Predigt beim Ökumenischen Gottesdienst am Buß- und Bettag

am 20. November 2013 in der Christuskirche in Mainz

Datum:
Mittwoch, 20. November 2013

am 20. November 2013 in der Christuskirche in Mainz

(gemeinsam mit Kirchenpräsident Dr. Volker Jung)

Schrifttext:
Vergeltet niemand Böses mit Bösem! Seid allen Menschen gegenüber auf Gutes bedacht! Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden! Rächt euch nicht selber, liebe Brüder, sondern lasst Raum für den Zorn (Gottes); denn in der Schrift steht: Mein ist die Rache, ich werde vergelten, spricht der Herr. Vielmehr: Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken; tust du das, dann sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt. Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!" (Röm 12,17-21)

In der Reformationsdekade vom Jahr 2007 bis zum Jubiläum selbst im 2017 haben wir bis vor wenigen Wochen ein Jahr lang das Thema „Toleranz" erörtert. In der Tat haben wir damit uns einem Thema zugewandt, das zu den zentralen Problemen des menschlichen Zusammenwohnens gehört. In der Neuzeit hat sich im Zug einer Stabilisierung der Menschenrechte besonders in der Aufklärung die Toleranz als ein Grundwert in unseren modernen Gesellschaften herausgebildet. So wurde sie auch in die frühen Verfassungen aufgenommen. Dennoch hatte es die Toleranz in der konkreten Verwirklichung immer schwer.

Auch die christlichen Kirchen haben sich nicht leicht getan mit der Forderung nach Toleranz. Zwar gab es immer wieder einzelne Theologen und christlich inspirierte Staatsmänner, die Toleranz forderten bzw. ausübten. Schon im Mittelalter wurde vor allem von Thomas von Aquin gelehrt, der Mensch müsse dem Anspruch seines Gewissens folgen, auch wenn er irre. Der Pforzheimer Humanist Johannes Reuchlin hat besonders Toleranz gefordert für die Juden. Luther hat sie gelegentlich unterstützt, aber in verschiedenen Maßnahmen und Schriften, z.B. gegen die Täufer und die Juden, auch wieder verletzt. Es ist für die Kirchen auch nicht einfach, denn sie müssen die Toleranz immer auch verstehen unter der Voraussetzung des Anspruchs auf die Wahrheit des christlichen Glaubens. Oft ist die Toleranz auch als eine Förderung der Gleichgültigkeit und des Verzichtes auf Wahrheitserkenntnis verstanden worden. Dagegen musste sich die Kirche wehren.

In dem zu Ende gegangenen Jahresabschnitt in der Reformationsdekade haben wir das Bewusstsein von der Vertiefung der in unserer Gesellschaft geforderten Toleranz gestärkt. Nicht zufällig wurde das Themenjahr „Toleranz" vor einem guten Jahr bundesweit in Worms eröffnet, wo Luther 1521 auf der Duldung seiner theologischen und reformerischen Position beharrte. Auf katholischer Seite begehen wir in diesen Jahren zwischen 2012 und 2015 die Abhaltung des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren. Ein ganz bemerkenswerter Text stellt die Erklärung über die „Religionsfreiheit" dar, die vier Jahre heftig umkämpft war und schließlich am letzten Tag der konziliaren Versammlung, am 7. Dezember 1965, mit einer hohen Mehrheit verabschiedet wurde. Die Erklärung „Dignitatis humanae" ist vielleicht einer der wichtigsten Früchte des Zweiten Vatikanischen Konzils. Es ist wohl auch ein Thema, bei dem die Kirche vielleicht am stärksten von bisherigen Positionen vor allem im 19. Jahrhundert abrückte. Freilich haben die Gegner von damals auch nicht mehr jene Macht, die sie einmal hatten.

Blickt man in die Hl. Schrift, so findet man natürlich keine direkten Texte über die Toleranz bzw. die Religionsfreiheit im modernen Sinne. Aber wir finden viele Aufforderungen, die man nicht übersehen darf. Allein der Brief des hl. Paulus an die Römer enthält viele Aussagen zur Auseinandersetzung des Menschen mit dem Bösen und all seinen Verführungen. Ich habe mir aus dem Römerbrief für den heutigen Abend und die Zuwendung zum Thema der Toleranz einen wichtigen Vers ausgewählt, der gleichsam der Schlusssatz einer etwas längeren Darlegung darstellt: „Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute." (Röm 21,21)

Wir stellen oft im Zusammenhang von Gewalt und Toleranz fest, dass wir in unserer menschlichen Beziehung beim Erleiden von bösen Schlägen auf Rache und Vergeltung sinnen. Wir alle kennen den Verhaltensgrundsatz: „Wie du mir - so ich dir". Es ist ein regelrechter Teufelskreis der Rache, wenn wir diese Einstellung nicht ändern. Der ewige Kreislauf der Rache hat in unserer Welt ein erdrückendes Übergewicht und ist schuld an der Verfestigung und Unversöhnlichkeit fast aller Konflikte.

Unser Vers schließt eine Erörterung ab, die schon damit beginnt: „Vergeltet niemand Böses mit Bösem! Seid allen Menschen gegenüber auf Gutes bedacht!" (12,17) Wir sollten mit allen Menschen Frieden anstreben, soweit es nur möglich ist. Alle Gedanken der Rache und der Vergeltung sollten wir Gott selbst überlassen (vgl. 12,19). Wir können den Unheilskreis nur aufbrechen, wenn wir mit dem Glauben einen neuen Anfang setzen. Wir müssen dem Guten zur Übermacht verhelfen. Dies kann man nur durch den Verzicht auf die Automatik von Gewalt und Gegengewalt.

Dies ist aber nicht unsere übliche menschliche Grundhaltung. Wir müssen von unserer eigenen Gewalttätigkeit loskommen, ihr entsagen und uns nicht durch sie zur Dominanz und zum Zorn besiegen lassen. Letztlich ist dies nur möglich, wenn wir die Gerechtigkeit Gottes über die Ungerechtigkeit des Menschen siegen lassen. Wir müssen diesen Verzicht auf die Gewaltanwendung leisten, indem wir wie Jesus am Kreuz das Böse durch die Liebe in seiner letzten Ohnmacht bloßstellen. Wir können den Hass nur durchbrechen, wenn wir eine neue Sicht gewinnen und mit einem neuen Willen dem Bösen das Gute entgegensetzen. Dies muss aber eine ungeheuchelte Liebe sein, wie es Paulus an anderer Stelle immer wieder fordert (vgl. Röm 3,8; 12,9; 13,10).

Der Christ wird aufgefordert, durch den Verzicht auf jede Gewalt den Gegner selbst vor den schlimmen Folgen seines Tuns zu bewahren und sich nicht zum Bösen anregen zu lassen. Die Macht des Bösen wird in engen Zusammenhang gebracht mit der Sünde (vgl. Röm 7,7-21). Es ist die Macht, die in uns wohnt und von uns Besitz ergriffen hat. Nur an einer einzigen Stelle bringt Paulus auch den Teufel mit ins Spiel (vgl. Röm 16,19).

Es ist kein Wunder, dass diese abschließende Schlussfolgerung des Paulus, dass wir uns nicht vom Bösen besiegen lassen, sondern das Böse durch das Gute besiegen, auch schon in der Kultur des Zusammenlebens der Menschen vor und neben dem christlichen Glauben auftaucht. Man kann ähnliche Sätze in vielen Variationen im Judentum, in der heidnischen Antike, in der griechischen und der römischen Welt und auch in Qumran entdecken. Die menschliche Vernunft, wenn sie geläutert wird, kommt auf diese Einsicht aufgrund der menschlichen Erfahrung. In vielen jüdischen Texten gilt Joseph aus dem Alten Testament als Muster des Verzichtes auf Vergeltung. Er wird für seinen Großmut gepriesen, weil er seine Brüder, die ihm Böses getan haben, nicht bestraft. Im Neuen Testament geht die apostolische Ermahnung besonders von Jesus selbst aus (vgl. Röm 15,3; Phil 2,1-11; 1 Petr 2,21-25).

Die Christen müssen heute in aller Welt viel Böses erdulden, weil sie gerade in unseren Jahren weltweit verfolgt werden. So gilt es trotz der allseitigen Bedrohung, dass wir uns das Wort des hl. Paulus zu Eigen machen. Wir mussten ja auch unter uns Christen in den letzten Jahrzehnten lernen, auf alle Formen der Anfeindung und Diskriminierung zu verzichten. Sonst könnten wir nicht wirklich ökumenisch miteinander umgehen (vgl. die vorausgehende Predigt von Herrn Kirchenpräsident Dr. Volker Jung zu Joh 17 über die Einheit). Dabei dürfen wir gewiss nicht übersehen, dass die Ausführungen des hl. Paulus vor allem gegenüber Nichtchristen gelten. Dies ist in besonderer Weise eine Wirkung des christlichen Ethos, durchaus aber auch verwandt mit den Erfahrungen des Menschen selbst im Umgang mit seinesgleichen. Umso mehr sind wir, Christen und Nichtchristen, gefordert, dieses vor Ort täglich trotz vieler Widerstände und Vergeltungsbestrebungen von uns selbst und auch von anderen in die Tat umzusetzen: Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz