Predigt bei der Ökumenischen Pfingstvesper

am 10. Mai 2008 in der Augustinerkirche des Priesterseminars in Mainz

Datum:
Samstag, 10. Mai 2008

am 10. Mai 2008 in der Augustinerkirche des Priesterseminars in Mainz

Nach der Himmelfahrt Jesu Christi ist im Anschluss an die Darstellung in der Apostelgeschichte (1,9-11) von der Gemeinde zwischen Christi Himmelfahrt und Pfingsten folgendermaßen die Rede (1,12-14):

Dann kehrten sie vom Ölberg, der nur einen Sabbatweg von Jerusalem entfernt ist, nach Jerusalem zurück. Als sie in die Stadt kamen, gingen sie in das Obergemach hinauf, wo sie nun ständig blieben: Petrus und Johannes, Jakobus und Andreas, Philippus und Thomas, Bartholomäus und Matthäus, Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Simon, der Zelot, sowie Judas, der Sohn des Jakobus. Sie alle verharrten dort einmütig im Gebet, zusammen mit den Frauen und mit Maria, der Mutter Jesu, und mit seinen Brüdern.

Verehrte, liebe Schwestern und Brüder!

Die Lesung, die wir im Anschluss an die Aufnahme Jesu Christi in den Himmel gehört haben, ist ein Zwischenstück, das den Weg von der Himmelfahrt zum Pfingstereignis darlegt. Man kann diesen Abschnitt - wie im Zwischentitel unserer Einheitsübersetzung - überschreiben mit: Betende Gemeinde. Zwei Kennzeichen, die besonders bei Lukas immer wieder für die Urgemeinde maßgebend hervortreten, werden auch hier betont: Es ist eine Gemeinschaft, die sich in beharrlichem Gebet auf das Kommen des Geistes vorbereitet. Das nachdrückliche Ausharren im Gebet (vgl. Apg 2,42.46; 6,4) wie das einträchtige Gemeinschaftsleben (2,42.46; 4,24; 5,12; 15,25) sind die Hauptkennzeichen der frühesten Gemeinschaft der Christen.

Die Tradition der Kunst in der Kirche hat aus diesen Worten ein Bild geschaffen, das eine wichtige Stellung einnimmt in der Darstellung der Kirche und der Mutter des Herrn. Die Apostel sind mit Maria versammelt. Es sind elf Apostel. In diesen Tagen wird Matthias hinzugewählt (vgl. Apg 1,15-26). Die Schar der Elf umfasst nach den Worten des Petrus „die Männer, die die ganze Zeit mit uns zusammen waren, als Jesus, der Herr, bei uns ein- und ausging, angefangen von der Taufe durch Johannes bis zu dem Tag, an dem er von uns ging und aufgenommen wurde" (1,21-22). Schließlich werden zu dieser Apostelliste hinzugezählt die Frauen und Maria, die Mutter des Herrn, und seine Brüder (1,14). Es sind die wichtigsten Zeugen, die Jesus begleiteten. Maria war diejenige, die alle Ereignisse im Herzen bewahrte und erwog, die Jesu Geburt und Kindheit umgaben (2,19.51). Ganz bewusst wird hier eine Linie gezogen von der Gemeinschaft der Jünger und Frauen um Jesus (vgl. Lk 23,49) zu der ersten Gemeinde der Kirchengeschichte. Das Bild der Apostel mit Maria hat also die Jesuszeit mit der Zeit der Kirche eng verbunden.

Es gibt sehr verschiedene Darstellungen dieser betenden Gemeinschaft der Apostel mit der Mutter des Herrn. Wir brauchen dieser Geschichte jetzt nicht näher nachzugehen. Ich habe Ihnen ein Bild aus dem Karmeliterchorbuch aus Mainz um 1430 mitgebracht. Aber auch im berühmten Mainzer Evangeliar, das in Aschaffenburg liegt und vor kurzem hier zu sehen war, befindet sich eine sehr ansprechende Darstellung. Beides gehört eng zusammen: die betende Urgemeinde und Maria. Diese Gemeinde ist das Urbild der Kirche. Dies wird mit den Aposteln gleichsam personifiziert in der Mutter des Herrn. In diesem Sinne ist Maria das Urbild der Kirche (vgl. besonders die Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils „Lumen gentium", Kapitel 8, Art. 52-69, bes. 60 ff.). Beide spiegeln sich wechselseitig wider, wenn auch Maria, die zugleich mit den anderen die Urgemeinde bildet, als die Mutter des Herrn einen gewissen Vorrang erhält. Deshalb bekommt sie in den Bildern vor allem der späteren Zeit einen immer wichtigeren Platz im Ganzen, ohne die Apostel in ihrer Bedeutung zu mindern.

Dies ist die Situation, in der wir auch am heutigen Abend in der Vigil von Pfingsten stehen. Es ist freilich nicht nur eine Erinnerung an das damalige Geschehen, sondern es zeigt uns auch das frühe Verständnis von Kirche, das uns bis heute prägt. Denn wenn wir heute von Kirche reden, dann denken wir sehr oft bloß an die Strukturen und die Organisation, die Ämter und die Dienste, die Funktionen in der Gesellschaft und das Verhältnis der getrennten Kirchen zueinander. Hier geht es aber zunächst um etwas ganz anderes: Kirche ist eine echte Gemeinschaft, die verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Gaben zusammenruft. Sie scharen sich jedoch zuerst um den Herrn. Sie sind auf seine Gegenwart und sein Wirken angewiesen. Darum beten sie inständig um das Kommen des Geistes, der ihnen von Jesus selbst zugesagt worden ist („Aber ihr werdet die Kraft des heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommen wird; und ihr werdet meine Zeugen sein ...").

Sie sind keine Gemeinschaft, die allein auf sich baut. Zwar geht es um einzelne Menschen, die - wie die Apostelliste zeigt -, ihre Individualität und jeweils einen eigenen Namen haben, sich aber nicht dabei versteifen und abschließen. Es ist für diese Gemeinschaft ganz wesentlich, dass „alle einmütig verharrten im Gebet". Sie öffnen sich ganz nach oben und wissen, dass sie zur Führung der Kirche in dieser Welt den Geist Gottes brauchen. Darum ist diese Zeit zwischen Himmelfahrt und Pfingsten eine besondere Zeit des inständigen Betens und der konkreten Bitte zu Gott hin. Es ist darum auch nicht zufällig dass viele Bilder dieser betenden Gemeinde vor allem Maria als so genannte „Orante" darstellt, d.h. als einen Menschen mit erhobenen Armen und aufwärts gerichtetem Blick. Wir kennen diese Gebetshaltung auch von der Feier der hl. Messe, wenn der Priester mit erhobenen Armen betet. Der ganze Mensch wird in diese Bewegung hineingenommen: er lässt sich los, er streckt sich zum Licht, er öffnet sich ganz dem Wort und den Winken Gottes. Dies ist kein beliebiges Bild. Es zeigt, was der Mensch im tiefsten Grund seines Wesens ist: einer, der offen steht, sich gegenüber Gott und dem Mitmenschen nicht verschließt, alle Hoffnung auf Gott richtet und sich von ihm erfüllen lässt.

Im Blick auf Maria wird dies besonders konkret anschaulich. Diese Haltung zeigt sich ja bei der Verheißung der Geburt Jesu: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast." (Lk 1,38). Und Elisabeth bestätigt diesen Zusammenhang, wenn sie beim Besuch Marias sagt: „Selig ist die, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ." (2,45). Sie hat sich nicht nur passiv geöffnet und gewartet, sondern hat das ihr zugedachte Wort im Herzen und mit der ganzen Existenz angenommen.

Dies ist wohl der Grund, warum Lukas so viel Interesse hat an Maria, der Mutter des Herrn. Im Lukasevangelium ist sie zur beherrschenden Figur der so genannten Vorgeschichte Jesu Christi geworden. Lukas sieht in ihr die Zeugin, die die Ereignisse der Geschichte Jesu von Anfang an „bewahrte" und „in ihrem Herzen bewegte". Deshalb war es wohl auch für Lukas von großer Bedeutung, diese Grundhaltung Mariens in das Fundament von Kirche einzubeziehen. In diesem Sinne ist Maria auf ganz besondere Weise Urbild der Kirche. Über ihren weiteren Weg schweigt das Neue Testament. Maria kommt hier (Apg 1,14) zum letzten Mal vor. So bleibt sie der Kirche grundlegend verbunden. Dies ist schließlich auch das Wesentliche. Es bleibt den späteren Marienlegenden vorbehalten, den weiteren Weg der Gottesmutter fantasievoll auszubauen. Auch von den Brüdern Jesu ist nicht mehr weiter die Rede. Das Bild ist knapp, weil es nur auf die zentrale Wahrheit ankommt. Lukas gilt als ein Maler, der weiß, wie wichtig jeder Strich ist, wie wichtig aber auch Konzentration und Beherrschung sind.

Maria ist in diesem Sinne gut biblisch das Urbild der Kirche. Dies könnte unsere theologischen Gespräche über die Kirche, die heute an der Tagesordnung sind und auch sehr dringlich erscheinen, noch stärker befruchten. Wir verstehen dann Kirche primär als die Versammlung der Glaubenden, die auf Gottes Wort hören und sich von ihm leiten lassen. Ihr Leben ist geprägt von der Vielfalt der einzelnen Personen; durch die Offenheit und Hingabe zu Gott hin verzichten sie jedoch auf jedes Sichaufblähen und erreichen dadurch eine wirkliche Einmütigkeit. Beides braucht einander, das Ausharren im Gebet und die Eintracht im gemeinschaftlichen Leben. Auf dieses Grundbild von Kirche müssten wir uns leicht verständigen, zumal es auch durch die Kunst uns immer wieder in verschiedenen Formen nahe gebracht wird. Es ist auch das, was in der Kantate J. S. Bachs „Erwünschtes Freudenlicht" (BWV 184) am heutigen Abend im Vordergrund steht: „Wir, sein erwähltes Volk, empfinden seine Kraft; in seiner Hand allein ist, was uns Labsal schafft. Was unser Herze kräftig stärket." So kommen wir auch mit unseren ökumenischen Problemen nach vorne, indem wir auf dieses spirituelle Urbild von Kirche schauen, das wir in Maria kennen. Hier ist sie, die immer wieder geforderte Spiritualität in und für die Ökumene.

Der Pfingstgeist, der auf die junge Kirche herabkommen wird, wird besonders die Apostel befähigen, die Saat der Frohen Botschaft bis an die Grenzen der Erde auszubreiten. Er wird die Kirche vollends bereit machen, ihre Aufgabe nach innen und nach außen zu erfüllen, nämlich zugleich Sammlung und Sendung zu sein. Beides gehört eng zusammen. Nur beides zusammen erfüllt den Dienst eines Zeugen für die Frohe Botschaft. So kann es dann am Pfingstfest aus dem Mund vieler Menschen aus allen Völkern heißen: „Wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden." (2,11). Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

 

Hinweis:

Zur Auslegung von Apg 1,14 vgl. die Kommentare zur Apostelgeschichte, vor allem von E. Haenchen, G. Schneider, J. Roloff, A. Weißer, J. Zmijewski, besonders auch die exegetisch-bibeltheologischen Monografien zu Maria von J. Zmijewski (Die Mutter des Messias), Kevelaer 1989; B. Forte, Maria. Mutter und Schwester des Glaubens, Zürich 1990 und „Maria im Neuen Testament. Eine Gemeinschaftsstudie von protestantischen und römisch-katholischen Gelehrten, Stuttgart 1981. Besonders hilfreich sind auch die Studien von H. Rahner (Maria und die Kirche), Innsbruck 1951; J. Ratzinger/H. U. von Balthasar (Maria. Kirche im Ursprung), 4. Aufl., Freiburg i. Br. 1997. In kunstgeschichtlicher Hinsicht vgl. besonders G. Schiller, Ikonografie der christlichen Kunst, Bd. 4,1: Die Kirche, Bd. 4,2: Maria, Gütersloh 1978/80; W. Schmitt-Lieb (Hg.), Maria - mater fidelium. Mutter der Glaubenden, Würzburg 1987; K. Schreiner, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München 1994.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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