In unserer schnelllebigen Zeit gibt es nicht so viele Ereignisse, die auch noch ein Jahr danach immer noch schrecklich-entsetzlich lebendig in unserem Bewusstsein sind wie die Terror-Angriffe in New York und Washington am 11. September 2001. Ob sie wirklich nachhaltig die Welt verändert haben, wissen wir noch nicht. Es ist uns in jedem Fall aufgegeben, immer wieder über die Folgen nachzudenken und Maßnahmen zu ergreifen, dass sich solche Dinge nicht mehr wiederholen.
Dabei ist es gut, wenn wir uns nicht nur von den momentanen Gefühlen oder von politischen Berechnungen leiten lassen, sondern einen längeren Atem haben. Dabei können uns religiöse Grunderfahrungen helfen, wie sie auch in den Texten dieses Gottesdienstes zu Gehör kommen.
Wir haben eine Passage aus dem zwölften Kapitel des Römerbriefs gehört. Es scheint sich zunächst um eine Anhäufung einzelner ethischer Verhaltensweisen und Normen zu handeln. Die erste Hälfte bezieht sich dabei auf den Umgang miteinander im Innenbereich der christlichen Gemeinden (vgl. 12,9-16), die zweite Hälfte (12,17-21) betrifft stärker die Beziehung der Christen zu den Nichtchristen in ihrer Umgebung. Dabei fällt auf, dass Paulus so gut wie nicht – wenigstens direkt – auf Jesus-Worte, aber sehr häufig auf die jüdisch-biblische und frühchristliche Gesamtüberlieferung zurückgreift, die auch Parallelen hat in der griechisch-römischen Gegenwart.
Es ist jedoch nicht so, dass die Ausführungen des Paulus zusammenhanglos sind. Er gibt eine gewisse Ordnung zu erkennen, wenn man den Anfang, die Mitte und das Ende unseres Textes ins Auge fasst: „Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten." (12,9b); „Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Seit auf Gutes bedacht vor allen Menschen." (12,17); „Lass dich vom Bösen nicht besiegen, sondern besiege das Böse mit dem Guten." (12,21) Dies ist eine ganz entscheidende Aussage: Das Böse, das zweifellos auch mit seiner ganzen Wucht und Verblendung am 11. September 2001 in Erscheinung getreten ist, ist und bleibt Böses, das wir nicht in irgendeiner Weise verharmlosen oder umdeuten dürfen. Darum gehören Entschiedenheit und Aufmerksamkeit in seiner Abwehr zur angemessenen und notwendigen Reaktion.
Aber nicht weniger klar ist, dass wir das Böse nicht mit gleicher Münze heimzahlen dürfen und uns nicht durch Aggressionen zum Bösen reizen lassen dürfen. Es ist ganz entscheidend, dass Paulus uns Rache und Vergeltung verbietet. Er steht dabei in einer großen Übereinstimmung mit dem religiösen Erbe des Judentums und des frühen Christentums, ja auch des Korans. In aller Eindeutigkeit heißt es in den Sprichwörtern (20,22): „Sag nicht: Ich will das Böse vergelten. Vertrau auf den Herrn, er wird dir helfen." In den Qumran-Schriften steht: „Nicht will ich jemandem seine böse Tat vergelten, mit Gutem will ich jeden verfolgen" (1QS 10,18). In den Midraschim ist zu lesen: „Ich will ihm Gutes anstatt Böses vergelten..." (Midr Psss 41,11). Auch in der frühchristlichen Verkündigung ist dies eine konstante Aussage: „Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergilt, sondern bemüht euch immer einander und allen Gutes zu tun." (1 Thess 5,15, vgl. 1 Petr 3,9) Auch der Koran fordert in einer vielleicht überraschenden Übereinstimmung ein solches Verhalten: „Die gute Tat ist nicht der schlechten gleich(zusetzen). Weise die (Übeltat) mit etwas zurück, was besser ist (als sie), und gleich wird derjenige, mit dem du (bis dahin) verfeindet warst, wie ein warmer Freund (zu dir) sein. Aber dies (d.h. die Fähigkeit Böses mit Gutem zu vergelten und dadurch aus einem Feind einen Freund zu machen), wird nur denen dargeboten, die geduldig sind – nur einem, der großes Glück hat." (Sure 41,34, Übersetzung von R. Paret, Stuttgart 1979, 337; vgl. damit auch Röm 12,12: „Seit fröhlich in der Hoffnung, geduldig in der Bedrängnis, beharrlich im Gebet!")
Die Bibel ist nicht leichtfertig oder träumerisch. Sie redet nicht von einer Weltverbrüderung, aber sie verlangt „gegenseitige Achtung" (Röm 12,10). Es gibt also durchaus bleibende Verschiedenheiten. Sehr nüchtern wird auch gesagt: „Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden!" (12,18) Die Bibel geht jedoch in ihrer Begründung noch weiter. Die Rachegefühle der Menschen sind stark und manchmal nicht zu bremsen. Darum wird mit aller Deutlichkeit gesagt, wir Menschen dürften uns grundsätzlich das Recht nicht eigenmächtig zurückholen. Wir müssen das Gericht Gott überlassen: „Mein ist es, Recht zu verschaffen, ich werde vergelten." (Dtn 32,35, zitiert in 12,19) Jede Vergeltung ist unfähig, den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt wirklich zu sprengen. Wenn wir die letzte Gerechtigkeit Gott überlassen werden wir auch von aller eigenmächtigen Gewalt entlastet.
Natürlich heißt dies nicht, wir sollten passiv alles laufen lassen. Wir müssen überführte Terroristen ihrem irdischen Richter zuführen. Aber der biblische Glaube erblickt von Anfang an in jeder bloßen menschlichen Vergeltung nur die verhängnisvolle Steigerung der Gewalt. Wie kann man aber den Hexenkessel des ständig selbstzeugenden Bösen verlassen? Paulus erinnert an unglaubliche Aussagen unserer biblischen Tradition: „Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken; tust du das, dann sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt." (12,20 bei Zitation von Spr. 25,21f.) Dies ist die Zumutung der biblischen Offenbarung. Das Bild von den „glühenden Kohlen", die man durch das Tun des Guten auf dem Haupt des Gegners sammelt, stammt wohl, wie Siegfried Morenz nachgewiesen hat (vgl. ThLZ 1953), aus einem ägyptischen Sühneritus: ein schuldig Gewordener legt sich zum Zeichen seiner Sinnesänderung ein Becken mit glühenden Kohlen auf den Kopf (vgl. auch Ps 120,4; 140,11). Eine Wohltat kann den Widersacher besser gewinnen. Wir werden auch gewarnt, schuldig gewordene Menschen einfach davonzujagen und auszuschließen. Auch hier sollten wir nicht Gastfreundschaft einfach aufkündigen: „Gewährt jederzeit Gastfreundschaft!" (12,13) Sie hat in der biblischen Tradition einen sehr hohen Rang. So kann man im babylonischen Talmud sogar lesen: „Die Gastfreundschaft ist größer als die Begrüßung der Schekhina (= der Herabkunft Gottes im Tempel)" (Schab 127a) Wir werden dadurch wenigstens gewarnt, im bloßen Ausweisen und ähnlichen Maßnahmen allein das Heil zu sehen.
Es geht also nicht bloß um das geduldige Erleiden, sondern um das aktive Tun des Guten. Dieses äußert sich im Vermeiden von Rache und im Dienst am Frieden, zu dem auch die schon seit Jahrzehnten geforderte Revision einer Welthandelsordnung und eine Befriedung des Nahen Orients und seiner Konflikte gehören. Wir sollen die Gerechtigkeit in Gottes Hand legen. Das Gute setzt sich am Ende durch, jetzt aber sind wir gefordert, Unrecht nicht mit Unrecht zu vergelten, wie die Weisheitsliteratur mit der ganzen Bibel immer wieder fordert. Wir verharmlosen damit nicht geschehenes Unrecht und verfallen nicht der Illusion einer guten Welt, aber wir werden frei, um mitten im Kampf und Streit Gutes anstatt Böses zu tun. Vielleicht können wir in der Tat den Gegner nur so zurückgewinnen.
Es braucht nicht viele Worte, um darzulegen, dass diese Sicht der biblischen Tradition in Jesu Wort und Leben sogar noch gefiltert und gereinigt wird, auch wenn kein förmliches Zitat Jesu erscheint. Es ist sein Geist des Verzichts auf Gewalt (vgl. Lk 6,27f., Mt 5,39-42).
Die Christen in Rom, an die Paulus schreibt, waren damals in einer prekären Situation. Nachdem sie sich von der Synagoge gelöst hatten, waren sie rechtlos und wurden schließlich auch verfolgt. Aber ihre Reaktion ist bis heute mustergültig und in einzigartiger Weise herausfordernd: „Segnet eure Verfolger; segnet sie, verflucht sie nicht!" (12,14) Paulus erwartet von uns, dass wir dafür Leidenschaft aufbringen, um unsere Welt zu ändern: „Lasst nicht nach in eurem Eifer, lasst euch vom Geist entflammen und dient dem Herrn!" (12,11) Wir brauchen den ganzen Einsatz für den Frieden mit Leid und Seele. Wo nichts brennt, gibt es auch kein Licht! Amen.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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