Das Herz eines gütigen Menschen und eines großen Bischofs hat vor einer Woche (3.1.) aufgehört zu schlagen. Im vergangenen Sommer durften wir die 50. Wiederkehr seiner Priesterweihe hier im Münster und am 12. August seinen 75. Geburtstag begehen. Alt-Erzbischof Oskar Saier war über 35 Jahre Weihbischof (1972) und dann Erzbischof von Freiburg sowie Metropolit der Oberrheinischen Kirchenprovinz. Im Jahr 2002 trat Erzbischof Oskar aus gesundheitlichen Gründen von seinem Amt zurück.
Für jeden Bischof ist das Leitwort, das er für seinen Dienst wählt, wichtig. Bei Erzbischof Oskar Saier war das Leitmotiv „In vinculo communionis – Im Band der Gemeinschaft“ besonders aufschlussreich. Dies nicht nur deshalb, weil er einem Schlüsselwort des Zweiten Vatikanischen Konzils, nämlich Communio, seine Doktorarbeit gewidmet hat („Communio“ in der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils, München 1973) – auch heute noch nach 35 Jahren nach wie vor die beste Untersuchung zum Thema –, sondern weil er als Priester und Bischof ganz aus dem Geist des Konzils gelebt und gewirkt hat. Stets blieb er auch seinem Lehrer Professor Klaus Mörsdorf und dessen Schülerkreis eng verbunden.
Unsere deutsche Übersetzung „Gemeinschaft“ für communio ist schwach und blass. Was damit gemeint ist, kommt in einem wichtigen Konzilstext gut zum Ausdruck: „Wenn sie (die Priester) nach diesem Grundsatz – gemeint: die Gemeinschaft mit den Bischöfen und allen Priestern – handeln, werden sie die Einheit für ihr eigenes Leben in der Einheit der Sendung der Kirche finden und so mit ihrem Herrn und durch ihn mit dem Vater im Heiligen Geist vereint werden, sodass sie mit Trost und überreicher Freude erfüllt werden können.“ (PO 14 mit Hinweis auf 2 Kor 7,4). Dies ist die theologische Welt und die spirituelle Atmosphäre des Zweiten Vatikanischen Konzils, die Erzbischof Oskar Saier tief geprägt hat. Bei aller Verwurzelung in seiner Kirche gehörte dazu das gemeinsame Zeugnis mit den evangelischen Christen, besonders der Badischen Landeskirche.
Der dreifaltige Gott selbst ist Communio. Sie besteht in und aus der Vielfalt, aber diese Vielfalt ist immer auch schon auf Einheit hin angelegt und kommt von ihr her. Viele Wirklichkeiten des christlichen und kirchlichen Lebens zeugen auf ihre Weise von dieser Einheit in Vielfalt. Dies gilt gerade auch für die Kirche selbst. Die Kirche ist keine äußerliche Ansammlung von Glaubenden, die in ihrer bloßen Verschiedenheit die Einheit verfehlen, auch kein zentralistisch uniformes Gebilde, wo Verschiedenheiten keine Rolle spielen oder gar unterdrückt werden. Deshalb ist die Kirche der eine Leib mit den vielen verschiedenen Gliedern, jeder trägt das Seine bei und bringt es in das Ganze ein. Dies gilt besonders auch für die Weltkirche, die ihre Einheit aus der Vielfalt der einzelnen Ortskirchen findet („communio ecclesiarum“). Immer wieder kommt es darauf an, die Balance zwischen Einheit und Verschiedenheit sowie die Bewegung zwischen ihnen auszugleichen. Mit einem bekannten Wort des großen Tübinger Theologen J. A. Möhler – Erzbischof Oskar hat zuerst in Freiburg und Tübingen studiert – kann man sagen: „Es muss weder einer noch jeder alles sein wollen; alles können nur alle sein und die Einheit aller nur ein Ganzes. Das ist die Idee der katholischen Kirche.“ (vgl. den Kommentar von J. R. Geiselmann zu Möhlers Symbolik, Darmstadt 1961, 698)
Dies ist die Herzmitte des Wirkens von Erzbischof Saier: Er wusste immer um den Reichtum und die Farbigkeit des konkreten Lebens, die Einzigartigkeit der Begabungen, den spezifischen Beitrag der einzelnen Christen. Er hat allen Geistesgaben immer wieder großzügig Raum zur Entfaltung gegeben und sie beschützt. Aber er war zugleich ein leidenschaftlicher Anwalt der Einheit, wenn Verschiedenheiten sich absolut setzen und aufblähen wollten. Dann konnte er entschieden zur Einheit aufrufen und sie auch vom Einzelnen einfordern. Erzbischof Oskar Saier war klug und weise, um Freiheit und Bindung auszugleichen und zur Versöhnung zu bringen.
So war Erzbischof Oskar ein Mann des Hinhörens und des Zuhörens. Er hatte sich auch in langen Jahrzehnten hoher Verantwortung ein offenes Ohr bewahrt. In wichtigen Entscheidungen gab es nie eine falsche Routine. Er konnte schweigen und zusehen, um etwas wachsen zu lassen, bis eine Entscheidung anstand. Endloses Reden und Debattieren war bei aller Gesprächsoffenheit freilich nicht sein Geschäft. Der immer ernsthafte Dialog, den er auf allen Ebenen sorgfältig vorbereitete, sollte zu einem Ziel führen. Diesem Ziel dienten unendlich viele einzelne Gespräche mit Laien und besonders allen Schwestern und Brüdern im pastoralen Dienst, zumal den Priestern. Aber es war auch das Grundgesetz bei der Durchführung des Freiburger Diözesanforums (1991/92). So hat Oskar Saier eines der größten Bistümer in unserem Land mit der nötigen Kraft und der nicht weniger notwendigen Gelassenheit geführt. Dabei hat er sich selbst immer wieder zurückgenommen. Seine Person wurde nie Anlass zum Streit. So war sein Führungsstil bei aller Wahrnehmung der Verantwortung und bei aller Wirksamkeit unauffällig und geradezu still. Er war ein Mann der leisen Töne. Aber dies konnte bei seiner Wachheit nicht heißen, dass er in entscheidenden Situationen der Kirche und der Gesellschaft nicht zu einem bedächtigen, klaren und klugen Wort griff.
Communio sagt auch Entscheidendes aus über das Miteinander der Ortskirchen. Obgleich Erzbischof Oskar unermüdlich in seiner Erzdiözese bis in die kleinsten Pfarreien tätig war, hat er sich nicht zurückgezogen in das eigene Haus. Als Metropolit hat er mit den Nachbarn in den Diözesen Rottenburg-Stuttgart und Mainz engen Kontakt gehalten. Schon früh hatte er erkannt, wie wichtig nicht nur die Fortsetzung der Aussöhnung mit unseren französischen Nachbarn ist, sondern dass im neuen Europa – er war ein überzeugter Europäer – Grenzen mehr verbinden als trennen und dass darum die Zusammenarbeit in der Region von größter Bedeutung ist, ganz besonders mit dem schweizerischen Bistum Basel-Solothurn und dem elsässischen Erzbistum Straßburg. So ist nicht zuletzt durch Anstöße des Freiburger Erzbischofs schon früh eine übernationale, regionale Zusammenarbeit entstanden, die für die künftige Zusammenarbeit vielfach zu einem Vorbild wurde. Auf diese Weise ist manches gute gemeinsame Wort entstanden: Ich nenne nur die Gemeinsame Erklärung über das Verhalten des Christen im Konflikt um die Kernenergie, gewiss aber auch unser Gemeinsames Wort „Zur Seelsorge mit Wiederverheirateten Geschiedenen“ (1993). Ich weiß nicht, wer in diesen Tagen für diesen Mann das Wort „erzkonservativ“ erfinden konnte. Oskar Saier war mutig, aber eben auch behutsam.
Erzbischof Oskar Saier hat in ganz hohem Maß auch Verantwortung übernommen in der Deutschen Bischofskonferenz. Er ist über Jahrzehnte eine nicht wegzudenkende Säule gewesen. Dies kann man leicht an den Aufgaben und an den Zeiträumen erkennen: Schon als Weihbischof war er Leiter einer Arbeitsgruppe zur Vorbereitung des neuen kirchlichen Rechtsbuches (1973-1979); er war über fast 20 Jahre Vorsitzender der Pastoralkommission (1979-1998), besonders damals einer der größten und wichtigsten Kommissionen überhaupt; zwölf Jahre war er auch mein Stellvertreter im Vorsitz der Deutschen Bischofskonferenz (1987-1999); von anderen Mitgliedschaften will ich hier nicht reden. Aber es waren nicht nur die Funktionen. Er hat immer auch an wichtigen Schaltstellen und Knotenpunkten der Bischofskonferenz nach innen und nach außen mitgewirkt: 22 Jahre als Mitglied des evangelisch-katholischen Kontaktgesprächskreises (1979-2001); bei den Begegnungen mit Parteien und Regierungen, den großen gesellschaftlichen Organisationen (Arbeitgeberverbände, Handwerk und Gewerkschaften) und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Wenn Not am Mann war, war er immer wieder bereit einzuspringen. Und er war nicht nur physisch anwesend, sondern immer gewissenhaft, vorbereitet und zu wesentlichen Interventionen bereit.
Stets hat der Erzbischof von Freiburg eine tiefe Solidarität empfunden mit den bedrängten und leidenden Menschen in aller Welt. Dies hat sich seit 1986 besonders konkret ausgeformt in der Patenschaft des Erzbistums Freiburg zur Kirche Perus. So wurde Erzbischof Oskar Saier im Jahr 2002 die seltene Auszeichnung eines Ehrenmitglieds der Peruanischen Bischofskonferenz zuteil. Und was wäre „communio“ ohne das Band der Einheit mit dem Zentrum der Weltkirche und ganz besonders mit dem Nachfolger Petri persönlich? Auch hier gilt, dass der Erzbischof von Freiburg bei aller eigenen Verantwortung sich gehorsam und demütig einzuordnen wusste in das Ganze der Weltkirche, dass er aber zugleich offen und mutig die Anliegen und Belange der Kirche in unserem Land zu Gehör brachte. Dies alles hat er stets mit Ruhe und Bescheidenheit, Sorgfalt und Diskretion vorgetragen. Es war ein großer Verlass auf ihn.
Über 35 Jahre als Weihbischof und Erzbischof einer so großen Diözese war eine große Last. 50 Jahre des unablässigen geistlichen Dienstes stehen dahinter: Kaplan in Reiselfingen, Mosbach und Freiburg, sieben verantwortungsvolle Jahre als Regens des Priesterseminars in St. Peter. Da gibt es gewiss viele hohe Ereignisse, wie z.B. die pastorale Initiative „Miteinander Kirche sein für die Welt von heute“ (1989) und „...damit sie auch morgen glauben können“, schließlich gegen Ende die Feier des 175-jährigen Bestehens der Erzdiözese Freiburg (2002) mit dem Programm „Das Jubiläumsjahr des Bistums als ‚Zeit zur Aussaat’“ und der unvergessliche Katholikentag von 1978 mit dem Thema „Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben“. Aber nur wenige können ermessen, was in den 24 Jahren seit der Ernennung zum Erzbischof tagtäglich an Gesprächen, kleinen und großen Entscheidungen, Termin-Verpflichtungen und Verlautbarungen notwendig war. Hinzu kommen verschiedene Personalgespräche, mühselige Verhandlungen und ein sorgfältiges Beobachten der kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Situationen. Dabei sind die vielen Gemeindebesuche, die Gottesdienste und die Firmungen in den tausend Gemeinden nicht wegzudenken. Sie sind das Herz der Tätigkeit eines Bischofs. Auch hier knüpfte Oskar Saier immer wieder neu „das Band der Gemeinschaft“. In der Erfüllung dieser Aufgaben verzehrt sich aber auch ein Bischof. Es braucht, ohne dass davon viel die Rede ist, ein Übermaß an Einsatzbereitschaft und Geduld, Treue und Zähigkeit im Verfolgen der Ziele, Menschlichkeit in unendlich vielen Begegnungen und Großmut gerade auch bei oft ungerechten Angriffen. Mit großer Freude besuchte der Alt-Erzbischof auch im Ruhestand immer wieder die Gemeinden, wie er mir bei unserer letzten Begegnung am 8. Dezember 2007 ganz besonders versicherte.
Heute wollen wir an erster Stelle Gott danken, dass er dem Erzbistum Freiburg und unserer Kirche den Hirten Oskar Saier mit allen Talenten geschickt und geschenkt hat. Dir, lieber Erzbischof Oskar, sagen wir ein herzliches Vergelt´s Gott für deinen Dienst auf allen Ebenen deines Wirkens: von der kleinsten Gemeinde bis nach Rom und Peru. Wir danken aber auch der Familie Saier vom Vogtshof in Wagensteig (Gemeinde Buchenbach). Oskar Saier hat nie verleugnet, aus einer Bauernfamilie zu kommen und durch und durch ein Schwarzwälder zu sein. Vielen haben wir für die Begleitung auf seinem Lebensweg zu danken, seiner schon genannten Familie mit den Schwestern, Nichten und Neffen, die bis zuletzt nachts bei ihm wachten, der ehrwürdigen Schwester Vincentia, die ihm über 20 Jahre bis zur Vollendung seines Lebens treu blieb, dem Herrn Erzbischof Robert und nicht zuletzt Herrn Weihbischof Prof. Dr. Paul Wehrle und Dompräbendar Johannes Mette, die ihm über lange Zeit die hl. Eucharistie brachten oder mit ihm feierten, solange dies möglich war. Besonders denke ich auch an seine Ärzte.
Vielleicht ist es nicht das geringste Verdienst Oskar Saiers, wie er über Jahrzehnte unter uns und mit uns als Christ gelebt hat. So hat er verwirklicht, was wir in der Lesung aus dem Römerbrief des hl. Paulus gehört haben: „Keiner von uns lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn.“ (Röm 14,7 f.) Amen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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