit der Kirche immer mehr Gemeinsames erkennbar und gewonnen wird, wird auch stärker - solange die Kirchen getrennt sind - die Frage auftauchen, ob denn das eigene Profil nach innen und nach außen genügend gewahrt und wahrnehmbar bleibt. Es ist ein legitimes Anliegen, das Proprium und das eigene Profil zur Geltung zu bringen. Das Identitätsproblem ist auch in anderer Hinsicht eine legitime Frage: Man muss zweifellos auch darauf aufmerksam bleiben, dass die notwendige Gemeinsamkeit nicht wie ein kleinster gemeinsamer Nenner erscheint, der am Ende alle ärmer macht, weil er die jeweiligen Reichtümer der einen oder anderen Konfession in den Hintergrund drängt. Solange keine wirkliche Einheit gefunden ist, lässt sich wohl auch irgendeine Form von Konkurrenz zwischen den Kirchen nicht völlig vermeiden. Es kann durchaus unter den Konfessionen eine Art friedlichen Wettbewerbs geben, wenn dies dem Wachsen des Christlichen in unserer Gesellschaft dient. Hier muss man nüchtern bleiben.
Aber es ist auch hermeneutisch, zumal in einer Mediengesellschaft, nicht so leicht, das gemeinsam Erworbene festzuhalten und zugleich die eigene Identität zu profilieren. Dies geht erfahrungsgemäß nicht selten auf Kosten der Gemeinsamkeit. Man sieht dies ja auch sehr deutlich bei der Identitätsstärkung junger Menschen, die letztlich auch nicht ohne Konflikte im Sinne einer Abhebung von der Mit- und Umwelt erfolgt, besonders wenn Autorität mit im Spiel ist. Nun befindet sich natürlich die Ökumene nicht in einem notwendigen Stadium der Pubertät, aber sie muss die Frage, wie sich diese Profilierung ohne neuerlichen Verlust der Gemeinsamkeit vollzieht, selbstkritisch reflektieren. Die Identitätssuche geht nämlich leicht im Stil einer Abgrenzung gegenüber den anderen Partnern vor sich und ist immer auch in Gefahr, zu einer Überhöhung der eigenen Reichtümer und Schätze zu werden. Wie man das Gemeinsame bewahrt und zugleich das unverwechselbar Eigene hervorheben und gar steigern kann, ist doch recht schwierig. Darauf habe ich schon vor einiger Zeit aufmerksam gemacht. Und wenn dies im Stil von Wettbewerb und Konkurrenz - dazu noch in unserer Mediengesellschaft - geschieht, dann braucht man eine differenzierte und sensible Spiritualität sowie Hermeneutik ökumenischer Beziehungen, damit es nicht zu problematischen Formen kommt, z.B. des Verdrängens des Anderen und der Selbstüberschätzung. Die Identitätsfalle ist uns als Gefahr bewusster geworden.
Ich möchte nicht missverstanden werden: Jedes institutionelle Gebilde braucht Identität und muss sie bezeugen, entfalten und auch, wenn nötig, verteidigen. Dies gilt erst recht im Glauben. Aber es kommt darauf an, wie man dies tut. Wir müssen miteinander und voneinander lernen, wie dies geschehen könnte. Hier möchte ich einige Probleme kurz skizzieren, die angesprochen werden müssen, aber in diesem Beitrag nicht tiefer behandelt werden können.
• In der Ökumene ist die ökumenische Methode wichtig. Darüber muss immer wieder auch generell und im konkreten Arbeitsvorgang reflektiert und diskutiert werden. So dürfen wir m.E. die Suche nach einem „differenzierten Konsens" nicht preisgeben. Es gab und gibt gewiss Beispiele, wie diese Suche vielleicht nicht immer streng genug verfolgt worden ist. Aber die jahrelange Polemik einiger Leute gegen die so genannte „Konsensökumene" hat ja nicht zu besseren Instrumenten und Verfahren geführt. Dies gilt auch und gerade für das neuerdings propagierte „Differenz-Modell" . Wir haben mit der Suche nach einem „differenzierten Konsens" vieles Gemeinsame wiederentdeckt. Auch die Feststellung von Teilkonsensen und von Konvergenzen ist und bleibt m.E. auf dem Weg zu einer verantwortlichen Erkenntnis bisher unersetzbar. Dies gilt gerade auch angesichts des Umgangs mit den Lehrverurteilungen. Offensichtlich ist das, was „Differenz-Modell" genannt wird, noch nicht ausreichend geklärt, vor allem auch im Kontext der jahrelangen Diskussion um eine so genannte „Grunddifferenz", ein Gedanke, den schon sehr früh G. Ebeling aufgegriffen hatte und der dem Straßburger Institut des Lutherischen Weltbundes einiges zu denken gab.
• Ich habe trotz einer immer noch umfassenden ökumenischen Literatur den Eindruck, dass die Ergebnisse der Ökumenischen Theologie, aber auch der Ökumenischen Gesprächskreise, gerade wenn sie differenziert sind, weniger Beachtung finden. Vielleicht existierten auch einmal überzogene Erwartungen, besonders im Blick auf die Möglichkeiten der Befassung in den Gemeinden. Aber auch viele Verantwortliche in den Kirchenleitungen haben aus manchen Gründen die Entwicklung der Ökumenischen Theologie und der Gesprächsergebnisse faktisch wenig verfolgt oder gar ignoriert. Dies gilt auch für viele theologische Fachkollegen, sofern sie nicht eigens Ökumenische Theologie treiben. Dies gilt für beide Seiten. Die Situation nach der Rechtfertigungsvereinbarung von 1999 hat dafür die Augen öffnen können.
Wir sind heute nicht selten in Gefahr, eine Ökumene ohne theologischen Tiefgang zu betreiben. Dann belässt man es auch leicht bei den üblichen Forderungen an den ökumenischen Partner. Man hat dann selbstverständlich auch das Gefühl, es herrsche ein Stillstand, obgleich dies gar nicht so ist.
• Damit hängt eng zusammen, dass ich oft das Gefühl habe, wir verharrten in einer ökumenischen Immobilität. Gerade der geistliche Ökumenismus, etwa der Gruppe von Dombes und der Gemeinschaft von Taizé, erinnert uns immer daran, dass wir auf dem Weg der Ökumene umkehren müssen und wirklich auch nach vorne hin je auf unsere Weise und gemeinsam spirituell wachsen. Dies kann und wird gewöhnlich auch in kleinen Schritten geschehen. Wir erleiden aber nach meiner Einschätzung eine abnehmende Veränderungsbereitschaft. Es ist notwendig, gerade angesichts der Erinnerung an die Einführung der Gebetswoche für die Einheit der Christen vor mehr als 100 Jahren daran zu erinnern. Hier ist und bleibt die Gruppe von Dombes vorbildlich und exemplarisch. Man fordert immer stärker eine wechselseitige Anerkennung, die eine sofortige Beendigung aller Trennungen verlangt. Es ist eine gewisse spirituelle Weigerung: „Du musst mich so annehmen, wie ich bin." Das ist gewiss wichtig für die Ausgangssituation, wo nur Gleiche mit Gleichen, die sich auch zunächst so anerkennen, miteinander in einen Dialog kommen können. Aber dann ist auch klar, dass man auf diesem Weg und in diesem Prozess durch den Anderen und mit ihm lernen kann und muss. Mit dem Theologieverlust und dem Schwächerwerden der ökumenischen Impulse gibt es auch eine abnehmende Veränderungsbereitschaft. Wer nicht einzeln, in seiner Gemeinschaft und im größeren Miteinander im Glauben wachsen will, soll die Finger von der Ökumene lassen.
Wenn diese Feststellungen stimmen, geben sie zu denken. Dann müssen wir uns fragen, ob wir auch von Amts wegen eine genügende ökumenische Dynamik schaffen oder uns kräftig dafür einsetzen, damit die Suche nach mehr Einheit lebendig bleibt. Vielleicht finden die immer wiederholten Vorwürfe, die Ökumene leide am meisten unter den untätigen Kirchenleitungen, hier ein Körnchen Wahrheit. Wenn die Spannung überdehnt oder auch gar nicht genützt wird, verläuft sie im Flachen. Im Übrigen gibt es auch einen Kairos der ökumenischen Arbeit. Es ist nicht sicher, dass einmalige Situationen zum Dialog und zur Aussöhnung, die uns in dieser Zeit geschenkt werden, jederzeit wieder herbeigerufen werden können. Wir leben immer noch in einem solchen günstigen Augenblick. „Kauft die Zeit aus", gilt auch hier.
Auch wenn man diese momentanen Probleme aufrichtig beim Namen nennen muss, so darf dies keine ökumenische Missstimmung hervorrufen oder, wenn sie schon da ist, legitimieren. Wir können diese Probleme Schritt für Schritt abzubauen versuchen und ehrlich, auch wenn es länger dauert, einer Lösung entgegenführen. Es gibt keine Alternative vor allem zu dem Gebot des Herrn, dass wir mit allen Kräften Trennungen, wo es notwendig und möglich ist, überwinden und die zerbrochene Einheit wieder suchen und finden.
Wir haben zwar einen weiten Radius abgeschritten, aber noch keine großen Schritte ins Weite gemacht. Bevor man dies tut, muss man aber im Sinne des eingangs Gesagten den eigenen Standort kennen. Es wäre ja sehr unfruchtbar, wenn wir bereits Erworbenes durch Vergessen preisgeben oder verdrängen würden. Das Gute liegt auch hier so nahe, dass wir nicht einfach in die Ferne schweifen dürfen. Vieles, was erarbeitet worden ist, ist noch nicht rezipiert. Es gehört also auch zu unserer Zukunft, dass wir es uns aneignen.
Doch wollen wir selbstverständlich in die nähere Zukunft blicken und uns damit auch in die Weite führen lassen. Dafür gibt es in der Tat wichtige Schritte und Daten, die uns auch tiefer in die Ökumene hineinführen können. Ich denke an den Ersten und Zweiten Ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin und 2010 in München. Die folgenden Kirchen- und Katholikentage sind so etwas wie eine Brücke in das Morgen hinein. Am Horizont steht aber ein Thema, das uns nun immer intensiver beschäftigen wird, nämlich die 500. Wiederkehr des Ausbruchs der Reformation 1517/2017. Vielleicht werden wir Katholiken zum ersten Mal in der - von der Ökumene her gesehen - gewiss nicht so einfachen Abfolge dieser Reformationsjubiläen dabei eine wichtige Rolle mitübernehmen, auch wenn wir nicht Veranstalter sind. Dann könnte auch ein solches Jubiläum ökumenisch sehr viel weiterführen. Wir sind bereits in vielen Gesprächen, an denen wir uns beteiligen.
Eine wichtige Grundfrage wird sein, wie wir die Reformation überhaupt und im besonderen auch die Person Luthers und der anderen Reformatoren einschätzen. Wir kennen natürlich eine gerade in der Moderne immer wieder mit Vorrang behandelte Perspektive, dass nämlich gerade der Ausbruch der Reformation als die Morgenröte einer neuen Zeit und als Geburt moderner Freiheit verstanden wird. Wenn über die Reformation gesprochen wird, ist dies bis heute ein Hauptthema der Rede über die Reformation. Ich will diese Perspektive selbstverständlich weder leugnen noch geringschätzen. Aber es kann eine Hilfe sein, wenn in neuerer Zeit andere thematische Schwerpunkte die bisherige Sicht grundlegend ergänzen. Dabei geht es auch darum, dass Luther sehr viel stärker im Gesamtkontext der spätmittelalterlichen Geschichte und Kirche gesehen wird. Dies gilt z.B. besonders für die Mystik, aber auch für das Verhältnis zum monastischen Erbe, ja zur spätmittelalterlichen Theologie überhaupt. Bei diesem Thema geht es jedoch grundlegend um das Verhältnis Luthers und der reformatorischen Kirchen zur umfassenden einen Kirche durch die Jahrhunderte. Dies ist insgesamt eine erstaunlich wenig behandelte Frage. Es genügt nicht nur der Blick, der in der Reformation die Initialzündung zur Moderne sieht, in ihr auch nicht nur eine elementare und ursprüngliche Wiederentdeckung des Paulinismus erblickt, sondern es geht um diese Einfügung in die ganze Kirche mit ihrer vollen Tiefe und Breite. Mehr als eine Andeutung kann dies freilich nicht sein. Im Übrigen können eine stärkere Beschäftigung mit der Gemeinsamkeit in der Auffassung der Grundlegung des christlichen Lebens in Glaube und Taufe und ein stärkeres Bemühen um den Gottesdienst, einschließlich des Sonntags und der Sonntagsheiligung (mit Gottesdienstbesuch!) wichtige Elemente und Konsequenzen dieses Weges in die Zukunft sein.
Wie soll es weitergehen? Zunächst einmal müssen wir offen und aufrichtig die Situation bedenken. Ökumenische Gewissenserforschung tut not. Aber dann müssten wir auch endlich intensiver die Themen angehen, die wir schon seit längerer Zeit immer wieder umgehen, wenngleich durchaus in der Ökumenischen Theologie einiges geschieht. Die Bewegungsform des Fortschritts in der Ökumene muss mehr Beachtung finden. Man bedenke nur den Reichtum an Einsichten, die in den vielen Tausenden Seiten in den vier Bänden „Dokumente wachsender Übereinstimmung" gesammelt sind. Wenn bestimmte Einsichten in anderen Kontexten und Regionen bestätigt und wiederholt werden können, ist dies kein Leerlauf oder ein Stillstand, sondern es ist eine wichtige Form der Vergewisserung und der größeren Konsensfindung. Dazu gehören eben nun auch einmal Kirche und Kirchesein, in diesem Kontext auch die Ämter und die Sakramente, das Verhältnis von Offenbarung bzw. Kirche und Recht, besonders Kirche und Rechtfertigung. Es wird aber auch Zeit - ich habe dies schon gesagt und wiederhole es -, dass wir uns mit einem zentralen Thema beschäftigen, das am Anfang unserer Existenz steht, und das wir gemeinsam sträflich vernachlässigen, nämlich Christwerden durch Glauben und vor allem auch Taufe. Dieses Thema hat viele Aspekte, die heute ganz besonders dringend sind. Die erwähnte Feier der Taufanerkennung vom 29. April 2007 in Magdeburg sollte dabei eine große Hilfe sein.
Im Lauf der letzten Jahre ist mir immer wieder ein wichtiges Grundgesetz des ökumenischen Miteinanders in den Sinn gekommen. Gerade wenn man das eigene Profil stärker betont, wie es auch z.B. durch die Hervorhebung der Luther-Übersetzung der Bibel geschieht, gibt es ein gutes Kriterium, nämlich, ob wir uns freuen können an der Stärke des Anderen, nicht nur z.B. an der Musik von J. S. Bach, sondern auch am Wiedererstehen der Frauenkirche in Dresden. Aus dieser Anerkennung des Anderen und vielleicht zuerst oder manchmal auch auf längere Strecke Fremden, wird echte und nachhaltige Gemeinschaft, die uns im Geist Jesu Christi enger zusammenführt. Für mich ist eine ernsthafte Fortsetzung des Austausches der Gaben zwischen uns das Gebot der Stunde, nicht allein die „Ökumene der Profile". Es gibt aber auch große gemeinsame Gestalten, die uns auf dem Weg begleiten, wie z.B. Roger Schutz, dessen tragischer Tod uns nicht von seinen bleibenden Impulsen trennen darf. In diesem Zusammenhang möchte ich auch das große ökumenische Vermächtnis der beiden großen Blutzeugen unserer Kirchen aus nationalsozialistischer Zeit in Erinnerung bringen, nämlich Dietrich Bonhoeffer und Alfred Delp.
Es bleibt das Gebet für die Einheit. Nichts ist wichtiger als die gemeinsame Fürbitte an den Herrn. Der einstige Generalsekretär der Bewegung für Glaube und Kirchenverfassung, Oliver Tomkins, hat es einmal so formuliert: „Selbst angesichts der tiefen Spaltungen ... finden die Herzen vieler Christen ihre tiefste Gewissheit, dass der Pfad zur Einheit nicht für immer verschlossen sein wird, in der Tatsache, dass das ernste Gebet in diesem Geiste bereits ein wachsendes Heer in allen Konfessionen vereinigt. Andere Waffen mögen stumpf werden, aber niemand kann die Wirksamkeit dieser Waffe des selbstverleugnenden Gebetes bezweifeln, auch wenn wir ihre Wirkung nicht ermessen können."
Dies gilt aber nicht nur für feierliche, seltene ökumenische Gottesdienste, sondern für den Alltag und die Normalität unseres Lebens. Es gibt vieles, was wir sofort könnten und was uns nicht verwehrt ist. Ich denke an die gemeinsame Lesung und Auslegung der Heiligen Schrift, gerade auch im Blick auf den Alltag des Glaubens. Warum schweifen wir oft in die Weite, wo das Gute doch so nahe liegt? Warum nutzen wir nicht auch das, was sofort und ohne Konflikt angepackt werden kann! Ökumene ist nichts Extravagantes, sondern muss intensiv den Alltag durchdringen und beherrschen.
Am Schluss mag noch eine kleine Überlegung stehen, die mich immer wieder beschäftigt, auch wenn ich sie selten oder gar nicht öffentlich ausgesprochen habe. Ich habe in den Jahrzehnten seit dem Konzil und seit einer intensiveren Beschäftigung mit ökumenischen Fragen, nämlich seit 45 Jahren, bei nicht wenigen großen Lehrern und Freunden aus der eigenen Kirche und der Ökumene die Klage vernommen, warum es denn nicht zu ihren Lebzeiten möglich sei, die Einheit der Kirche zu verwirklichen. Sie haben viele Schuldige für diese Verzögerung gesucht. Ich muss gestehen, dass ich diese „Naherwartung" nicht hatte, auch wenn ich den Einsatz für das Zusammenwachsen der Kirchen für eine ganz vordringliche Aufgabe halte. Ich habe dann immer wieder gesucht und gefragt, ob ich nicht zu träge bin oder nicht mehr genügend Schwung der Hoffnung habe. Beim Nachdenken bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass es verschiedene Stile und Gestalten ökumenischer Hoffnung gibt. Darum bin ich auch überzeugt, dass man diese Pluralität der verschiedenen Hoffnungsformen achten muss.
Dabei denke ich neben anderen Vorbildern vor allem an die Gestalt des Mose, der dem verheißenen, gelobten Land entgegenwandert. Er hat für sein Volk alles getan, um es zur Erfüllung dieser Verheißung zu führen. Aber er selbst konnte dieses gelobte Land nicht mehr betreten. Vorher zeigte ihm der Herr das verheißene Land vom Gipfel des Nebo her: „Ich habe es dich mit deinen Augen schauen lassen. Hinüberziehen wirst du nicht. Danach starb Mose, der Knecht des Herrn." (Dtn 34,3f.). Dies ist gewiss auch in der Zeit des neuen Bundes und der Kirche eine wichtige Gestalt der Hoffnung und der Einlösung der Verheißungen. Wenn wir alles getan haben, sind wir immer noch unnütze Knechte, die ihre Schuldigkeit getan haben (vgl. Lk 17,10). Aber dies wollen wir gerade auch im Rückblick auf das Zweite Vatikanische Konzil mit Freude an der größeren Wahrheit und an jeder gefundenen Gemeinsamkeit tun.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Im Original sind eine Reihe von Fußnoten und Anmerkungen enthalten.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz