Predigttext: Unter den Worten Jesu am Kreuz hat sein Schrei um die neunte Stunde kurz vor seinem Tod wohl die größte Bedeutung: Eli, Eli, lema sabachtani?, d.h.: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mt 27,46, vgl. Mk 15,34)
Das Geschehen der Passion mit ihren einzelnen Stationen und besonders die Kreuzigung haben die ersten Christen zunächst einmal regelrecht sprachlos gemacht. Wenn man der Überzeugung war, dass Jesus in besonderer Weise mit Gott verbunden ist und vom Vater in allen Situationen gehalten wird, ist dieses Wort der Gottverlassenheit von ganz besonderer Brisanz. Das Wort ist dem bekannten Psalm 22 entnommen (Vers 2).
Wir wissen heute ja, dass man nach dem Tod Jesu die Sprachlosigkeit zu überwinden suchte durch Hinweise auf die Deutung eines grausame Geschehens, die man im Alten Testament fand. Darum kann man die Passionsgeschichte Jesu mit den frühen Aussagen über seinen Tod nur von diesem Buchstabieren des „schändlichsten Todes" der alten Welt vor den Aussagen des Alten Bundes her verstehen. Durch die doppelte Wiedergabe des Psalmwortes auf Aramäisch und Griechisch wird der Verlassenheitsruf Jesu besonders hervorgehoben. Deswegen haben die Menschen immer wieder gefragt: Wie konnte der Gottmensch, der hinsichtlich seiner göttlichen Natur Gott gleich war, von ihm verlassen werden. Vor allem später hat man jedoch den Schrei Jesu schließlich zum Angstschrei des leidenden Menschen schlechthin gemacht. Im 20. Jahrhundert wird die Erfahrung der Gottferne immer mehr als eine allgemeine Erfahrung verstanden. Jesus ist gerade darum zutiefst menschlich, weil er diese Erfahrung zu teilen scheint. Manche Deutung sieht in diesem Schrei das Scheitern Gottes selbst, besonders im Blick auf seine Allmacht. Auch in der Kunst unserer Zeit fragt man: Wo bleibt Gott? Aber ist dies alles?
Man kann deshalb verstehen, dass manche Theologen im Lauf der Jahrhunderte vorgeschlagen haben, man dürfe über dieses Wort gar nicht reden, sondern müsse es schweigend bedenken. Man darf auch aus der Verlassenheitsaussage Jesu in Anlehnung an Ps 22, 23-32 nicht eine rasche Überwindung dieses Rufes durch das Vertrauen in Gott und seinen Lobpreis deuten. Man muss dem Text seine ganze Wucht lassen: Jesus schreit vielmehr sein Leben und seine innere Verlassenheit hinaus, laut und vernehmbar, nicht gottergeben, das Leiden ist einfach da, dunkel und schmerzhaft wie die Finsternis. Dabei ruft er jedoch nicht in eine namenlose Dunkelheit hinein. Er schreit als Klagender zu seinem Gott. Denn es gibt keinen anderen, an den er sich in seiner Verlassenheit wenden könnte. Es ist ein Schrei zu Gott, geradezu gegen Gott. Gott ist da und hört das Schreien. Gott hat freilich sein Gesicht verhüllt. Der innerste Kern von Jesu Leben, nämlich seine Beziehung zu Gott, ja zu seinem Vater, wird in das äußerste Dunkel seines Todes hineingenommen.
Man muss also diese tiefe Dunkelheit aushalten. Erst unmittelbar nach dem Tod geschieht die große Wende, in der sich Gott mit überraschenden Zeichen zurückmeldet (vgl. Mt 27,51-53). Es ist das Gebet eines Verzweifelten. Schließlich bleibt der Schrei eine große Frage, sodass die letzte Antwort offen bleibt. Der Schrei ist jedoch nicht einfach ein Beleg für endgültiges Scheitern.
Vielleicht kann man weiterkommen, wenn man einen Verstehensgrundsatz der alten Kirche und der großen Kirchenväter heranzieht: Alles, was Gott (in seiner Menschwerdung) angenommen hat, das hat er auch erlöst. Wenn er in die letzte Dunkelheit hinabgestiegen ist, dann hat er auch durch dieses Ausleiden der letzten Abgründe diese Tiefen und Untiefen des Menschen nicht nur ausgelotet, sondern sie am Ende auch erlöst und befreit. Die Verzweiflung allein hat keine letzte Macht. Man kann - aber allein durch Gottes Macht, wie die Auferstehung zeigt - diese äußerste Finsternis mit Gott selbst und in Gott überwinden. Darum kann auch die letzte Verlassenheit Gottes selbst am Ende nur von Gott selbst einen Antwort finden. Aber damit wird das Leid des Menschen nicht einfach unernst überholt. Es behält sein ganzes Gewicht. Darum wird in diesem Ruf Jesu die ganze Leidensfracht der Welt zur Sprache gebracht, gerade weil es auch eine Frage bleibt: Hast du mich wirklich ganz verlassen?
Etwas ist von großer Bedeutung. Dies hat uns die vor wenigen Tagen verstorbene und am Dienstag dieser Woche beerdigte Gründerin der Fokolar-Bewegung, Chiara Lubich, ein Leben lang vorgelebt. Für sie war über Jahrzehnte der Verlassenheitsruf Jesu ein Schlüsselelement ihres ganzen Glaubens und ihres Werkes. Es gibt viele Texte darüber von ihr. Darin kommt zum Ausdruck: Man darf den Blick nie von Jesus abwenden. Man muss ihn immer suchen. Chiara Lubich sagt auch, man müsse ihm immer den Vorzug geben. Dies gelte auch in der schrecklichsten Verlassenheit, die Himmel und Erde kennen. Erst in dieser Treue erfülle sich so etwas wie Liebe. Darin sieht sie letzten Endes auch das Geheimnis, in Jesus wieder Gott zu finden, wiedergeboren zu werden, die Einheit zu erlangen. Ich möchte einen Text von ihr anführen: „Es gibt nur einen Weg, um von Gott erfüllt zu werden: das Kreuz des gegenwärtigen Augenblicks umarmen, so wie es auf uns zukommt, und zwar mit immer neuer Liebe, die dem verlassenen Jesus ein Fest bereitet." Wir brauchen auch das Kreuz, um nicht das nötige Gleichgewicht zu verlieren, keinem falschen Überschwang zu erliegen. „Gott kann sich des Schmerzes bedienen, um unseren Stolz und unsere Eigenliebe zu zähmen, damit er allein in uns wirkt."
Man braucht lange, um solche Aussagen zu verstehen und anzunehmen. Aber wenn wir im Lauf eines Jahres die Gelegenheit dazu haben, dann ist es die Besinnung auf den Verlassenheitsruf Jesu, der uns nicht zufällig mit dem Beter und der Klage des Alten Bundes verbindet. Dann hören wir auch die Schreie der Menschen in den Vernichtungslagern unserer Welt. Dann dürfen wir auch am Karfreitag, den man wirklich aushalten muss, angesichts des Leids der Welt sprachlos werden, bis Gott selbst uns in der Auferstehung Jesu Christi ein Licht zuschickt und uns ein erlösendes Wort sendet. Amen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort
Von Chiara Lubich gibt es in deutscher Sprache folgende Zeugnisse:
- Jesus der Verlassene und die Einheit, München 1985 u.ö. (Verlag Neue Stadt)
- Der Schrei der Gottverlassenheit. Der gekreuzigte und verlassene Jesus in Geschichte und Erfahrung der Fokolar-Bewegung, 2. Aufl., München 2001 (Verlag Neue Stadt)
Für theologisch Interessierte ist eine Habilitationsschrift, eingereicht bei der Evangelisch-Theologischen Fakultät Tübingen, aufschlussreich und zu empfehlen:
- Stefan Tobler, Jesu Gottverlassenheit als Heilsereignis in der Spiritualität Chiara Lubichs. Ein Beitrag zur Überwindung der Sprachnot in der Soteriologie = Theologische Bibliothek Töpelmann 115, Berlin 2002 (Verlag Walter de Gruyter) - hier auch viele weiterführende Hinweise zu Person und Werk.
Exegetisch möchte ich nur auf die ausführlichste Auslegung im Matthäus-Evangelium hinweisen:
- U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26-28), 4. Band im Evangelisch-Katholischen Kommentar zum Neuen Testament (I/IV), Düsseldorf und Zürich 2002, 330-354 (Lit.: 330).
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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