I.
Heute vor 50 Jahren - es war Pfingstmontag - starb um 19:49 Uhr Papst Johannes XXIII. Spätestens ab dem 20. November 1962 gab es Anzeichen einer aufkommenden schweren Krankheit. Schließlich ging alles rasch auf das Ende hin. Einige Jahre später schrieb ich in Erinnerung daran die Zeilen: „Es war eine große Traurigkeit. Ich habe nie so viele Menschen bis in die tiefe Nacht hinein auf dem Petersplatz gesehen wie in den letzten Tagen des Monats Mai und in den ersten Tagen des Monats Juni. Es wurde viel gebetet. Nicht wenige Menschen weinten. Sie hatten auch Sorge, wie das Konzil weitergehen sollte. Ein großer Teppich aus Nebel legte sich immer mehr auf die Stadt. Es war still. Die Welt war wie in ein großes Ster-bezimmer verwandelt. Viele beteten miteinander den Rosenkranz. Am 3. Juni 1963 um 19:49 Uhr starb der Papst. Nicht zufällig war Pfingsten.
Am Abend vor seinem Tod kam der Erzbischof von Mailand, Giovanni Battista Montini, der spätere Papst Paul VI., und brachte die Brüder des Papstes Giuseppe und Zaverio aus Sotto il Monte bei Bergamo, seinem Geburtsort, mit. Es hieß auch, er allein habe noch Zutritt zum sterbenden Papst und wohne im Vatikan. Es war ein unübersehbares Zeichen, wer der Nach-folger sein könnte.
Trotz aller Trauer gab es keine letzte Traurigkeit. Wir waren damals schon überzeugt, dass ein Heiliger unter uns gelebt hat. Die Herausgabe seines Geistlichen Tagebuches und anderer Schriften offenbarte es auf eigene Weise.
Wer war dieser Papst, der als Patriarch von Venedig am 28.10.1958 nach einem viertägigen Konklave im elften Wahlgang erwählt wurde und am 4. November, dem Fest des hl. Karl Borromäus, in sein Amt eingeführt wurde, den nicht so viele bei seiner Wahl kannten und der schon am 3. September 2000 selig gesprochen worden ist?
II.
Angelo Giuseppe Roncalli wurde am 25. November 1881 als Sohn des Kleinbauern Giovanni Battista Roncalli und seiner Frau Maria Anna Mazzola in einer Großfamilie in der Ortschaft Brusicco, Gemeinde Sotto il Monte (bei Bergamo) im italienischen Voralpenland, geboren. Drei Schwestern sind älter. Er ist der erste Sohn. Neun Kinder folgten, sodass es in der Fami-lie insgesamt dreizehn Kinder gab. Man kann sich leicht vorstellen, dass die Familie immer wieder um ihren Unterhalt kämpfen musste und die finanziellen Mittel spärlich waren. Am notwendigen Lebensunterhalt hat es freilich nicht gefehlt. Aber die Familie war eben doch arm, begehrte aber auch keinen Reichtum. Die Kinder wuchsen geborgen und zufrieden auf. Die Familie blieb dem Bauernstand treu.
Die Familie war von einer kraftvollen Frömmigkeit geprägt, wie sie in dem bäuerlichen Milieu auf dem Land nicht selten war. Brennpunkte waren das abendliche Rosenkranzgebet und der tägliche Besuch der Frühmesse. Roncalli hatte während seines ganzen Lebens eine enge Beziehung zu seiner Familie. Dies zeigt sich auch in zwei dicken Bänden, die von der frühesten Jugend bis zu seinem Tod sehr viele Briefe an die Familie enthalten. Aber er hat sich bei aller Liebe zu seiner Familie nie dazu hinreißen lassen, seine Familienangehörigen -von kleineren persönlichen Zuwendungen abgesehen - finanziell auf irgendwelchen Wegen zu fördern. Auch der Papst wünschte keine Veränderung der Stellung seiner Familienangehörigen. Diese haben seine Position auch nie dazu benutzt, selber aufzusteigen oder sich zu bereichern - nicht selbstverständlich, wenn man die Papstgeschichte seit dem Hochmittelalter auch nur ein bisschen kennt.
Sein wichtigster Biograf, Giuseppe Alberigo, kennzeichnet die bleibende Bedeutung dieser Familienzugehörigkeit folgendermaßen: „In seiner ruhigen Gelassenheit und seiner von hellwacher Aufmerksamkeit geprägten Spontaneität hat Roncalli sich niemals mit leichten Lösungen zufrieden gegeben, wie sie denkbar gewesen wären bei einem angesehenen und herablassenden Onkel Prälaten oder bei jemandem, der meint, sich im Namen eines echten Eifers für die eigene Sendung aus der Familiensolidarität zurückziehen zu dürfen. Mit natürlicher Schlichtheit und freimütiger Offenheit ist er nicht auf dieses Verhaltensmuster hereingefallen, und es ist ihm statt dessen gelungen, eine alltägliche Solidarität aufrechtzuerhalten und an den wirtschaftlichen und seelischen Problemen der Familie Anteil zu nehmen, die den Ausgangspunkt dafür bildeten, dass Roncalli die Fähigkeit entwickelt hat, auch als er Johannes XXIII. werden wird, ein gewöhnlicher Christ zu bleiben und als solcher auch innerhalb und außerhalb der Kirche wahrgenommen zu werden."
Dieses Erbe bestimmte auch künftig den Lebensweg von Roncalli: „Seiner armen, doch zufriedenen Familie verdankte der Papst seine bäuerlich-gedrungene äußere Erscheinung, seine schlichte Herzlichkeit und Freundlichkeit, sein gutmütiges, humorvolles, manchmal schalkhaftes Wesen, seinen Wirklichkeitssinn und seine kindliche Frömmigkeit. Diese Gaben wurden durch Bildung und Erfahrung bereichert. Seit seinem 14. Lebensjahr führte Angelo Roncalli ein geistliches Tagebuch."
Ein Nachbarpfarrer hatte ihn neben dem Schulbesuch auf die Kenntnis des Lateins vorbereitet, nachdem er nur drei Klassen der Elementarschule besucht hatte. Danach besuchte er das Knabenseminar (1892-1895) und anschließend das Priesterseminar (1895-1900). Der Priesterberuf zeichnete sich bereits ab. Das Studium der Theologie begann er dann auch im Seminar in Bergamo. Seit Anfang 1901 studierte der junge Roncalli im Pontificio Seminario Romano di Sant'Apollinare, dem Priesterseminar der Diözese Rom. Er kommt in den Genuss eines Stipendiums, das das Studium in Rom möglich machte. Angelo musste das Studium wegen des Wehrdienstes, den er in Bergamo ableisten musste, von November 1901 bis Ende 1902 unterbrechen. Er war entsetzt über die Verhältnisse in der Kaserne und musste überhaupt zum ersten Mal erschütternde Erfahrungen machen. So heißt es im Tagebuch: „Heute verwundert mich nichts mehr; gewisse Geschichten machen keinen Eindruck mehr auf mich." Aber er war damit auch in seiner menschlichen Erfahrung und Reife, wie er auch noch später im Jahr 1959 schreibt, gewachsen.
Am 10. August 1904 wird er bereits in Rom zum Priester geweiht. Dazu notiert er: „Was wird aus mir werden? Werde ich ein tüchtiger Theologe werden, ein gewandter Jurist, ein Landpfarrer oder ein einfacher, armer Priester? Was kümmert mich das alles? Ich kann nichts von alledem sein oder sogar mehr, ganz wie es dem Willen Gottes entspricht. Mein Gott ist alles... Da Gott mich liebt, darf es für mich nichts geben, was mit Ehrgeiz zu tun hat. Es ist also unnütz, dass ich mir darüber den Kopf zerbreche." Er beschloss die römischen Studien im Jahr 1904 mit der Promotion zum Doktor der Theologie. Er feierte in Rom in den Grotten von Sankt Peter und später neben anderen ersten heiligen Messen in seiner heimatlichen Dorfkirche die Primiz. Schon im folgenden Jahr berief ihn sein Heimatbischof G. M. Radini-Tedeschi zu seinem Privatsekretär und zum Professor für Kirchengeschichte am Priesterseminar in Bergamo. Neun Jahre haben die beiden eng zusammen gearbeitet (1905-1914). Die Begegnung mit diesem Bischof ist für Roncalli zeitlebens vorbildlich geblieben. Er machte mit ihm auch viele Reisen in Italien und in ganz Europa. Der junge Priester kam hier auch mit einer sehr aufgeschlossenen Geistigkeit innerhalb der Kirche in Berührung. Im Ersten Weltkrieg blieb ihm der Militärdienst nicht erspart (1915-1918). Er wurde Sanitätssoldat und danach Militärkaplan. Der Tod seines Heimatbischofs im Jahre 1914 bewegte ihn sehr. Unaus-löschlich bleibt ihm eine Audienz bei Papst Benedikt XV. im Jahr 1919. Dabei überreicht er eine von ihm verfasste Biografie über Bischof G. M. Radini-Tedeschi. Sonst wissen wir über diese Zeit nicht so viel.
III.
Ende 1920 erhält Roncalli das Angebot, nach Rom zu übersiedeln, um an der römischen Propaganda-Kongregation eine Aufgabe für eine neu zu errichtende Kommission in Italien zu übernehmen, die die Verbreitung des Glaubens und die Missionsarbeit im Land koordinieren soll. Er hat sich sehr schwer getan, diese Aufgabe zu übernehmen, da er in Bergamo die Seelsorgsarbeit, besonders auch für die Jugend, und die historischen Studien liebte, denen er sich leidenschaftlich widmete. Schließlich war jedoch das Verhältnis zum Nachfolger des geliebten Heimatbischofs Radini, nämlich Bischof L. Marelli, schwieriger. Vor allem Andrea Kardinal Ferrari (Erzbischof von Mailand) riet ihm zum Wechsel nach Rom: „Wo Gott ruft, da geht man ohne Zögern los und verlässt sich in allem auf seine liebende Vorsehung. So werden Sie ruhigen Frieden haben."
In Rom hat er eng mit dem bekannten Kardinal W. M. van Rossum, dem Präfekten der Propaganda Fide, zusammengearbeitet. Zwei leibliche Schwestern betreuen ab nun Roncallis Haus. Er ist viel unterwegs in den Diözesen Italiens und in ganz Europa, um zu lernen, die Mission optimal zu fördern. „Das Werk der Glaubensverbreitung ist für mich der Atem meiner Seele und meines Lebens. Ihm gehören jetzt und immer mein Verstand, mein Herz, meine Worte, meine Feder, meine Gebete, meine Mühen, die Opfer, meine Tage, meine Nächte, in Rom und außerhalb. Ich wiederhole es: All das und für immer. Ich werde gern weitere Aufgaben übernehmen." Roncalli erwirbt sich in diesen Jahren erweiterte geistige und pastorale Horizonte, lernt viele Personen und Probleme kennen. Er muss aber auch lernen, mit Neid und unsachlicher Kritik fertig zu werden. 1924 wird er Professor für Patristik an der Päpstlichen Lateran-Universität.
Dies alles sollte sich rasch ändern. Für drei Jahrzehnte wird Angelo Roncalli Rom verlassen, um für den Heiligen Stuhl im diplomatischen Dienst zu arbeiten. Am 3. März 1925 wurde er von Pius XI. zum Apostolischen Visitator (ab 1931 Apostolischer Delegat) für Bulgarien und zum Erzbischof ernannt. Er empfängt in Rom am 19. März in S. Carlo al Corso die Bischofsweihe und wählt nach seinem großen Vorbild Caesar Baronius (1538-1607) das für ihn lebenslang wichtige Leitwort seines bischöflichen und später päpstlichen Dienstes: Oboedientia et pax, Gehorsam und Friede. Damit steht Erzbischof Roncalli in einer sehr intensiven Verbindung mit der Tradition des berühmten Mailänder Erzbischofs Karl Borromäus, der zu Beginn der Neuzeit wohl einer der wichtigsten Reformbischöfe war. Er hat Johannes XXIII. immer wieder angeregt.
1934 bestellte Pius XI. Roncalli zum Apostolischen Delegaten für die Türkei und für Griechenland. Zunächst wohnte er in Istanbul, seit 1937 in Athen. Knapp zwei Jahrzehnte verbrachte Roncalli im Osten. Hier lernt er die orthodoxen Kirchen des Ostens kennen. Er reist auch nach Syrien und Palästina. Gegen Ende des Krieges am 23. Dezember 1944 ernannte Pius XII. den bewährten Diplomaten zum Apostolischen Nuntius in Paris. Dies war damals wohl der bedeutendste, aber auch der schwierigste Posten der vatikanischen Diplomatie. Etwa 30 französische Bischöfe wurden der Kollaboration mit der Vichy-Regierung beschuldigt. Ihre Abberufung wurde gefordert, vor allem von den Kräften des Widerstands. Roncalli löste die Aufgabe sehr gut. Nur drei Bischöfe mussten sich zurückziehen. Der Nuntius konnte die französische Regierung sogar für den Plan gewinnen, den kriegsgefangenen deutschen Theologiestudenten in Chartres die berufliche Weiterbildung zu ermöglichen. Bis heute leben Priester - es waren 900 - in unseren Bistümern, die daran teilgenommen haben. Der Nuntius besuchte sie öfter. Am 12. Januar 1953 wurde Roncalli zum Kardinal ernannt, sodass der sozialistische Präsident Vincent Auriol in der Wiederaufnahme einer alten Sitte dem zum Kardinal ernannten Nuntius am 15. Januar 1963 in Paris das Birett überreichte.
Drei Tage nach der Erhebung zum Kardinal folgte am 15. Januar im Konsistorium die Ernennung von Roncalli zum Erzbischof und Patriarchen von Venedig. Hier konnte sich der pastorale Zug im Wesen Roncallis voll entfalten. Er begrüßte am 15. März 1953 das venezianische Volk mit der Ankündigung: „Seht in eurem Patriarchen nicht den Politiker und nicht den Diplomaten, sondern seht in ihm ausschließlich den Seelenhirten, der berufen ist, seine Mission an den kleinen Leuten zu erfüllen gemäß dem Auftrag des Herrn. Ich stamme von armen Eltern. Die göttliche Vorsehung entzog mich der Heimat, führte mich vom Orient zum Okzident auf den Straßen der Welt und brachte mich in Fühlung mit den schwerwiegendsten politischen und sozialen Problemen der Menschheit." In den fünf Jahren leistete der nicht mehr junge Oberhirte eine erstaunliche Fülle von Arbeit. Er errichtete über 30 neue Pfarreien und war durch seine Nähe zu den Menschen außerordentlich beliebt. Mitten aus seiner unermüdlichen Wirksamkeit wurde er - wie 50 Jahre zuvor der venezianische Patriarch Sarto (Pius X.) - vom Bischofsstuhl des hl. Markus auf die Cathedra Petri erhoben. Später sollte Papst Johannes Paul I. (26.8.-28.9.1978), Albino Luciani, auch aus Venedig kommen
IV.
Inzwischen zeigte sich in Rom in dem langen und schwierigen Pontifikat, vor allem auch mitbewirkt durch die Diktaturen des Nationalsozialismus und des Kommunismus, aber auch durch den Zweiten Weltkrieg und viele folgende Krisen, eine Wende an. Wir waren damals alle von der großen Gestalt Pius XII. geprägt. Der asketisch schlanke, fast überirdisch wirkende Pius XII. mit seinen formvollendeten aristokratisch wirkenden Gesten erschien als das Idealbild eines Papstes. So habe ich 1957/58 auch die ganz eigene Gestalt Pius XII. erfahren, der ja so etwas wie eine lebendige Ikone des modernen Papsttums war. Er hatte eine heute kaum mehr vorstellbare Hoheit. Er liebte wohl auch eine gewisse Ferne vom Volk. Römische Aristokratie war unübersehbar. Ich erinnere mich lebhaft, wie irritiert er bei den wenigen Besuchen außerhalb des Vatikans war, wenn Menschen ihm zu nahe kamen.
Wir Studienanfänger durften z. B. 1957 im Herbst bei der Einweihung von Radio Vatikan auf dem Gelände S. Maria di Galleria, einst Grundbesitz des Germanicums, dabei sein. Der Papst fand es offensichtlich geradezu als eine Bedrohung, wenn wir uns in dem kleinen Senderaum hinter seinem Rücken aufhielten und die Technik ansahen. Aber wir haben natürlich auch die erhabene Gestalt und die weltweit faszinierende Ausstrahlung der Autorität dieses großen Papstes gespürt. Ich habe noch viel erzählt bekommen von meinem damaligen Zimmernachbarn. Dies war nach dem Tod von Pius XII. kein geringerer als Pater Dr. Robert Leiber SJ (1884-1967), seit der Münchener Nuntiaturzeit von Eugenio Pacelli (1924) der unermüdliche Geheimsekretär. Sein Portrait, das er im Spätherbst nach dem Tod von Pius XII. in den „Stimmen der Zeit" veröffentlichte, gehört heute noch zum Lesenswertesten, was wir in konzentrierter Form über Pius XII. finden können.
Ich machte im September/Oktober 1958 meine ersten Exerzitien in Rom bei dem unvergesslichen Hugo Rahner, der uns Ignatius und seine Exerzitien neu erschloss. Als wir gegen Ende bei der Betrachtung über die Kirche anlangten, teilte er uns - wir lebten ja acht Tage in strengem Stillschweigen und ohne jeden Kontakt nach außen - mit, Papst Pius XII. würde im Sterben liegen. Auch wenn die Boulevardblätter durch eine fälschliche Indiskretion schon früher den Tod auf den Straßen meldeten - ich habe noch ein solches Extrablatt -, so starb der Papst erst am 9. Oktober 1958. Er steht wirklich als eine hoheitsvolle, verehrungswürdige Ikone vor mir. Aber ich werde auch nie vergessen, wie die beiden französischen Kardinäle A. Liénart und M. Feltin im Oktober 1957, als wir mit den Neupriestern in Castelgandolfo auf die Audienz warteten, weinend den Palazzo verließen. Pius XII. hatte ihnen trotz heftiger Gegenwehr das Experiment der Arbeiterpriester und den sogenannten Roten Katechismus verboten. Wir hatten große Achtung vor dieser Erscheinung und Autorität, aber vieles rief auch nach einem Neuanfang und einem anderen Stil. Eine geradezu hieratische Strenge und Starre konnte man jedoch trotz großer Ehrfurcht allmählich nicht übersehen. Eine Ära ging zu Ende.
Ab dem 25. Oktober 1958 war ich mit sehr vielen Menschen, die einen großen Teil des Petersplatzes füllten, immer wieder zur Stelle, um möglichst dabei zu sein, wenn weißer Rauch aus der Sixtina strömte. Obwohl ein großer Altersunterschied zwischen uns war - ich war ja wirklich ein Anfänger -, hatte ich freundschaftliche Verbindungen zu einem badischen Landsmann aus der Erzdiözese Freiburg, der in der Kirchengeschichtlichen Fakultät der Päpstlichen Universität Gregoriana Neue und Neuere Kirchengeschichte lehrte. Es war P. Professor Dr. Burkhart Schneider SJ (1917-1976) aus Kappel im Schwarzwald, der ein hervorragender Kenner des Ignatius und des Petrus Canisius war und zugleich zu den Mitherausgebern eines vielbändigen Werkes mit Quellen und Dokumenten des Vatikan aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges gehörte (1965ff.) Wir mochten einander. Ich war als Student natürlich auf eine solche Freundschaft ganz stolz.
Die Gregoriana war damals eine große internationale Kommunität. Pater Schneider, der nach einem Unfall leider allzu früh sterben sollte (1976), hatte eine gute Verbindung zu seinen Mitbrüdern aus vielen Nationen. Als wir wiederum auf dem Petersplatz warteten -, es war schon der 28. Oktober - sagte mir Pater Schneider: Herr Lehmann, sie werden sehen, dass der Patriarch von Venedig, auch wenn er schon 77 Jahre alt ist, eine große Chance hat. Als die französischen Kardinäle zum Konklave in Rom ankamen, haben sie nämlich - so P. Schneider - meinen Mitbrüdern erklärt: Wir werden uns für Angelo Giuseppe Roncalli einsetzen, der von 1945 bis 1952 Nuntius in Frankreich war. Wenn gelegentlich geschrieben wird, die französischen Kardinäle von damals hätten nicht viel Ahnung von der Gestalt des Patriarchen von Venedig gehabt, so kann ich nur dieses kleine Zeugnis dieser öfter geäußerten Meinung entgegenhalten. In der Tat mussten wir nicht mehr lange warten, bis der neue Papst bekannt gegeben wurde - ich glaube, es geschah durch den damaligen Kardinal-Archidiakon Nicola Canali (manche nennen wohl fälschlich Alfredo Ottaviani) -, wobei zugleich auch sein Name Johannes XXIII. mitgeteilt wurde.
Viele gingen an diesem Tag mit gemischten Gefühlen nach Hause. Auch ich war traurig, weil wir doch einen jüngeren Oberhirten der Weltkirche für eine neue Zeit erwarteten. Auch konnte ich trotz meiner Wertschätzung P. Schneider nicht so ganz glauben. Viele sprachen und sprechen es oft bis heute nach, die Kardinäle hätten in einem schwierigen Konklave einen „Papst des Übergangs" gewählt. So sah es in der Tat zunächst aus. Nicht nur das Alter, sondern auch die Herkunft und das lebensgeschichtliche Profil mit der Laufbahn als Nuntius schienen darauf hinzuweisen. Man denke auch an die ganz unterschiedlichen äußeren Gestalten der Päpste. Aber schon die ersten Wochen zeigten, dass man hier wohl differenzieren muss. Die Papstkrönung am 4. November 1958 rief ganz bewusst die Erinnerung wach an den großen Mailänder Erzbischof Karl Borromäus. Ähnlich wie bei Karl Borromäus schlummerte in dem zunächst wohl eher bewahrenden Papst ein reformerisches Element. Man sah dies auch bald an den Kardinalsernennungen, die in dichter Folge nacheinander und in vermehrter Zahl vorgenommen worden sind. Im deutschen Sprachbereich denken wir dabei an die Kardinäle J. Döpfner und F. König (15.12.1958), nicht zuletzt aber später auch an Kardinal Bea (1959), schließlich muss für 1958 Giovanni Battista Montini genannt werden, der immer noch nicht Kardinal war.
V.
Plötzlich hielt man diesen „Papst des Übergangs" für viele Überraschungen fähig. Wir Jungen waren bald begeistert, wie dieser Papst die Führung in seine Hände nahm. Am 25. Januar 1959 lüftete Johannes XXIII. in der Basilika St. Paul vor den Mauern sein Geheimnis. Er hatte durch drei Aufgaben eine besondere „Erneuerung" der Kirche vorgesehen: durch eine Synode in der Stadt Rom, durch die Einberufung eines Konzils und durch die Reform des Gesetzesbuches der Kirche (CIC). Dies war wie ein Donnerschlag. Man schaute erwartungsvoll, aber zugleich auch etwas besorgt in die Zukunft, denn wie sollte der Papst in seinem hohen Alter diese großen Ziele selbst noch erreichen können. Konnte es nach dem Vatikanum I überhaupt wieder ein Konzil geben? Konnte in der Zwischenzeit nicht der Papst alles allein bestimmen? Es gab viel Skepsis, nicht nur an der Kurie. Hatte ein Konzil nicht spezifische Aufgaben im Blick auf die Klärung von abweichenden Meinungen, ja Häresien, und schwerwiegenden disziplinarischen Problemen? Papst Johannes setzte eine vorvorbereitende Kommission ein, die die Aufgabe hatte, eine ausführliche Konsultation über die Themen eines Konzils vorzubereiten. Damit verzichtete er darauf, dem Konzil im Voraus eine fixierte Agenda aufzuerlegen.
Es ist nicht zuletzt dank der Forschungen von Prof. G. Alberigo heute ziemlich klar, dass Papst Johannes XXIII. dieses Konzil vor allem im Blick auf die Zukunft der Kirche gewollt hat. Schon in der Ansprache vom 25. Januar 1959 hielt der Papst ein Konzil auch darum für zweckmäßig, da die Kirche im Begriff sei, in eine geschichtliche Phase von außergewöhnlicher Tragweite einzutreten. Später ist von der „Grenzlinie zu einer neuen Epoche" die Rede. Die Akzente wurden im Verlauf der Zeit etwas verschieden gesetzt. Die Einheit der Christen spielte z.B. eine immer größere Rolle, aber auch der Blick auf die Menschheit insgesamt, nicht nur auf die Kirche.
Der Papst hatte kein fertiges Konzilskonzept. „Ziele und Wesen des Konzils wurden fortschreitend entworfen; sobald etwas als richtig erkannt war, wurde es festgehalten und vertieft in seinen Stärken und Zusammenhängen in der persönlichen Reflexion des Papstes." Dem widerspricht nicht, dass Johannes XXIII. mit großer Beharrlichkeit das Konzilsvorhaben verfolgte. „Papst Johannes wollte ein Konzil des historischen Übergangs, folglich ein Konzil, das der Kirche den Weg weist aus der nachtridentinischen Epoche und in gewissem Maße aus der jahrhundertelangen konstantinischen Zeit in eine neue Phase des Zeugnisses und der Verkündigung; dabei sollte auf die wichtigen und dauerhaften Elemente der Tradition zurückgegriffen werden, die als geeignet beurteilt wurden, den evangelischen Charakter eines so schwierigen Übergangs zu befruchten und zu garantieren." Man kann diese Zielsetzung nicht genügend hervorheben, denn sie war weder den Bischöfen in der Weltkirche noch der Kurie selbstverständlich. Manche sahen in einem solchen Konzil nur einen Nachtrag zum Ersten Vatikanum, das ja gar nicht abgeschlossen war. Der Papst war in einem tiefen und unerschütterlichen Glauben an einen solchen Schritt nach vorne überzeugt, befand sich aber nach einem Wort von Yves Congar in einer „institutionellen Einsamkeit". Papst Johannes XXIII. wollte aber bewusst die Aufgabe des Konzils im Rahmen und im Horizont der Zeit und der Gegenwart verstanden wissen, und zwar bewusst in einer umfassenden Perspektive.
Für das Verständnis des Konzils ist dieser Ansatz außerordentlich wichtig. In gewisser Weise darf man hier wohl auch einen neuen Akzent bei einem strukturellen Vergleich der Konzilien untereinander sehen. Denn dieses Programm unterscheidet sich deutlich von den Einberufungsgründen anderer großer Kirchenversammlungen, wo sehr oft - wie schon gesagt - einzelne Lehr- und Disziplinentscheidungen getroffen werden mussten. In dieser Perspektive, die allerdings zu sehr nur rückwärtsgewandt ist, kann man auch vielleicht eher die Bedenken verstehen, die sich gegen eine solche - wie manche meinten - „diffuse" Konzilsidee richteten. Auf jeden Fall erscheint dadurch das Konzil ganz grundlegend als ein Prozess. Natürlich gilt dies zunächst für jedes historische Phänomen, aber im Blick auf dieses Konzil gehört die bewusste Gestaltung dieser Kirchenversammlung als „Übergang" zu einer neuen Zeit doch ganz grundlegend in die Konzeption selbst. So hat sich die Konzilsidee beim Papst selbst immer wieder auch verändert, indem neue Horizonte und Dimensionen eröffnet wurden: „Der Horizont des Papstes scheint sich immer mehr zu weiten, bis ausdrücklich die Menschheit in ihrer Gesamtheit einbezogen wird; nicht nur der missionarische Impuls ist hier entscheidend, sondern auch der immer strenger werdende Einsatz für den Frieden in der Welt." Dafür gab es keinen herkömmlichen „Typ" des Konzils und darum auch keine direkt brauchbaren Modelle. Freilich konnte Johannes XXIII. das geplante Konzil auch in ziemlich traditionellen Formen beschreiben. Ich möchte diesen Ansatz „Konzil als Prozess" und „Konzil als Übergang" zum Verständnis des Konzils einer Kennzeichnung als „aggiornamento", „Modernisierung" usw. vorziehen oder mindestens gleichstellen. Es gibt ein schönes Wort von Johannes XXIII. im Blick auf das Konzil: „In Sachen Konzil sind wir alle Novizen."
VI.
Von dieser offenen Strukturanlage des Zweiten Vatikanischen Konzils her ergibt sich natürlich auch die besonders wichtige Aufgabe, den Verlauf des Konzils und damit die Verwirklichung dieser Konzilsidee sehr genau zu verfolgen. G. Alberigo hat 1992 vor diesem Hintergrund auch das historiografische Projekt der Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils begründet: „In den hinter uns liegenden Jahren sind zwar Studien über einzelne Entscheidungen des Konzils oder über den einen oder anderen Aspekt seines Verlaufs produziert worden, aber es handelte sich dabei immer um Arbeiten, die nicht aus dem organischen Bemühen um die Kenntnis des tatsächlichen Verlaufs der konziliaren Versammlung erwachsen waren. Dies hat sich dahingehend ausgewirkt, dass einer bloß fragmentarischen Kenntnis der Konzilsarbeit Nahrung gegeben wurde, wobei im Schatten blieb, welch umfassende historische Bedeutung das Zweite Vatikanum gehabt hat, nämlich als Ereignis des Übergangs des Katholizismus - und im großen Ausmaß auch des gesamten Christentums - von einer Epoche in die andere. Überdies hat das Fehlen einer Gesamtschau des Konzils dazu geführt, dass auch ein Impuls von Belang zur wissenschaftlichen Vertiefung der Einsicht in die Erneuerungsbemühungen ausgeblieben ist, denen das Konzil selbst die Richtung gewiesen oder die es selbst angeregt hat. Die Unsicherheiten und die Langsamkeit der Rezeption haben eben darin eine nicht unbedeutende Ursache."
Papst Johannes XXIII. hat in der folgenden Zeit eine bisher noch wenig allgemein bewusste, intensive geistige und spirituelle Vorbereitung gefördert. Er hat viele Konferenzen, Meditationen, Gottesdienste und Gebete abgehalten, um das Bewusstsein entsprechend in der gesamten Kirche zu wecken. Er hat auch eigene Einrichtungen gegründet, darunter vor allem am 5. Juni 1960 das Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen, das die anderen Kirchen einladen und Beobachter zum Konzil einladen sollte. Ähnliches gilt auch für die neuen Beziehungen zum Judentum, für die wiederum Kardinal Bea maßgebend war.
Der Papst verfolgte die Beratungen fast immer über eine Radioübertragung. Er hatte ein großes Vertrauen in die konziliare Versammlung und glaubte an ihre Fähigkeit, selbst Lösungen zu finden. So hat er nur in wenigen dringenden Fällen eingegriffen, dies besonders in den ersten Wochen bei der Frage der Zusammensetzung der Konzilskommissionen am 13. Oktober sowie der Beteiligung der Bischöfe daran und am 20. November 1962, indem er den von der Mehrheit abgelehnten Entwurf zum Offenbarungsthema absetzte und eine gemischte Kommission für einen neuen Anfang einsetzte.
VII.
Die übrigen Schritte des Papstes für das Konzil brauchen hier nicht näher umschrieben zu werden. Aber von seinen beiden großen Ansprachen im Konzil muss noch die Rede sein: die Eröffnungsrede „Gaudet Mater Ecclesia" am 11. Oktober 1962 und die Schlussansprache am Ende der ersten Sitzungsperiode am 8. Dezember 1962 „Prima sessio". Er hat die Möglichkeiten der Erneuerung für die Kirche aufgezeigt, auf die Fruchtbarkeit der Konzilstradition hingewiesen und den Weg zu einem neuen Typ von Konzil freigemacht: „furchtlos in die Zukunft blicken". Man müsse bei aller tiefen Verbundenheit mit der Tradition den „Unheilspropheten" mit ihren bloß negativen Botschaften entgegentreten. Es gehe um „eine neue Ordnung menschlicher Beziehungen". Man muss auch dem „vorwiegend seelsorgerlichen Charakter des Lehramtes besser entsprechen". Der Papst verweist auf die Treue der Kirche zur wahren Tradition, die freilich auch „größte Strenge" einschloss. „Heute dagegen sieht die Braut Christi in der Barmherzigkeit das bessere Heilmittel als in der Strenge." Sie soll „die Wirksamkeit ihrer Lehre erneuern, ... statt Verdammungen" aussprechen.
Vor allem die Eröffnungsrede hatte eine sehr große Wirkung und hat das Konzil zu einer eigenen Initiative ermutigt. Die Tragweite dieser Ansprache wird erst langsam wahrgenommen, ja sie ist auch heute in ihren befreienden Auswirkungen noch nicht erfasst: „Ein Text, der große Aufmerksamkeit und tieferes Nachdenken forderte."
Als Johannes XXIII. diese Rede mit großer Sorgfalt und Kraftanstrengung vorbereitete und darin seine tiefsten Überzeugungen ausgesprochen hat - er hat den Text selbst verfasst - und noch mehr, als er die erste Sitzungsperiode mit der Ansprache vom 8. Dezember 1962 schloss, wusste er um die schlimme Krebserkrankung. Aber er ließ sich die Zuversicht auf ein „neues Pfingsten" nicht nehmen.
VIII.
Angesichts der Bedeutung der Einberufung und der ersten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils besteht immer wieder die Gefahr, andere wichtige Ereignisse in dem kurzen Pontifikat von Johannes XXIII. zu übersehen oder gering zu schätzen. Dies betrifft nicht zuletzt auch eine Reihe von Veröffentlichungen. In erster Linie muss man hier an die acht Enzykliken denken, die Johannes XXIII. vom 29. Juni 1959 bis zum 11. April 1963 veröffentlicht hat. Einige dieser Enzykliken gehören eng in den Zusammenhang der Einberufung des Konzils. Die einflussreichsten Texte sind „Mater et Magistra" vom 15.05.1961 und „Pacem in terris" vom 11.04.1963.
Die zuerst genannte Enzyklika bedeutet einen neuen Einschnitt in den kirchlichen Sozialverlautbarungen. Der Ton ist weniger sozialphilosophisch. Die Enzyklika gibt gewiss nichts preis von den früheren Lehrschreiben. Sie ist jedoch praktischer, manchmal auch unbekümmerter, offen und zuversichtlich. Das Arbeitsleben kommt konkreter in den Blick. „Das Blickfeld hat sich erweitert, indem auch die Probleme der unterentwickelten Länder einbezogen sind und das bis dahin überwiegend auf den einzelnen Staat bezogene Gemeinwohl weltweit verstanden, auf die ganze, mehr und mehr zu einer Einheit zusammenwachsende Welt erstreckt wird. Es geht nicht mehr um Wohl und Wehe des eigenen Landes und Volkes, sondern der Welt und der einen Menschheitsfamilie." Die Enzyklika hat viele Tore weiter aufgestoßen und in vielen Teilen der Welt eine begeisterte Aufnahme gefunden. Die katholische Soziallehre gewann zusätzliche Sympathien. Auf einige Interpretationsprobleme z.B. im Blick auf den Begriff der „socialisatio", was in der Übersetzung schwierig wiederzugeben ist („gesellschaftliche Verflechtung", „dichter werdendes Netz sozialer Beziehungen"), brauchen wir hier nicht weiter einzugehen.
Steht diese Sozialenzyklika ziemlich am Anfang der Tätigkeit des Papstes, so erscheint die letzte Enzyklika „Pacem in terris" wenige Wochen vor seinem Tod (11.04.1963). Diese Enzyklika hat als Untertitel: „Über den Frieden unter allen Völkern, in Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit". Sie gilt als eine locker geschriebene, aber sehr genau durchdachte, kunstvoll gegliederte, regelrecht architektonisch gebaute Schrift. Der Text ist in fünf Hauptabschnitte gegliedert: 1) Die Ordnung unter den Menschen (Menschenrechte und -pflichten), 2) Die Beziehungen des Menschen zum Staat (Der Einzelne und die Staatsgewalt, Gemeinwohl und öffentliche Gewalt, Individualrechte, Die staatliche Rechtsordnung), 3) Die Beziehungen von Staat zu Staat (vor allem das Problem der Minderheiten, die Flüchtlingsfrage, die allumfassende Abrüstung, der Wohlstand aller Völker), 4) Das Verhältnis der Staaten zur Völkergemeinschaft (darunter auch Ausführungen zu den Vereinten Nationen), 5) Pastorale Weisungen. Von großer Bedeutung ist die Aufnahme der Menschenrechte in die katholische Soziallehre, wobei aber der individualistische Charakter der klassischen Menschenrechte zurückgedrängt und in ihrer sozial verbindenden Struktur aufgezeigt wird. Erstmals richtet sich ein päpstliches Rundschreiben nicht nur wie bisher an die Bischöfe, die Priester und die Gläubigen der katholischen Kirche, sondern an alle Menschen guten Willens. Dies bedeutet auch über die Erweiterung des Adressatenkreises hinaus eine inhaltliche Neuorientierung. Der Papst setzt bei anthropologischen Gegebenheiten der menschlichen Natur an und entwickelt von hier aus die normativen Grundlagen des sozialen Zusammenlebens.
Die Enzyklika ist gerade angesichts ihrer Verkündigung vor 50 Jahren in ihrer Bedeutung vielfach gewürdigt worden. „Die Enzyklika ‚Pacem in terris‘ markiert einen wichtigen Zwischenschritt in der Entwicklung der kirchlichen Soziallehre, der die Öffnung der katholischen Kirche zur Anerkennung der modernen Welt und ihrer Freiheitsrechte durch das Konzil vorbereitet. Zusammen mit der Enzyklika ‚Populorum progressio‘ (1967) von Papst Paul VI. stellt sie die wirkmächtigste Verlautbarung des päpstlichen Lehramtes aus den letzten Jahrzehnten dar. Dieser Rang kommt der Enzyklika Johannes' XXIII. zu, weil sie sich nicht darauf beschränkt, angebliche Verfallserscheinungen der modernen Welt zu beklagen, sondern mit prophetischer Kraft und dem Mut zur konkreten Utopie konzeptionelle Visionen entwickelt. Obwohl viele ihrer Vorschläge wie die Forderung nach atomarer Abrüstung oder die Mahnung zu verstärkter Kooperation der feindlichen Machtblöcke zum Zeitpunkt ihres Erscheinens von vielen Zeitgenossen als unrealistisch angesehen wurden, folgte die internationale Politik und die völkerrechtliche Diskussion später dem von ‚Pacem in terris‘ aufgezeigten Weg."
Zu erwähnen bleibt noch, dass die Enzyklika auch die Redeweise vom „gerechten Krieg" bedenklich findet. „Darum widerstrebt es in unserem Zeitalter, das sich rühmt, Atomzeitalter zu sein, der Vernunft, den Krieg noch als das geeignete Mittel zur Wiederherstellung verletzter Recht zu betrachten." „Pacem in terris" ist auch zurückhaltender gegenüber Äußerungen der kirchlichen Hierarchie zu Fragen des politischen und sozialen Lebens. Der Papst möchte das Urteil stärker den in der politischen Praxis stehenden Männern und Frauen überlassen, selbstverständlich bei Wahrung der kirchlichen Glaubenslehre. O. von Nell-Breuning formuliert hier etwas zugespitzt: „Damit hat Johannes XXIII. in seinen letzten Lebenstagen den großen Durchbruch vorgenommen, den das Zweite Vatikanische Konzil in aller Form vollzogen hat: nicht mehr Bevormundung durch den für alles zuständigen Klerus, sondern Eigenverantwortung der Laien, eines jeden im Bereich seines beruflichen Wirkens, seines Sachverstandes, seiner fachmännischen Qualifikation."
IX.
Überhaupt darf die politische Bedeutung von Johannes XXIII. nicht zu unterbelichtet dargestellt werden. Das Schlagwort vom „pastoralen" Papst und seinem Konzil darf die politische Sensibilität des jahrzehntelangen Diplomaten nicht übersehen lassen. Ähnliches gilt für die oft als zweitklassig apostrophierten diplomatischen Außenposten des Papstes in Bulgarien, der Türkei und Griechenland, gewiss nicht in Paris. Der Papst war weder naiv noch weltfremd, wie dies manchmal dargestellt wird. Allein schon die Besuche während seiner fast 30-jährigen diplomatischen Tätigkeit in den Ländern, die Gespräche mit den Staatsmännern seiner Zeit als Papst, aber auch eine Reihe von besonderen Aktivitäten belegen seine Wachheit und Klugheit im politischen Bereich. Das schon öfter genannte Verzeichnis seiner Lebensdaten bei L. Capovilla belegt dies eingehend. Dabei empfing der Papst Könige, Staatspräsidenten und Ministerpräsidenten aus aller Welt, besonders Königin Elisabeth II., Präsident Eisenhower, die italienischen Staats- und Ministerpräsidenten, Bundeskanzler Adenauer, aber auch viele politisch Verantwortlichen kleiner und neuerer Länder, besonders aus Afrika und Asien.
Ein besonderes Ereignis muss hier aber noch eigens genannt werden. Als sich die Bischöfe der katholischen Welt zum Konzilsbeginn rüsteten, stand die Welt politisch am Rand eines Abgrundes, nämlich des Ausbruchs eines nuklearen Krieges. Die Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion gipfelten in der den Weltfrieden schwer bedrohenden Konfrontation in der „Kubakrise" im Oktober 1962. Es ging um die Stationierung weitreichender sowjetischer Raketen auf Kuba. Es kam zu einem Höhepunkt der Konflikte im „Kalten Krieg". Unmittelbar nach der Konzilseröffnung am 11. Oktober erließ der Papst einen eindringlichen Friedensapell. Als die Krise am 26. Oktober ihren Höhepunkt erreichte, erinnerte der Papst öffentlich die politisch Verantwortlichen mit sehr deutlichen Worten an ihre Gewissenspflicht. Der Papst war zwischen John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow zur Vermittlung eingeschaltet. Wir haben erst später darüber genauere Kenntnis bekommen. Das hohe moralische Ansehen des Papstes hat es offenbar den Verantwortlichen im Kreml erleichtert, der ultimativen Forderung des Präsidenten Kennedy nach Abzug der sowjetischen Raketen von Kuba nachzugeben. Johannes XXIII. erhielt im Mai 1963 für diese Vermittlung den hochgeschätzten internationalen Friedenspreis der Eugen-Balzan-Stiftung in Zürich, eine besonders hohe Auszeichnung. Das Time-Magazin erklärte Johannes XXIII. zu Beginn des Jahres 1963 zum „Mann des Jahres" („Man of the Year").
In Folge dieser gelungenen persönlichen Intervention verbesserte sich auch das Verhältnis zwischen dem Vatikan und Moskau. Eine wichtige Folge waren die Freilassung des ukrainischen Patriarchen Slypy aus der Gefangenschaft und der Besuch von Chruschtschows Schwiegersohn beim Papst im März 1963. Es gab auch bittere Vorwürfe an Johannes XXIII., er sei - gerade wegen dieses Empfangs - politisch naiv. Bei den Wahlen in Italien stiegen in der Tat die Stimmen für die Kommunisten an. Dies war natürlich ein groteskes Missverständnis. Die heutige Forschung zeigt jedoch zunehmend, dass die Initiativen von Papst Johannes XXIII. nicht instinktiv, „aus dem Bauch heraus" geleitet waren, dass sie vielmehr in einer „langen, schrittweisen und tiefgehenden, in der Konfrontation mit sehr unterschiedlichen Situationen erprobten, geistlichen Reifung ihre Wurzeln haben".
X.
Nicht alles gelang dem Papst. Die einberufene Synode der Kirche von Rom (24.-31.01. und 28.06.1960) gehört dazu. Das neue Kirchenrecht, das natürlich erst nach dem Abschluss des Konzils in Angriff genommen werden konnte, wurde 1983 in Kraft gesetzt. Die Kräfte des Papstes wurden nach dem Ende der ersten Konzilsperiode immer schwächer. In der Osterbotschaft 1963 erinnert er wie öfter in diesen letzten Monaten an die Friedensenzyklika: „Der Friede ist mehr als Ausgleich äußerer Kräfte; er ist ein Geschenk Gottes." Am 15. Mai findet die letzte Generalaudienz im Petersdom statt. Am 23. Mai zeigt sich Johannes XXIII. zum letzten Mal am Fenster seines Arbeitszimmers. Nach einer vorübergehenden kurzen Besserung beginnt am 31. Mai die schwerste Krise im Gesundheitszustand des Papstes. An dem 83-stündigen Todeskampf nimmt, wie eingangs schon gesagt, die ganze Welt teil. Es gibt erregende und zugleich tröstende Worte aus seinen letzten Tagen: „Ich bin ganz ruhig. Ich wollte immer den Willen Gottes tun, immer, immer... Ich bin aus der Armut und Einfachheit von Sotto il Monte hervorgegangen und ich habe versucht, dies nie zu verleugnen. Welch große Gnaden hat mir der Herr erwiesen: Heilige Pfarrer, vorbildliche Eltern; eine starke christliche Tradition; eine zufriedene und ausgeglichene Armut... das Konzil. Gott weiß, dass ich dieser großen Inspiration meine kleine Seele in Einfachheit geöffnet habe. Wird er mir gewähren, es zu vollenden? Er sei gelobt. Wird er es mir nicht gewähren? ... vom Himmel aus, in den mich die göttliche Barmherzigkeit, wie ich hoffe - ja sicher bin - aufnehmen möge, werde ich seinen glücklichen Abschluss sehen."
Wir dachten zuerst an einen „Übergangspapst". Gemeint war damit zunächst einmal ein kurzes Pontifikat, in dem man nichts Neues erwartet. In Wirklichkeit hat Johannes XXIII. die Kirche in einem eindrucksvollen Prozess des Übergangs in eine neue Zeit und in eine große Erneuerung ihres Auftrags hineingeführt. Dafür gebührt ihm an seinem 50. Todestag und weit darüber hinaus der große Dank der Kirche. Giovanni Battista Montini, Paul VI., wurde am 30. Juni 1963 sein Nachfolger. Johannes XXIII. wurde am 3. September 2000 von Papst Johannes Paul II. selig gesprochen.
Karl Kardinal Lehmann
Bischof von Mainz
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz