Predigttext vom 14. Sonntag im Jahreskreis: Lk 10,1-12. 17-20 (Kurzfassung: 10,1-9)
Unter den Worten des heutigen Sonntags-Evangeliums ragt ein Jesuswort hervor, das provozierend ist und in dieser Form bei den anderen Evangelisten so nicht vorkommt: „Das Reich Gottes ist euch nahe“ (10,9.11)
Man muss dabei den Zusammenhang etwas näher betrachten. Zum ersten Mal sendet Jesus seine Jünger aus. Sie sind nun schon lange bei ihm und können aus dieser Gemeinschaft mit ihm trotz aller Missverständnisse, denen sie immer wieder erliegen, hinausgehen und seine Frohbotschaft in Wort und Tat den Menschen mitteilen. So wird deutlich, worum es im Christsein überhaupt geht, ob haupt- oder ehrenamtlich: Wir sollen und wollen das Evangelium Jesu Christi unter die Leute bringen. Darum gehören auch Gemeinschaft und Begegnung mit ihm in engster Jüngerschaft zusammen mit dem Gesendetwerden. Sie sollen nicht zu Hause und womöglich bei den Fleischtöpfen Ägyptens bleiben. Jesus ist sich der Herausforderung für die Jünger bewusst: Sie gehen wie Schafe unter die Wölfe, sie sollen bedürfnislos auftreten.
Der Kern der Botschaft ist unübersehbar: Das Reich Gottes ist euch nahe. Ja, man muss wohl die dynamische Kraft, die hier in der griechischen Ursprache liegt, noch besser umsetzen: Das Reich Gottes hat sich bis zu euch genaht, oder auch: Genaht hat sich euch das Reich, das Königtum Gottes.
Die Verkündigung von der Nähe des Reiches Gottes gehört zum Urgestein von Jesu Verkündigung. Es ist geradezu der Schlüsselbegriff zu seinem ganzen Tun. Im Vordergrund steht das Reich Gottes als eine zukünftige Größe, die aber in unsere Nähe gekommen ist (vgl. Mk 1,14f.; 9,1; 13,30; 14,25). Wir alle sehnen uns, oft auch mit ganz anderen Worten, nach diesem Reich Gottes, in dem es keine Gewalt und keine Lüge, keine Finsternis und keinen Hass mehr geben soll. Es ist das Reich der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Friedens und der Freude. Aber es ist nicht einfach nur eine künftige Utopie, ein fernes Versprechen, vielleicht sogar eine vage Hoffnung, vielmehr kann Jesus auch sagen, dass das Reich Gottes jetzt schon zu uns gelangt ist (vgl. Lk 11,20; 7,22): „Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ (Lk 17,21) Wenn sonst vielleicht eher die Zukunft im Mittelpunkt steht, so in diesen Sätzen die anbrechende Gegenwart des Reiches Gottes hier und jetzt, zeitlich und räumlich.
Eigentlich ist dies ein herausforderndes Ärgernis, denn wie kann Jesus mitten in der Ungerechtigkeit und Unwahrheit dieser Welt so von der Gegenwart des Reiches Gottes reden? Der Tod ist doch allgegenwärtig, einschließlich seiner Vorboten, Hunger und Flutkatastrophen, Erdbeben und nicht zuletzt das unschuldige Leiden vor allem der Kinder in der ganzen Welt. Gehört dieses Wort nicht zu den großen Täuschungen, die die Religion immer wieder über das Elend dieser Welt legt? Und doch ist dies das Zentrum der Verkündigung, ja des ganzen Kommens Jesu. Und er meint dies nicht nur allgemein und abstrakt (vgl. dazu 10,11), sondern ganz konkret: Das Reich hat sich „bis zu euch“ genähert, es ist „mitten unter euch“, auch in unseren Schmerzen und dem Leiden, im Sterben so vieler. Der Glaube, den Jesus bringt, überfliegt nicht einfach unsere Welt. Er weiß auch wohl, dass die Boten wie Schafe unter die Wölfe kommen. Aber das Evangelium bringt eine verwandelnde Kraft in unser Leben. Auch wo noch viel Dunkel ist, geht ein Licht auf. Mitten in der unerlösten Welt gibt es trotz aller Enttäuschungen einen Vorschein endgültiger Freiheit und des Heils. Freilich ist dieses Licht oft noch matt und klein, unscheinbar und nicht handgreiflich mächtig. Aber es beginnt zu wirken und sich, wenn wir es wahrnehmen und ihm trauen, durchzusetzen. Solange wir in dieser Zeit sind, bleibt es freilich vorläufig fragmentarisch-bruchstückhaft, durchmischt mit Mangel und Fehlern, aber auf dem richtigen Weg, kraftvoll orientierend und zu einem befreienden Ziel führend.
Dazu werden die Jünger geschickt. Es sind nicht nur die Apostel. Die 72 Jünger deuten wohl auf alle hin, die den Namen Jesu Christi tragen. Sie werden in der Regel auch nicht als Einzelkämpfer gesendet, so wichtig dies sein kann, sondern gewöhnlich „zu zweit“, „paarweise“ (vgl. 10,1). So sind sie noch stärker und stützen einander. Aber es sind immer noch zu wenige Arbeiter in der Ernte.
Wer sich diesem Ruf Jesu öffnet und mit ihm auf seinen Spuren geht, kann mitten in der Armseligkeit unseres Lebens wenigstens anfanghaft etwas von der Seligkeit spüren, die Jesus uns schon in dieser Zeit, vollends aber jenseits des Todes, zugesagt hat. Amen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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