Papst Franziskus. Wider die Trägheit des Herzens

Vorstellung des Buches von Daniel Deckers

Datum:
Mittwoch, 10. Dezember 2014

Vorstellung des Buches von Daniel Deckers

München 2014, (Verlag C. H. Beck, 352 Seiten) in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland beim Hl. Stuhl am 10. Dezember 2014

Obgleich den meisten Menschen innerhalb und gewiss weniger außerhalb der Kirche deutlich ist, was das Papsttum und das Amt des Papstes bedeuten, ist Papst Franziskus für viele ein Geheimnis und zugleich ein Rätsel. Man sieht es auch an den Titeln der Bücher über ihn: „Schicksalswahl des neuen Papstes", „Die Herausforderung des Christentums zwischen Krise und Hoffnung", „Ein radikaler Papst", „Papst der Überraschungen", „Vom Reaktionär zum Revolutionär". Noch deutlicher sind Deutungen und Wertungen: „Die franziskanische Wende", „Krise und Zukunft der Kirche", „Leben und Revolution", „Zeichen der Hoffnung", „Leben und Herausforderungen", „Offenheit und Bescheidenheit".

Trotz vieler bekannter Daten und Anekdoten werden die Fragen „Wer er ist, wie er denkt, was ihn erwartet" auch heute noch am besten von einer Biografie im klassischen Sinne beantwortet - einer Biografie, in der nicht fragmentarisch und fetzenhaft ein Leben in aufregende oder unterhaltsame Einzelbilder zerlegt wird, sondern eine Lebensgeschichte in ihren vielfältigen Facetten kontinuierlich nachvollzogen und dargestellt wird. Unter vielen biografischen Versuchen seit der Wahl von Papst Franziskus am 13. März 2013 ragt das Buch von Daniel Deckers „Papst Franziskus. Wider die Trägheit des Herzens" hervor, das in diesem Herbst im Umfang von 352 Seiten im Verlag C. H. Beck in München erschienen ist. Es trägt bewusst einen zweiten Untertitel: Eine Biografie.

Die Wahl des Erzbischofs von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio, muss vielleicht zuerst im Reigen der letzten Päpste gesehen werden. Nach den großen italienischen Nachfolgern Petri wurde nach vielen Jahrhunderten mit Johannes Paul II. ein Pole, also ein Nichtitaliener, und mit Benedikt XVI. zum ersten Mal seit dem 16. Jahrhundert ein Deutscher gewählt. Lange schon hatte man auch auf einen Nichteuropäer gewartet oder ihn ersehnt. Und jetzt sagt ein südamerikanischer Papst selbst, er sei „vom Ende der Welt" gekommen, löst Überraschungen aus und weckt große Neugierde. Dr. Daniel Deckers, Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", führt uns in seiner sehr gelungenen Biografie näher an das Geheimnis des Mannes „vom Ende der Welt" heran.

Das Bild des neuen Papstes aus Lateinamerika wird immer wieder von der Frage aus beleuchtet, wie es denn in dieser weiter zugespitzten Moderne mit der Kirche weitergeht. Krise, Hoffnung und Aufbruch sind die zentralen Stichworte in diesem Kontext. Der neue Papst hat sich zum ersten Mal in der Papstgeschichte - und dies sehr bewusst - den Namen Franziskus, des Heiligen aus Assisi, gegeben. Diese Namenswahl umschreibt Daniel Deckers mit den Worten: „Der Heilige aus Assisi, der den Vögeln predigte, der sein gutes Leben als Kaufmannssohn gegen das bessere eines Armen eingetauscht hatte, der hatte - so sprach der Papst einige Monate später vor hunderttausenden Jugendlichen während des Weltjugendtages in Brasilien - von Gott den Auftrag erhalten: ‚Baue meine Kirche wieder auf.‘" (21).

Es ist ein spannendes Buch geworden, nicht nur weil Daniel Deckers frisch und lebendig schreibt, sondern weil auch Papst Franziskus selbst eine spannungsvolle Existenz ist. Vieles, was für uns sonst eher auseinanderfällt oder Widersprüche erzeugt, lebt hier in einem konkreten Menschen mit Fleisch und Blut. Gewiss ist Lateinamerika und besonders die argentinische Hauptstadt seine bleibende Heimat. Er hat die Impulsivität, Spontaneität und das Temperament eines Südamerikaners. Diese halten ihn äußerst lebendig, reich an zündenden Ideen, rasch bereit auch zum Protest, sorgen aber auch für hintergründigen Humor, der immer wieder in seinen lebendigen Augen aufblitzt. Bergoglio liebt seine sozial und kulturell so spannungsvolle, ja manchmal explosive Heimat Buenos Aires, die er seinerzeit selten zu Reisen verlassen hat. Als Erzbischof dieser Hauptstadt wird er immer wieder sagen, diese Erzdiözese sei seine Braut, der er treu ist. Daniel Deckers zeigt aber auch, wie sehr das italienische Erbe der Familie Bergoglio in Kultur und Glauben dieses Leben bestimmt bis hinein in den piemontesischen Akzent der Sprache. Immerhin war der Vater ja noch in Italien geboren. Auch Bergoglios Mutter, die der Vater bald nach seiner Ankunft in Argentinien kennenlernte und heiratete, hatte italienisches Blut in sich. In keinem anderen Land der Welt lebten außerhalb ihrer angestammten Heimat so viele Italiener wie in Argentinien. Auch in der Leitung der Weltkirche gab es schon früher bis heute nicht wenige tüchtige - wie man so sagt - Italo-Argentinier. Argentinien war damals ein erfolgsversprechendes Land für Einwanderer.

Aber man darf sich nicht täuschen: Die Auswanderer-Familie lebt ganz intensiv in der argentinischen Hauptstadt und übernimmt die spanische Sprache. Jorge Mario, am 17. Dezember 1936 geboren, hat vier Geschwister. Er hat die argentinische und die italienische Staatsbürgerschaft. Er lebt wie viele gleichaltrige Freunde. Nach der Schulzeit erwirbt er das Diplom als Chemietechniker. 1956 tritt er in das diözesane Priesterseminar ein, nachdem er glücklich eine lebensbedrohliche Krankheit überwunden hatte, die mit einer Operation des rechten Lungenflügels verbunden war. Diese Erfahrung von Leid und Schmerz mit dem Blick auf Jesu Kreuz verwandelte ihn mit dem Empfang einer regelrechten Berufung, die ihn schließlich 1958 in den Jesuitenorden führte. Dies ist nicht so ungewöhnlich, wie es vielleicht heute bei uns scheinen mag. Der Jesuitenorden hat in Argentinien eine ganz eigene Geschichte und eine lange Tradition; er ist tief in dem Land verwurzelt.

Nun beginnt im Leben des jungen Bergoglio eine lange Ausbildung von beinahe 15 Jahren. Er lernt im Noviziat in Córdoba (Argentinien) die Geschichte und die Spiritualität des Ordens kennen. Es ist von beiden Seiten, von den Novizen und vom Orden her, eine Prüfung, ob der Novize sich wirklich für ein ganzes Leben an den Orden binden will und ob der Orden den Neuzugang wirklich für geeignet hält. Die erste Phase des Studiums, vor allem der humanistischen Studien und der Philosophie, absolviert Bergoglio in Chile und schließlich in Argentinien. Es ist für ihn immer bezeichnend, dass er sich neben der Philosophie und Theologie bis heute für Literatur und Psychologie interessiert, weil er offenbar den Menschen noch besser auch auf diesen Wegen kennen lernen will. Dies führt ihn später zu Kontakten mit wichtigen Schriftstellern, wie z.B. Jorge Luis Borges (50f., 82). Als er das Studium der Theologie (1967-1970) in Argentinien am berühmten Kolleg der Jesuiten in San Miguel abschließen kann, wird er im Dezember 1969 zum Priester geweiht. Er ist jetzt nach der langen Ausbildung des Jesuitenordens 33 Jahre alt. Darauf folgt die dritte und letzte Prüfungszeit bei den Jesuiten, bevor ein Priester in den Orden eingegliedert wird, nämlich das Terziat. Diese Zeit (1970/71) verbringt Bergoglio vor allem in Spanien. Er hat in dieser Zeit auch viele Noviziate in Lateinamerika, z.B. in Kolumbien und Mexico, aber auch in Europa besucht. Endlich mit 36 Jahren legt er 1973 die ewigen Gelübde ab.

So lange das Studium und die gesamte Ausbildung bei den Jesuiten auch war, ab diesem Zeitpunkt ging im Leben von Bergoglio alles viel schneller. Zunächst wurde er Novizenmeister und wurde bereits kurze Zeit später, mit nur 37 Jahren für sechs Jahre zum Provinzial für Argentinien gewählt. Über die Prüfungen in dieser Zeit wird noch die Rede sein.

Die lange Ausbildungszeit hat Bergoglio vor allem theologisch und spirituell, ganz gewiss auch menschlich und als Priester besonders tief geprägt. Daniel Deckers zeigt dies immer wieder in den recht verschiedenen Phasen der künftigen Tätigkeiten auf. Es ist ein ganzes Bündel von Eigenschaften, die nun viel stärker erkennbar werden und bis heute in seiner Disziplin und Lebensführung sichtbar bleiben. Bis in viele Einzelheiten hinein spürt man insbesondere die Prägung durch die Exerzitien, die Geistlichen Übungen des hl. Ignatius. Bis heute sind die Spiritualität und Predigten des Papstes tief davon bestimmt. Dies gilt z.B. für seine Gedanken am Morgen in der Kapelle des Gästehauses Santa Marta: kurz, einprägsam, frisch, aufrüttelnd und aufmunternd. Dies gilt auch für die Audienzen am Mittwochmorgen auf dem Petersplatz und für das Angelusgebet am Sonntagmittag. „Woche für Woche gingen vom Petersplatz Bilder, Gesten und Worte des Papstes um die Welt. Franziskus, wie er das von Krankheit entstellte Gesicht eines Mannes streichelt, Franziskus, wie er einen argentinischen Priester in der Menge erspäht und mit ihm einige Worte wechselt, Franziskus, wie er ein Kleinkind in Papstmontur herzt ... Mehr als 6,6 Millionen Menschen werden die Generalaudienzen während der ersten 12 Monate des Pontifikates von Jorge Maria Bergoglio besuchen, mehr als je zuvor in einem vergleichbaren Zeitraum ... Seine Worte gehen zu Herzen, seine Sprachbilder prägen sich ein" (303).

Wenn man die ignatianische Spiritualität kennt, findet man auf Schritt und Tritt ihre Spuren in den Predigten, Ansprachen und Verlautbarungen des Papstes Franziskus. Das Leitwort „Gott finden in allen Dingen" treibt ihn unermüdlich an, überall die Wege des Menschen zu verfolgen und die Spuren Gottes in ihnen zu suchen. Dabei bewegt ihn zuerst die Sorge um alle Bedrängten, Verwundeten und Armen. Darum hat er auch eine ganz grundlegende Offenheit zu allen Menschen. Das schon bei Ignatius vorhandene Motto vom Suchen und Finden ist nichts anderes als die missionarische Seelsorge, die bei allen pastoralen Konzepten unserer Zeit in der Mitte steht. Es ist nicht zufällig, dass Bergoglio die Offenheit und Beweglichkeit, die von Anfang an in der Art und Weise der Seelsorge, wie sie Ignatius und die ersten Gefährten betreiben, in einem hohen Maß nutzt. Zugleich hat man das Empfinden, dass Bergoglio diese Zugangsweise und den Umgang mit Menschen ganz besonders mit der Spiritualität aus dem Geist des hl. Franziskus von Assisi verbindet, näherhin besonders mit Bescheidenheit und Demut. Mir scheint, dass in dieser persönlichen Synthese das Charisma von Papst Franziskus liegt. Er wendet es nach allen Seiten an. So gibt er Rechenschaft seines Glaubenszeugnisses, das den allgemeinen wirksamen Heilswillen Gottes konkret ernst nimmt und dabei jedem Menschen mindestens eine Anfangschance schenkt. Dies alles ist eine besondere Gabe des Priesters und Jesuiten Bergoglio an die Kirche dieser Zeit. Von hier aus ist auch leicht verständlich, warum das Bild und das Motiv des Hirten und zumal des Guten Hirten in der Spiritualität des Papstes sehr zentral ist.

Seelsorge geschieht nie im leeren, unbestimmten Raum. Bergoglio ist von Anfang an sehr sensibel gegenüber den sozialen und kulturellen Mitbedingungen des menschlichen Lebens. Er hat die Wirtschaftskrisen, das Elend vieler Menschen, aber auch die Verschwendungssucht vieler Eliten vor Augen. Es ist eine Stärke des Buches von Daniel Deckers, dass er diesen Hintergrund der sozialen Situation auch durch die Benutzung vieler politischer, historischer, ökonomischer und psychologischer Literatur immer wieder aufdeckt und sichtbar macht. Dies ist besonders verdienstvoll, weil dieser Blick hinter die Kulissen beim Papst fast selbstverständlich gegeben ist, uns jedoch meist unbekannt ist und auch fremd bleibt, sodass wir die Verwurzelung mancher Aussagen von Bergoglio in der realen Welt nicht gut erkennen können. Dafür ist die Hilfe vieler wissenschaftlicher Erkenntnisse notwendig. Man muss also z.B. um die Auswirkung von Weltwirtschaftskrisen und mehrerer Staatsbankrotte wissen, wenn man so scharfe und herausfordernde Aussagen verstehen will, wie das Wort von Papst Franziskus in „Evangelii Gaudium": „Diese Wirtschaft tötet." (vgl. Art. 53) Die hohe Sensibilität von Bergoglio besteht gerade darin, dass er zuerst den lauten und erst recht den stillen und verborgenen Schrei des Menschen in der Not vernimmt, bevor eine tiefer kreisende Reflexion darüber beginnt. Er ist zuerst und zunächst Pastor, „Hirte" der Kirche, auch wenn dies andere Aufgaben nicht ausschließt. Sie gründen alle auf diesem Fundament.

Daniel Deckers arbeitet in seiner Biografie auch sehr genau den theologischen Standort von Papst Franziskus heraus. Man hat gelegentlich bei ihm eine „Theologie der Befreiung" vermisst. Wenn man einen sehr allgemeinen und unbestimmten Begriff dieser theologischen Richtung meint, trifft dies zum Teil auch zu. Aber es war auch ihre Schwäche, dass sie bei der notwendigen Analyse der Ursachen der sozialen Misere in den lateinamerikanischen Gesellschaften angesichts des Fehlens geeigneter und treffsicherer Instrumente manchmal in den Sog marxistischer Theorieelemente geriet. Dies war nicht die Übernahme marxistischer Ansätze, sondern - aus der Not geboren - die Anwendung einzelner Elemente, da andere Theorien entweder nicht geeignet waren (wie z.B. die Dependenz-Theorie) oder gar grundsätzlich fehlten. In Argentinien war man grundlegend skeptisch in dieser Richtung. Aber man war sich im Blick auf die Kernmitte der Befreiungstheologie einig, die „Option für die Armen". Es war vor allem der argentinische Theologe Lucio Gera, der nach seiner Promotion in Bonn (1955) und gewiss nicht ohne Kontakt mit den Grundlagen des Peronismus eine „Theologie des Volkes" ausarbeitete. Damit ist zunächst die Volksfrömmigkeit angesprochen, vor allem in jenen Tiefenschichten der ländlichen und dörflichen Traditionen, aus denen sich wichtige soziale Verhaltensweisen ergeben. Daniel Deckers versucht in einem besonders geglückten Kapitel die Zusammenhänge dieser Bewegung mit der lateinamerikanischen Erneuerung nach dem Konzil und auch mit dem jungen Bergoglio zu klären (83-103). Es ist nicht einfach, bei den dürftigen schriftlichen Quellen aufzuzeigen, wie weit Bergoglio an diesen Aufbrüchen persönlich teilgenommen hat. Daniel Deckers nützt - soweit ich sehe - alle bisher vorhandenen Quellen.

Wir kehren wieder zurück zum Lebenslauf von Bergoglio. Wir sprachen schon davon, dass er bald nach seiner Priesterweihe im Jahr 1973 Provinzial wird. Die darauf folgende Zeit gehört ganz gewiss zu den schwierigsten Phasen seines Lebens, wie er selber immer wieder sagt. Zu dieser Zeit konnte er freilich noch nicht ahnen, dass ihm eine so schwere Zeit seines Lebens bevorstehen sollte. Diese Zeit verfolgt ihn bis heute und wirft noch manche Fragen auf. Immer wieder tauchen zwei Anschuldigungen auf: Bergoglio habe mit dem Regime der argentinischen Militärdiktatur kollaboriert und zwei Jesuitenpatres, Franz Jalics und Orlando Yorio, fallen gelassen (134-145). Außerdem sollen ihm Fälle von Babyraub bekannt gewesen sein. Ein zweiter Vorwurf lautet, dass er seine Glaubensbrüder in den ersten Jahren der Militärdiktatur aufforderte, sie sollten sich auf ihre kirchlichen Aufgaben konzentrieren. Den Widerstand gegen das brutale diktatorische Regime habe er nicht als Aufgabe der Kirche angesehen. Daniel Deckers geht sorgfältig allen Anschuldigungen nach. Hier muss ich auf das Buch selbst verweisen (vgl. bes. 140ff.). Es ist ein dichtes Gestrüpp von ständigen Anschuldigungen, die - ähnlich wie manches in der Zeit des Nationalsozialismus - nicht immer sofort vollkommen aufgelöst werden können. Das Buch von Daniel Deckers hält sich jedoch von vielen Vermutungen frei und kann den Vorwurf weitgehend entkräften, Bergoglio gehöre zu den Hirten, die ihre Schafe zur Schlachtbank geführt hätten. Dies schließt freilich nicht aus, dass eine beträchtliche Anzahl anderer argentinischer Bischöfe zwar nicht mit den Militärs kollaborierte, aber doch „mehr oder weniger sympathisierte" (144).

In diesem Licht besteht kein Zweifel, dass der relativ junge Provinzial in den Jahren von 1973 bis 1979 eine schwere Zeit überstanden hat. Er gibt dann nach den satzungsmäßig vorgesehenen sechs Jahren sein Amt ab. In den folgenden Jahren wird er Rektor des Kollegs in San Miguel und Pfarrer der naheliegenden Pfarrei. Die weiteren Ereignisse lassen sich rasch nennen: 1985 zweimonatiger Sprachkurs am Goethe-Institut in Boppard am Rhein und Studienaufenthalt an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main (1986) mit der Absicht, eine theologische Dissertation über Romano Guardini zu schreiben. Er kehrt aus verschiedenen Gründen bald nach Argentinien zurück - jedenfalls kam früher als gedacht eine neue Berufung seines Ordens - und wird als Seelsorger und Spiritual tätig. Hier fand er jedenfalls seine ursprüngliche Berufung.

Am 20. Mai 1992 wird Bergoglio durch Papst Johannes Paul II. zum Weihbischof in Buenos Aires ernannt. 1997 wird er am 3. Juni Koadjutor des Erzbischofs Quarracino. Bereits ein gutes halbes Jahr später starb der Erzbischof 1998 im Alter von 74 Jahren. Am 28. Februar 1998 wird Bergoglio sein Nachfolger, also Erzbischof von Buenos Aires und Primas von Argentinien. Er bleibt auch als Bischof ein einfacher Seelsorger und ein Anwalt der Armen. Man erzählt sich viele Geschichten über ihn von seiner Bescheidenheit, Hilfsbereitschaft und Aufopferung. Er kümmert sich vor allem um die Elendsviertel der riesigen Großstadt, in die sich viele Mitbürger gar nicht hineintrauen. Über schlammige Wege begibt er sich zu einer kleinen Kapelle. Immer wieder stellt er fest: Die Gesellschaft sieht an den Armen, Schwachen und Kranken vorbei. Er selbst spricht mit Drogenabhängigen und besucht AIDS-Hospize. Er sucht die Nähe zu den Armen und Benachteiligten. Berühmt werden die Fußwaschungen an Kranken und Drogenabhängigen. Vor allem ist und bleibt Bergoglio ein Mann des Gebetes (218).

Am 21. Februar 2001 wurde er durch Papst Johannes Paul II. zum Kardinal erhoben und musste nun öfter nach Rom reisen, um als Mitglied an einigen Kongregationen mitzuwirken. Er wurde im Oktober 2001 zum Generalrelator der römischen Bischofssynode ernannt, die über den bischöflichen Dienst handelte. Daniel Deckers macht auf eine wichtige Ansprache von Kardinal Bergoglio am 2. Oktober 2001 aufmerksam, in der das „Wachen" für das Amt des Bischofs eine große Rolle spielt (230ff.) Nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. am 2. April 2005 nahm der Erzbischof von Buenos Aires am Konklave teil, aus dem Kardinal Ratzinger als Papst Benedikt XVI. hervorging. Daniel Deckers schreibt, Bergoglio sei zwar ein wichtiger Kandidat gewesen, aber er sitze am Ende „zwischen vielen Stühlen. Den Bewahrern (und sei es nur ihrer Privilegien) ist er wegen seiner unüberhörbaren Kritik an einer pharisäerhaften und selbstreferentiellen Kirche nicht geheuer, den Erneuerern ist seine Vergangenheit ein Rätsel. Dieses Risiko scheint ihnen dennoch geringer zu sein als das Risiko, dass Joseph Kardinal Ratzinger als Papst die Geschicke der Kirche in den kommenden Jahren lenken könne. Sie halten an ihrem Kandidaten fest." (234). Über die Wahl selbst gibt es viele Spekulationen. Bergoglio jedenfalls fährt nach Buenos Aires zurück. Er wird für zwei Amtszeiten Vorsitzender der Argentinischen Bischofskonferenz (2005-2011).

Er muss 2007 seine Bischofsstadt für einige Wochen verlassen und an der V. Generalversammlung des Lateinischen Bischofsrates (CELAM) teilnehmen, die im größten Marienwallfahrtsort Brasiliens stattfinden soll, in Aparecida (235ff.). Er wird Vorsitzender des Redaktionskomitees zur Abfassung des Schlussdokumentes. Das Dokument gilt als „Magna Charta der katholischen Kirche in Lateinamerika. Doch ist ‚Aparecida‘ mehr als nur jener Text, den auch Papst Franziskus vielen seiner Besucher in die Hände drücken wird. Aparecida ist für Bergoglio wie für viele andere Teilnehmer eine Erfahrung - eine Erfahrung von Kirche, wie sie sein kann: Einer Kirche, die sieht, bevor sie urteilt, und handelt, nachdem sie gesehen und ein Urteil gefällt hat." (249) Der Text wird nochmals in Rom geprüft und erhält eine eigene Einleitung, die Substanz bleibt jedoch unverändert. Bergoglio sieht in diesem Text auch eine Bestätigung seiner geistlich-theologischen Orientierung. Er geht der Auseinandersetzung mit den Vertretern Roms in Aparecida nicht aus dem Weg. Die „argentinische Schule" der lateinamerikanischen Theologie hat schließlich den Sieg davongetragen. „Der Kardinal von Buenos Aires ist mit Aparecida endgültig aus dem Schatten der argentinischen Kirche herausgetreten. Er hat ein weithin unbemerktes, aber tragfähiges Netz aus Beziehungen geknüpft." (251) Dies darf als ein bemerkenswertes Vorzeichen für die Papstwahl 2013 gelten.

Am 13. März 2013 wird Bergoglio zum Papst gewählt. Er nimmt den Namen Franziskus an. Am 19. März findet die Amtseinführung statt (vgl. 263ff.). Was an diesem Abend des 13. März geschehen ist, erschließt sich jedoch auch kundigen Beobachtern erst nach und nach. Die unmittelbaren Ereignisse sind überall bekannt (vgl. 266ff.). Besonders bezeichnend ist für Bergoglio, dass er auf das soeben erschienene Buch von Walter Kardinal Kasper über die Barmherzigkeit aufmerksam macht. „Kardinal Kasper sagte, dass von der Barmherzigkeit zu hören, dass dieses Wort alles ändert. Es ist das Beste, was wir hören können: Es ändert die Welt. Ein wenig Barmherzigkeit macht die Welt weniger kalt und viel gerechter. Wir haben es notwendig, diese Barmherzigkeit Gottes gut zu verstehen, dieses barmherzigen Vaters, der so viel Geduld hat. Wir erinnern uns an den Propheten Jesaja, der sagt: Wären unsere Sünden auch rot wie Scharlach, so würde sie die Liebe Gottes weiß wie Schnee machen. Schön ist das, das mit der Barmherzigkeit!" (268f.).

Ich breche hier ab. Es gibt bei einem guten Buch eine Grenze des Berichtens. Man kann es am Ende nur selbst lesen. Dies ist durch nichts zu ersetzen.

Es gibt viele Bücher über Papst Franziskus in zahlreichen Sprachen. Ich habe ungefähr zehn zur Kenntnis genommen. Das Buch von Daniel Deckers hat mir bisher mit Abstand am meisten gegeben, aufgehellt und erschlossen.

Das Buch Daniel Deckers' ist sehr verständlich geschrieben und liest sich einfach und geradezu unterhaltsam. Es ist ein wohlwollendes, aber im Kern durchaus kritisches Buch. Es scheut nicht Fragen und gesteht auch Grenzen ein, wo unser Wissen noch dunkel ist und vielleicht auch so bleibt.

Daniel Deckers hat ein markantes Buch geschrieben, dem man auch einige Übersetzungen in die wichtigsten Sprachen der Welt wünscht.

Der renommierte Verlag C. H. Beck in München hat das Buch angemessen und würdig ausgestattet. Auch dies ist eine Gewähr für eine weite Verbreitung. So danke ich Autor und Verlag, ganz besonders aber der Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland, Exzellenz Frau Annette Schavan, dass ich das wertvolle Buch, dem ich - auch in Rom - viele Leser wünsche, hier vorstellen und uneingeschränkt empfehlen durfte.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

Es gilt das gesprochene Wort

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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