Predigt bei der Eucharistiefeier anlässlich der Internationalen Konferenz zur Vorbereitung des Weltjugendtages 2005 in Köln

am 08. Januar 2005 in Bensberg

Datum:
Samstag, 8. Januar 2005

am 08. Januar 2005 in Bensberg

Predigttext: Mk 6, 34-44 (8. Januar nach Erscheinung des Herrn)

Man nennt das Wunder das hier in der Speisung der Fünftausend besteht, auch das Wunder der Brotvermehrung. Unschwer kann man dahinter die im Alten Testament Elischa zugeschriebene Speisung vor Hundert Männern mit 20 Broten erkennen (2 Kön 4, 42-44). Man kann auch gut die Struktur jüdischer Mahlzeiten erkennen: das Nehmen der Gaben, die Segenssprechung, die Brotbrechung und das Austeilen (vgl. V. 41). Solche Elemente lassen sich auch gut im Paschamahl, in der Stiftung des Herrenmahls sowie in der künftigen Eucharistiefeier der Gemeinde erkennen. Die Zahlen Fünftausend (Leute) und Zwölf (Körbe) drücken nach allgemeiner Überzeugung die Menge und die Fülle des Segens aus, den Jesus geschenkt hat. Die Lagerung in Gruppen zu hundert und zu fünfzig entspricht der entzeitlichen Lagerordung der Wüstengeneration (vgl. Ex 18, 21.25).

 

Wenn man die gesamte Geschichte genauer betrachtet, darf man die Hinweise am Anfang nicht übergehen. Alle suchen Jesus. Dahinter steckt eine ganze Christologie: Die Menschen suchen einen Meister der Wegweisung für ihr Leben. Sie haben physisch und spirituell Hunger und Durst. Sie erwarten einen, der ihre Sehnsucht stillt. Viele andere haben sie enttäuscht. Jesus möchte sich gerne etwas mehr zurückziehen. Er nimmt seine Jünger mit, denn diese Abgeschiedenheit von der großen Menge ist wichtig für die Jüngerunterweisung. Die Jünger müssen tiefer in der Botschaft Jesu unterwiesen werden als die anderen, die manchmal ja auch mehr wie allgemeine Sympathisanten und Mitläufer erscheinen. Die Jünger müssen jedoch an der Stelle des Herrn die Botschaft in Wort und Tat vermitteln. Sie brauchen darum auch in dieser engeren Nachfolge eine bessere und tiefere Vertrautheit mit ihm und seiner Botschaft. So brauchen auch heute die Jünger immer wieder diese Abgeschiedenheit mit Jesus. Gerade für Markus und sein Evangelium gibt es für die Jünger und Apostel zwei wichtige Grundvoraussetzungen: mit ihm zu sein und seine Sendung zu empfangen. Bei-Ihm-Sein und Ausgesendetwerden gehören eng zusammen. Das eine bedingt das andere. Heute sprechen wir gerne davon, das Sammlung und Sendung zentrale, sich ergänzende Vollzüge des christlichen Glaubens und Lebens sind.

 

Aber die Menschen merken, dass Jesus sich in ein größere Einsamkeit zurückzieht. Rasch laufen sie ihm nach. Es ist erstaunlich, dass sie sogar vor Jesus und den Jüngern ankommen. Die Sehnsucht und die Liebe sind rasch, auch wenn der Weg weit ist. Die Jünger sind verständlicherweise manchmal auch enttäuscht, dass sie Jesus wiederum nicht für sich haben. Sie müssen doch oft auf ihn verzichten. Sie verstehen ja auch noch nicht alles, was er ihnen sagen will.

 

Manchmal möchten die Jünger die Leute geradezu davonjagen. Hier geschieht dies nicht direkt, aber es ist doch spürbar, dass Jesus selbst die Initiative ergreift. Jesus geht auf die Menschen zu. Er ignoriert nicht die vielen, die ihm – aus welchen Motiven auch immer – vielleicht bloß nachlaufen. Deutlich wird das Motiv seiner Sorge um sie genannt: er hatte Mitleid mit ihnen. Die vielen Menschen auf der Suche nach Wahrheit und Lebenssinn ließen ihn nicht los. Er wollte sie nicht allein lassen. Mitleid ist ein zentrales Wort der Bibel (vgl. dazu die wichtige Enzyklika Johannes Paul II. „Dives misericordia“ aus dem Jahr 1981). Es ist ein zentrales Wort der Bibel zwischen der Wahrnehmung eines Leides sowie eines Notstandes und der eingreifenden Hilfe. Sehen allein kann auch tatenlos bleiben. Es bedarf eines besonderen Antriebes zur Hilfe. Insofern ist das Mitleid immer der notwendige Übergang vom Sehen zum Handeln, von der Theorie zur Praxis, von der Kontemplation zur Aktion. Wir können dies gut an der hierfür besonders wichtigen Geschichte vom barmherzigen Samariter sehen, wo es an entscheidender Stelle heißt: „Als er (der Samariter) ihn (den unter die Räuber Gefallenen sah) hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie.“ (Lk 10, 33f) Wichtig ist auch das Motiv, warum Jesus Mitleid hatte, weil sie nämlich „wie Schafe waren, die keinen Hirten haben“ (Mk 6, 34). Dies ist im Alten Testament ein oft gebrauchtes Bild (vgl. Num 27, 17; 1 Kön 22, 17; Ez 34, 5f.8; Sach 10,2). Jesus erfüllt nun in seiner Person die Zusage Gottes, das er selbst sich als Hirte um sein Volk kümmern werde (vgl. Ez 34, 7-31).

 

Es folgt dann ein kurzer Hinweis, der freilich leicht überlesen wird: Er begann, sie viel zu lehren (V. 34b). Man übersieht in dieser Erzählung vom Wunder der Brotvermehrung, dass Jesus zuerst „lehrt“, d.h. er verkündigt vor allem das Evangelium. Das ist das Erste und Wichtigste, das er den Armen, ja dem ganzen Volk bringen kann. Für die Sendung der Kirche ist dies von elementarer Bedeutung. Brote und Fische sind lebenswichtig. Die Menschen bekommen sie auch. Aber davor geht es um die Verkündigung der Ankunft des Gottesreiches. Auch für den Weltjugendtag und alle anderen Aktivitäten in der Kirche ist und bleibt die Proklamation der Nähe des Reiches Gottes die wichtigste Aufgabe. Wenn wir sie erfüllen, dürfen wir gewiss sein, dass uns alles andere dazu gegeben wird. Markus gebraucht hier das Wort vom „Lehren“. Er liebt dieses Wort besonders und betont die nur auf Jesu Vollmacht zurückgehende Ansage der Nähe der Gottesherrschaft. Niemand kann dies sonst.

 

Jesus übersieht aber nicht die reale Not der Menschen. Es wird schließlich Abend. In der Gegend gibt es nicht viel zu essen. Die Jünger machen ihn zuerst darauf aufmerksam: „Der Ort ist abgelegen, und es ist schon spät.“ (Mk 6, 35b) Es ist nun aufschlussreich, wie die Jünger diese Aufgabe lösen möchten: Zuerst meinen sie: „Schick sie weg, damit sie in die umliegenden Gehöfte und Dörfer gehen und sich etwas zu essen kaufen können.“ (Mk 6, 36a) Jesus akzeptiert diesen Vorschlag nicht. Vielleicht möchte Jesus nicht, dass die Leute sich einfach zerstreuen. Jesus möchte wohl auch nicht die beiden Bereiche, nämlich das Reich Gottes und das übliche Leben, fein säuberlich trennen. Es ist gefährlich, den Glauben vom Leben zu trennen. Gottes Herrschaft bezieht sich auf den ganzen Menschen. Gerade ein echter Hirte kann die Menschen nicht in die Verlorenheit der Nacht zurückschicken. Die Jünger kommen mit einem zweiten Vorschlag: „Sollen wir weggehen, für zweihundert Denare Brot kaufen und es ihnen geben, damit sie zu essen haben?“ (Mk 6, 37b) Jetzt verstehen sie, dass Jesus sie für die hungrigen Massen verantwortlich macht. Also müssen sie sofort einen Vorschlag machen. Sie rechnen auch richtig, nach jüdischen Angaben dieser Zeit kann man für 200 Denare ca. 2400 Tagesrationen bzw. 4800 Halbetagesrationen Brot einkaufen, also kommt man relativ nahe an die Zahl 5000 heran. Die Jünger verstehen in einer eindrucksvollen Überschlagsrechnung, dass sie den Armen Brot geben müssen. Dies tut auch die heutige Kirche. Es ist nicht zufällig, dass die Bezeichnungen „ Brot für die Welt“ und „Misereor“ fast wörtlich unserem Text entnommen sind. Jesus geht auch auf diesen Vorschlag nicht ein, sondern fragt: „Wie viele Brote habt ihr, geht und seht nach!“

 

Der Rest – freilich auch der Höhepunkt – der Geschichte ist bekannt. Jesus lässt die Leute sich setzen. „Darauf nahm er die fünf Brote und die zwei Fische, blicke zum Himmel auf, sprach den Lobpreis, brach die Brote und gab sie den Jüngern, damit sie sie an die Leute austeilten.“ (Mk 6, 41) Der wahre Lösungsweg, der dritte nämlich, der Gottesherrschaft, ist ein Wunder Jesu. Wiederum kommt in den Ausdruck „dann befahl er ihnen ...“ die Vollmacht Jesu zum Ausdruck. Das Hauptwunder besteht darin, dass der messianische Hirt Israels gekommen ist, Jesus von Nazareth. Es zeigt uns aber auch am Ende, dass die Christen nur vom Gottesdienst, von der Kraft aus der Mitte her, von der Lebenshingabe Jesu her das Miteinanderteilen und das Teilen mit den Armen lernen. Darum liegt die Wahrheit dieses Textes in dem Miteinander von zwei Aussagen: Ohne die Gemeinschaft am Tisch Jesu gibt es auch keine wirksame Gemeinschaft im Alltag der Welt. Es darf aber auch keinen abgehobenen Kult am Altar geben. Die Eucharistiefeier setzt die Menschen, wenn sie Jesus recht verstehen, in den Stand, die Hungernden in ihrer Mitte zu sättigen, weil sie sie sammelt und eint, das Leben miteinander zu teilen. Die Menschen missverstehen dies. In der Fassung der Brotvermehrung im Johannes-Evangelium wollen ihn die Scharen zum König machen. Er entzieht sich.

 

Wir vollziehen hier dies, was dieses Evangelium des heutigen Tages uns vor Augen führt. Es ist wichtig, dass wir das ganze Gefälle und die Grundrichtung dieses Evangeliums verstehen: Sie geht von den Hungrigen zu den Gesättigten, von der Verkündigung des Wortes Gottes zum täglichen Brot, um das wir bitten, von der Not mit den vielen Menschen zum Brot des Lebens für alle. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Wenn wir mit der Verkündigung des Wortes Gottes beginnen, werden wir auch die Kraft gewinnen, das tägliche Brot zu teilen. Wir werden dann auch eine neue Gemeinschaft der Menschen untereinander, die alle Unterschiede in sich begreift und dennoch wahre Einheit ermöglicht. So kann Gott auch heute durch seine Kirche handeln. Der Weltjugendtag ist dafür eine ideale Gelegenheit. Amen.

 

 

 

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort!

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz