Verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
Ich freue mich, dass Sie sich dem Thema der Katholischen Soziallehre und ihrem Verhältnis zur Caritas widmen. Denn ich glaube, dass im künftigen Europa dieses Verhältnis dieser beiden großen und wichtigen Themen von besonderer Wirkung sein wird. Das hat Auswirkungen auf das Handeln der Kirche in der Gesellschaft.
Ich will nur zwei kurze Gedanken umreißen. Wir erleben in dieser Zeit eine große Stärkung des Gedankens, dass der Markt in der Wirtschaft und in der Gesellschaft alles regelt. Der Markt hat auch unglaubliche Kräfte. Aber gerade deshalb muss er auch immer wieder gezügelt und geordnet werden. Darum ist es wichtig, dass zwei Grundprinzipien unserer Soziallehre hier gebührende Achtung finden, nämlich Solidarität und Subsidiarität.
Wenn wir von Subsidiarität sprechen, dann sagen wir zugleich auch, dass die Eigeninitiative des Menschen - seine Fähigkeit, sein Leben selbst zu ordnen - ganz elementar ist. Die Personenwürde des Menschen besteht eben auch darin, dass er selbst aktiv – soweit es geht – sein Schicksal in die Hände nimmt.
Wir wissen aber auch, dass Menschen nicht immer in der Lage sind, diese Aufgaben sich selbst gegenüber und ihren Familien gegenüber zu erfüllen. Dann muss eine starke Gemeinschaft durch echte Subsidiarität einspringen. Die Hilfe ist dann so, dass wir einzelne Menschen und Familien wieder instand setzen helfen, damit sie wieder stärker aus eigenen Kräften leben können. Das wird der Markt nie von sich aus regeln. Er schaut auf die Erfolgreichen, er schaut auf die, die alle Kräfte haben. Aber die Armen und die Bedrängten, die Kranken, die Alten, die Behinderten müssen ebenso eine Stimme bekommen - durch uns. Wir müssen Anwalt sein für die, die keine Stimme haben. Das bedeutet auch immer, dass wir im Kampf sind mit Auffassungen einer Wirtschafts- und Sozialpolitik, die dies zu wenig beachtet.
Ich glaube, dass wir in diesem Kontext eine einmalige Aufgabe haben. Auch wir wissen, dass wir in vielen Hinsichten sparen müssen, dass wir auch Prioritäten setzen müssen. Aber wir sind auch überzeugt, dass die Ökonomie nicht alles im Verhältnis der Menschen untereinander bestimmen kann. Es ist eine große Gefahr im heutigen Europa, dass auch die sozialen Beziehungen der Menschen besonders den Armen und Schwachen gegenüber untergeordnet wird gegenüber der Priorität des Ökonomischen.
Wir sind deswegen nicht wirtschaftsfeindlich. Aber der Mensch steht immer im Mittelpunkt, auch der Wirtschaft: Der ganze Mensch mit seinen Fähigkeiten und mit seinen Grenzen muss im Blick sein.
In dieser Aufgabe müssen sich Katholische Soziallehre und Caritas viel stärker gegenseitig befruchten. Wir brauchen zur Durchdringung unserer sozialen Realität, zur Erfassung unserer konkreten Situation immer wieder das Handwerkszeug der Reflexion, die Analyse, die mit der katholischen Sozialarbeit verbunden ist. Da klafft noch eine große Lücke zwischen beiden. Das Gespräch hat – soweit ich das in unserem Land sehe – eigentlich nur bruchstückhaft anfänglich begonnen. Aber auch die Sozialarbeit braucht mehr Kontakt mit der Caritas. Da kommt sie wirklich an die konkrete Basis. Da kann sie sehen, wie Menschen leben, unter welchen Umständen Menschen manchmal leben müssen. Da kann sie die Auswirkungen unserer wirtschaftlichen Verhältnisse studieren. Deswegen bekommt die katholische Sozialarbeit Bodenhaftung, Bodenkontakt, eben gerade durch die enge Zusammenarbeit, durch die Begegnung mit der Caritas besonders auch mit der Caritas vor Ort.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Leicht bearbeitete Bandabschrift. Die Passagen wurden zusammenfassend während der Predigt in französisch und englisch übersetzt
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz