Pränatale Diagnostik

Einige einführende Gedanken zur Diskussion anlässlich der Tagung des Bundesverband Herzkranker Kinder e.V. am 17. Mai 2008 in Mainz

Datum:
Samstag, 17. Mai 2008

Einige einführende Gedanken zur Diskussion anlässlich der Tagung des Bundesverband Herzkranker Kinder e.V. am 17. Mai 2008 in Mainz

Die Pränatale Diagnostik geschieht durch eine Untersuchung von Embryonen und Föten. Sie dient der Erkennung von Fehlbildungen und genetisch bedingten Krankheiten oder Behinderungen während der Schwangerschaft. Üblich sind Ultraschalluntersuchungen, Fruchtwasseruntersuchungen und Blutanalysen, zunehmend auch unter Verwendung gendiagnostischer Verfahren.

Gelegentlich wird die Pränatale Medizin und in ihr die Pränatale Diagnostik mit großer Skepsis aufgenommen. Wenn sie zu einer Diagnosemöglichkeit ohne Therapie führen, können sie gewiss leicht zu einer elementaren Gefährdung des kindlichen Lebens werden. In der Tat führt eine entsprechende vorgeburtliche Diagnose faktisch oft zur Abtreibung.

Man muss sich jedoch hüten, die zweifellos gegebene Ambivalenz der Pränataldiagnostik ganz einseitig zu werten, aus welchem Blickpunkt dies immer geschieht. Denn man muss beachten, dass die Pränataldiagnostik bei vielen Frauen und Eltern auch Ängste beseitigen kann, wenn z.B. trotz einiger bedenklicher Anzeichen oder auch bloßer Ängste eine ungestörte Entwicklung des ungeborenen Kindes festgestellt und mitgeteilt werden kann. In diesem Sinne kann die Pränataldiagnostik auch den früher recht häufigen Abbruch bei Verdacht verhindern (man denke z.B. an die Röteln-Infektion der Mutter). Meines Wissens kann dabei in über 90 Prozent der Fälle, wo ein Abbruch in Erwägung gezogen war, ein solcher verhindert werden. In nicht wenigen Fällen lassen sich durch die pränatalen Untersuchungen auch Schwierigkeiten bei der Geburt ins Auge fassen und zum Teil beheben oder lässt sich nach der Geburt durch eine kinderärztliche Betreuung eine Heilung erzielen. Wenn ungünstige pränatale Untersuchungsergebnisse mit einer genetischen Beratung verbunden werden, lässt sich in nicht wenigen Fällen auch die Überzeugung bei den Eltern stärken, dass man es mit geringen Fehlbildungen des erwartenden Kindes zu tun haben wird und dass man am Beispiel ähnlich betroffener Eltern auch lernen kann, mit diesen Begrenzungen umzugehen.

Auch wenn wir von der Überzeugung ausgehen, dass man diesen hohen und positiven Stellenwert der pränatalen Medizin noch stärker zur Anerkennung bringen muss, so soll aber das Gesamtbild deshalb nicht beschönigt werden. Es werden auch Erkrankungen entdeckt, die zur Zeit nicht zu therapieren sind und in der Periode nach der Geburt früher oder später zum Tode führen. Manche Erkrankungen sind nach der Geburt zwar therapierbar, aber nicht heilbar. Solange eine intrauterine Therapie der diagnostizierten Krankheit nicht möglich ist, sind damit auch intrauterine diagnostische Maßnahmen fragwürdig. Es ist für den Arzt und die Eltern sowie alle Beteiligten eine Verkehrung der Maßstäbe des ärztlichen Tuns, wenn in solchen Fällen die Tötung des Kindes die einzige „Therapie" darstellt.

Es wäre nun auch ein Zeichen von Blindheit, wollte man bei allen Fortschritten der Pränatalmedizin nicht auch die Ansprüche und Begehrlichkeiten sehen, die mit den diagnostischen Möglichkeiten geweckt und realisiert werden. Natürlich stecken hinter den problematischen Tendenzen auch Wandlungen im Menschenbild. Wir können in den letzten Jahren auch eine neue Behindertenfeindlichkeit feststellen, obgleich so viel für die vor allem materielle Seite der Rehabilitation in verhältnismäßig kurzer Zeit geschehen ist. Die Gesellschaft hat immer schon gegen Glieder, die mit einem Leiden behaftet sind, ein ambivalentes, ja nicht selten sogar verborgen feindseliges Verhalten ausgebildet. Wir möchten gerne den Anblick von Schmerz und Krankheit, Verunstaltung und Tod verhindern. Es gibt auch manche Visionen am Horizont von Gegenwart und Zukunft, die eine weitge-hende oder gar totale Befreiung des Menschen von leidvollen Erfahrungen durch immer bessere ökonomische Bedingungen und immer fortschrittlichere medizinische Betreuung versprechen. In einer ganz auf das persönliche, irdische Glück ausgerichteten Zukunftserwartung gibt es kaum Platz für körperliches oder seelisches Leiden. Es gilt oft nur das Gesunde im Sinne des physischen Intaktseins, das Erfolgreiche und das „Normale". Der Mensch erscheint weitgehend als die Summe seiner gesellschaftlich übernommenen Rollen.

Unter diesen Voraussetzungen erscheinen der Behinderte und erst recht das fehlgebildete Kind als ein Mensch zweiter Wahl. Der Mensch steigert sich heute durch die Erwartung einer solchen geradezu grenzenlosen Perfektibilität zu einem Wesen, das keine Mängel haben darf. Es ist jedoch irrig, die Grenzen des Menschlichen und seine vielfachen Mängel aus dem Verständnis des Humanen auszuschließen. Der „normale" Mensch vertuscht unter vielen Fassaden seine Grenzen. Er erscheint mit möglichst wenigen Schwächen, unerschütterlich, ohne Angst und immer erfolgreich. Die ganze Werbewirtschaft ist darauf abgestellt. Der behinderte und fehlgebildete Mensch kann die Mängel des Lebens nicht verbergen. Er zeigt uns wie in einem Spiegel, dass der Mensch Grenzen hat, dass er verdrängt und lügt, wenn er immer nur das Können an die erste Stelle setzt. Der Mensch hat Grenzen und darf sich auch ein Nicht-Können, ja auch Schwachstellen erlauben.

Mängel im menschlichen und moralischen Bereich können im Übrigen viel gravierender sein als physische Defekte. Es ist ein sehr verkürztes Menschenbild, wenn Behinderungen und Fehlbildung schlechthin als das Schockierende und das Entsetzliche gelten - die anderen Mängel jedoch gar nicht zur Sprache kommen. Allein schon die bloße Existenz, die Annahme und ein Minimum an Gemeinschaft mit behinderten und fehlgebildeten Menschen können für die „Gesunden" heilend sein, weil sie dadurch aus einem fragwürdigen Selbstverständnis befreit werden und so auch das Gefährdete und Bodenlose ihrer eigenen Existenz entdecken können. Die Solidarität und Partnerschaft mit behinderten und fehlgebildeten Menschen braucht auch einen großen Mut zum geradezu endlosen Helfen, zum Warten und wohl auch zur Vergeblichkeit. Oft ist das Gegenteil von „Erfolg" der Fall. Wir dürfen nur auf unsere Sprache achten, wie bereits hier vom Alltag oft bis zur Wissenschaft eine Dehumanisierung von Menschenkindern geschieht, die eine Behinderung haben. Besonders der Arzt und das medizinische Personal müssen viel mehr als bisher auf die verwendete Sprache achten. Sie ist unheimlich verräterisch.

Es zeugt freilich auch von einem Mentalitätswandel, wenn im Blick auf ein geplantes Kind eine regelrechte Qualitätsprüfung vorgenommen wird. Im Zweifelsfall, wenn die „Qualitätsstandards" nicht erfüllt werden, drängt man auf einen Schwangerschaftsabbruch. In nicht wenigen Ländern bedeutet dies sogar eine Auswahl des Geschlechts des Kindes. Überhaupt wird das Versprechen von Sicherheit und Kontrolle beinahe als unfehlbar eingeschätzt. Daraus geht natürlich auch oft eine Veränderung der Einstellung der Mutter während der Schwangerschaft hervor. Es ist eine Schwangerschaft auf Abruf und auf Probe, bei der zweifelhaft bleibt, wie eine vorbehaltlose Bindung an das Kind aufgebaut werden kann. Menschliches Leben wird grundsätzlich in der Schwebe gehalten. Die Qualitätssicherung stellt zweifellos auch bereits einen Ansatz zur Selektion dar, selbst wenn dies sehr oft unbewusst oder im Unterbewusstsein erfolgt. Es gibt in diesem Zusammenhang nicht selten auch im Blick auf den Arzt die Überzeugung, bei einer ungünstig ausfallenden Risikoabschätzung bestehe ein ausgesprochener Anspruch auf einen Schwangerschaftsabbruch, der sogar vermeintlich als Rechtsanspruch postuliert wird. Das entsprechende Wissen, auch wenn es letztlich gar nicht streng und tief genug gefördert worden ist, erzeugt einen großen gesellschaftlichen Druck auf Patient und Arzt.

Das Dilemma ist ganz besonders groß in unserer Schwangerschaftsgesetzgebung. Die Abschaffung der embryopathischen Indikation und ihre Subsumierung unter die medizinische Indikation ist außerordentlich schwierig. Zwar wird auch im reformierten § 218 a StGB das Lebensrecht und der Würdeanspruch des ungeborenen und unter Umständen behinderten Kindes aufrechterhalten. Aber das Gesetz hat eben faktisch andere Tendenzen: Damit wird auch die medizinische Indikation selbst mit anderen Motiven und Elementen vermischt. Dies wird besonders darin erkennbar, dass das einzige gültige Kriterium für die Anwendung einer embryopathischen Indikation in dieser neuen Konstellation die Zumutbarkeit für die Frau darstellt. Darüber kann jedoch letztlich nur allein die Schwangere befinden. Dafür gibt es auch kaum weitere Kriterien. Schließlich entfällt die früher gültige Zäsur von 22 Schwangerschaftswochen. Es besteht keine Pflicht zur Beratung mehr. Die Dreitagesfrist zwischen Beratung und Abbruch ist gestrichen. Ein solcher Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig. Es ist verständlich, dass nicht wenige der Ansicht sind, diese Lösung sei in der Eile der politischen Kompromisssuche nicht genügend bedacht worden, sei ein Trick oder gar eine Mogelpackung. Von der Frage der Spätabtreibung will ich hier absehen. Sie steigert diese ganzen Probleme.

So hat das Recht hier seine Aufgabe, den Lebensschutz überzeugend zu gewährleisten, nicht ausreichend erfüllt. Man kann freilich den gesellschaftlichen Wertewandel und Verschiebungen im Selbstverständnis des Menschen nicht einfach durch Politik heilen. Es geht um grundlegende Fragen in unserem Wertegefüge. Hier kann man nur zu anderen Lösungen kommen, wenn man auch alternative Mentalitäten und Denkstrukturen ins Auge fasst. Ich kann diese jetzt nur andeutungsweise entfalten. Auch das fehlgebildete Kind ist von Anfang an mit Person- und Menschenwürde ausgestattet. Vielleicht kann man dies am Ende nur von einem theologischen Schöpfungsverständnis her zureichend begründen. Begrenzung des menschlichen Lebens, Sterben und Tod gehören zum Wesen und Leben des Menschen und dürfen darum nicht verdrängt werden. Wer ein Kind und gerade auch ein fehlgebildetes ungeborenes Kind annimmt, tritt für die Unberechenbarkeit unseres Lebens und für das Ja Gottes zu jedem einzelnen Menschen ein. Gott ist nicht einfach auf der Seite der Starken und der Sieger, sondern auch und gerade auf Seiten der Armen und Kranken, der Opfer und der Bedrängten.

In dieser Perspektive muss meines Erachtens auch die Haltung zu den pränatalen diagnostischen Untersuchungsmöglichkeiten gesehen werden. Dabei wird man nicht nur eine Mentalität allein als Norm aufstellen können, sondern wird von einer Pluralität jeweils legitimer Verhaltensweisen ausgehen. Es gibt den Verzicht auf das Wissen, der ein Kind, wie immer es gestaltet ist, als ohnehin unberechenbares Geschenk annimmt. Eigentlich muss ein Minimum dieser Ehrfurcht vor dem ungeborenen Kind alles vorgeburtliche Denken und Handeln bestimmen. Eine solche Entscheidung hat gerade auch Sinn, wenn es keine therapeutischen Hilfen gibt. Eingangs wurde bereits betont, dass es unverantwortlich wäre, die hilfreichen Informationen nicht positiv zu nützen, wie dies heute zweifellos möglich ist. Im Schwangerschaftsabbruch kann ich allerdings keine Lösung des Dilemmas erkennen. Wenn jedoch ein solcher geschieht, ist auch nach dem Abbruch dringend eine Beratung notwendig, weil nachweislich die seelischen Verletzungen der betroffenen Frau hier größer sind als in anderen Situationen. Es gibt freilich auch Mütter und Ehepaare - sie mögen selten, aber umso bedeutungsvoller sein -, die die Fehlbildung ihres Kindes, auch wenn sie tödlich ist, annehmen, auf jede aktive Tötung verzichten, ihr Kind, mit dem sie schon einige Zeit verbunden sind, begleiten und es auch, wenn es unabwendbar ist, im Sterben nicht allein lassen wollen, vielleicht bald nach der Geburt. In den letzten Jahren haben manche Dokumentationen überzeugend aufgewiesen, dass nach den Erkenntnissen der pränatalen Medizin und aufgrund eines vertieften Menschenbildes das fehlgebildete Kind durchaus ein zumutbares Kind ist.

Es ist in jedem Fall besser, sich genauer Rechenschaft zu geben über das Instrument der Pränatalen Diagnostik. Nicht erst die ethische Entscheidung stürzt in ein Dilemma, sondern bereits die Frage, ob man alle erreichbaren Informationen über eine mögliche Behinderung zur Kenntnis nehmen will oder das Recht auf Nichtwissen in Anspruch nimmt. Kann sich jemand aber solchen Informationen entziehen, wenn die Möglichkeit, d.h. das Wissen schon vorhanden ist? Es gibt gewiss diesen Verzicht auf die Information. In vielen Fällen mag dies auch sinnvoll sein. Aber es hat wenig Sinn, mit einer grundsätzlichen Sperre einer solchen Aufklärung zu begegnen. Nichtwissen schützt nicht vor Zweifel. Es kann in einem Zeitalter stetig wachsender Erkenntnis kein unschuldiges Paradies mehr geben. Die Berufung auf Goethes Zauberlehrling und die Geister, die er rief, macht bis zu einem gewissen Grad das Dilemma offenkundig, bringt aber keine Lösung.

Es ist aber vermutlich doch eine Hilfe, wenn man bei aller Schmerzlichkeit der Diagnose eine Situation rechtzeitig zur Kenntnis nehmen kann, sich damit - auch mit Hilfe der Beratung - auseinandersetzt, angebotene Hilfen einschätzen und eine überlegte Entscheidung vorbereiten kann. Es gibt Beispiele dafür, dass auch im ungünstigsten Fall, wenn z.B. das Kind nach der Geburt stirbt, ein bewusster Umgang mit der Situation bis zu einem gewissen Grad etwas wie Trost verleihen kann. Es gibt aber auch gute Beispiele, wie ein Ja zu einem zunächst nicht „zumutbar" erscheinenden Kind unerwartete Freude bringen kann (vgl. z.B. den eindrucksvollen Bericht in: - Herzkrank geboren - Ein lebenslanger Weg? Broschüre 2006/2007, Bundesverband Herzkranker Kinder e.V., 35-37, vgl. auch Pränatale Diagnostik - Angeborener Herzfehler, Aachen 2000 u.ö.).

(c) Karl Kardinal Lehmann 

Bemerkungen nach der Diskussion in Mainz

  • Es gibt immer wieder eindrucksvolle Elternpaare, die zu einem fehlgebildeten Kind Ja sagen und einen großen Beitrag leisten zum Schutz des menschlichen Lebens. Dies wird oft übersehen.
  • Ich war überrascht, wie hoch von dem vielseitigen Druck auf die Schwangere und die Eltern die Rede war.
  • Wir brauchen noch viel mehr Informationen, die in Konfliktsituationen die Betroffenen erreichen.
  • Die Zusammenarbeit zwischen Kinderkardiologen und Gynäkologen muss viel intensiver werden.
  • Zuweisungen an die Kinderkardiologen und Kinderzentren dürfen nicht zu spät erfolgen.
  • Die ganze Diskussion zeigt, wie wir alle wieder immer wieder neu das Wunder des Lebens und den staunenerregenden Weg des vorgeburtlichen Kindes entdecken müssen. Nichts ist selbstverständlich, gerade auch nicht das Selbstverständliche und „Normale". Menschliches Denken fängt beim Staunen an.
  • Der Bundesverband Herzkranker Kinder leistet dabei mit seinem ehrenamtlichen Mitgliedern einen herausragenden, unterstützenswerten Beitrag.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz