Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann (Mainz)

im Eröffnungsgottesdienst der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 23. September 2003 im Hohen Dom zu Fulda

Datum:
Dienstag, 23. September 2003

im Eröffnungsgottesdienst der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 23. September 2003 im Hohen Dom zu Fulda

Predigttext: Dt 5,1-3.6-7.11-14.16-22 und bes. Lk 8,19-21 | 

Am gestrigen Abend habe ich im Eröffnungsreferat "Zusammenhalt und Gerechtigkeit, Solidarität und Verantwortung zwischen den Generationen" behandelt. Es ging dabei um die Einsicht, dass eine Generation nicht nur durch eine bestimmte Zeitgenossenschaft mit den selben Erfahrungen, Erwartungen und Verhaltensweisen geprägt wird, sondern dass wir auch den größeren Zusammenhang zwischen den vorausgehenden und den folgenden Generationen in den Blick nehmen müssen. Wir sprechen viel von der jetzt lebenden und der künftigen Generation. In Wirklichkeit geht es immer um drei oder gar fünf Generationen, auf deren Schultern wir stehen, die wir selber sind und für deren Zukunft wir mit verantwortlich bleiben. Dabei haben wir besonders auch die leibliche Verankerung der Generationen in der Beziehung der Eltern zu den Kindern und in den verschiedenen Familienzyklen von der Gründung einer Ehe bis in das hohe Alter hinein in den Blick genommen.

Dies ist und bleibt wichtig für unser Zusammenleben und die Formen, in denen dies geschieht. Es hat aber auch große Konsequenzen für das tragende Gerüst und das Verantwortungsgefüge, die hinter unseren Sozialsystemen stehen und diese begründen. Ihre Krise bedeutet auch eine Störung im Zusammenhalt und in der Solidarität der Generationen untereinander. Oft ist es eine Folge davon. Dabei ist dies nicht nur eine biologische oder soziale Struktur im engeren Sinn, sondern erweist sich als eine eminent ethische Aufgabe, nämlich entschieden und beständig für "Zusammenhalt und Gerechtigkeit, Solidarität und Verantwortung zwischen den Generationen" zu sorgen.

Daran erinnert uns am heutigen Morgen in diesem Gottesdienst zuerst die Lesung aus dem Alten Testament, näherhin die Fassung der Zehn Gebote nach dem Buch Deuteronomium. Dort heißt es zusammenfassend: "Ehre deinen Vater und deine Mutter, wie es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht hat, damit du lange lebst und es dir gut geht in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt." (Dt 5,16) Dieses Verhältnis wird im ganzen Alten Testament immer wieder vor Augen gestellt und entfaltet (vgl. z. B. Sir 30,1-13).

Diese damals und heute auch unter anderen Bedingungen gültige Struktur darf jedoch nicht falsch verstanden werden. Schon im Alten Bund wird überaus deutlich, dass der Generationenzusammenhang nicht nur in der Zeugung und Weitergabe neuen Lebens besteht, sondern dass damit auch die Vermittlung der tragenden Werte und besonders des Glaubens an die kommenden Generationen gemeint ist. Es geht nicht zuletzt um eine darauf gerichtete Erziehung. In diesem Sinne darf man auch den Generationszusammenhang in der Familie nicht als einen Clan verstehen, der die Grenzen menschlicher Sorge mit dem Bereich einer Familie identifiziert und letztlich rigoros vor allem auf die Interessen und Bedürfnisse des eigenen Verbundes schaut. Wir erinnern uns leicht der Großfamilien und Stämme, die sich oft so verhalten, als ob die Menschheit nur aus ihnen bestünde.

In diesem Sinne ist es eine gute Lehre, in das heutige Evangelium zu schauen, dass wir uns nicht zum Thema ausgesucht haben, sondern heute überall in unserer Kirche zur Verlesung kommt. Wir haben heute die Fassung bei Lukas (8,19-21) gehört, die wie der Text bei Matthäus (12,26-50) auf die Perikope bei Markus (3,31-35) zurückgeht. Jesus ist im Freien und konzentrisch umgeben von seinen Jüngern und dem Volk (vgl. 8,1-3.4.9). Nun kommt Bewegung in diese Szene. Verwandte Jesu drängen durch diesen Ring des umgebenden Volkes. Die einzelnen Evangelisten gestalten die Szene je auf ihre Weise, auch wenn sie alle auf dieselbe Quelle zurückgehen. In der Markus-Wiedergabe herrscht gegenüber der leiblichen Familie Jesu Zurückhaltung. Die leibliche und die wahre "Familie Jesu" werden gegenübergestellt, und zwar in ziemlich schroffer Form (vgl. schon Mk 3,20 f. und 3,33), was besonders in der Frage Jesu zum Ausdruck kommt: "Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?" Bei Lukas – ähnlich wie bei Matthäus – findet sich kaum mehr etwas vom Unverständnis der Angehörigen Jesu. Es kommt darauf nicht an. Die eher wohlwollend gehaltene Darstellung des Lukas zielt ganz auf das Schlusswort. Das Auftreten der Mutter und der Brüder wird ganz in den Dienst der Ankündigung der "neuen Familie" gestellt. Gewiss gibt es noch Differenzen. So etwa wird dem Sehen-Wollen der leiblichen Angehörigen die Aufforderung zum Hören und Tun des Wortes Gottes gegenübergestellt.

Im Vergleich zu der "natürlichen" Beziehung Jesu zu seiner Mutter und zu seinen Brüdern ist die Antwort, die Jesus gibt, freilich geradezu schockierend. Es ist schon etwas befremdlich, dass sie gar nicht zu Jesus gelangen (8,19). Jesu Antwort ist beinahe schroff: "Meine Mutter und meine Brüder sind die, die das Wort Gottes hören und danach handeln." Ein ähnliches Wort findet sich bei der Seligpreisung der Frau, die Jesus in ihrem Schoß getragen und geboren hat: "Er aber erwiderte: Selig sind vielmehr die, die das Wort Gottes hören und es befolgen." (11,27 f.) Für das Evangelium ist also die Blutsverwandtschaft nicht entscheidend. Die Verwandtschaft als solche wird, besonders bei Lukas, freilich auch nicht kritisch gesehen oder gering geschätzt. Es hat durchaus Sinn, von Verwandtschaft und Generationenzusammenhang zu sprechen. Aber Jesus kommt es gerade hier auf etwas Eigenes und Neues an.

Wenn man etwas genauer in den Lukas-Text hineinschaut, entdeckt man, dass der ganze Abschnitt 8,4-21 über das Wort Gottes und seine rechte Aufnahme handelt. So spricht Lukas – im Unterschied zu Markus (3,35) – nicht nur vom Tun des Willens Gottes, sondern er ersetzt diesen Ausdruck (vgl. schon 8,15) durch die Formulierung vom Hören auf das Wort Gottes und dem Handeln nach ihm. Das Tun des Willens Gottes eröffnet sich im Wort Jesu. Lukas betont damit auch, dass vor allem Tun und erst recht allem Aktionismus Gottes Wort gehört werden muss. Ohne dass Lukas an der Markus-Vorlage viel ändert, setzt er doch einen ganz eigenen Akzent. Schon in der Deutung des Gleichnisses vom Sämann legt Lukas besonderen Wert auf das "Wort Gottes" (8,11b). Alle, die dieses Wort mit bereitem Herzen aufnehmen, es bewahren und Frucht bringen in Beharrlichkeit, sind der gute Boden (vgl. 8,15). Lukas bringt so seine Ausführungen über das "Wort Gottes", die bei ihm einen besondere Rolle spielen, in einen inneren Zusammenhang und zu einem Höhepunkt, der zugleich Abschluss ist.

Die ganze Szene hat freilich auch noch eine Bedeutung für die "neue Familie", die nun entsteht. Der Jüngerkreis Jesu wird als "Familie" Jesu bestimmt. Es geht um die Bestimmung von Kirche. Sie verwirklicht sich als Gemeinschaft derer, die das Wort Gottes hören und es befolgen. Das Wort Gottes, das den Menschen ruft und sie aus allen Richtungen und Gegenden sammelt, hat eine große Kraft und bildet Kirche. Wenn dieses Wort gehört und befolgt wird, wird eine neue "Verwandtschaft" begründet (vgl. auch die Verse 8.10 und 16, vgl. auch Joh 15,14). Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit entstehen nicht allein und schon gar nicht ausschließlich durch das Blut und die biologische Abstammung. Sie sind ein wichtiges Erbe, aber nicht die einzige Form wahrer Verwandtschaft. Es gibt eine Wahlverwandtschaft, die vor allem durch die Gemeinsamkeit des Glaubens im Hören auf das Wort Gottes und im Handeln auf diesem Fundament begründet wird. So wird die stärkste menschliche Beziehung (Mutter-Kind), besonders wenn sie sich exklusiv und absolut setzt, durchbrochen. Dies ruft nach einem sorgfältigen Umgang mit diesen Beziehungen, ist aber auch Trost und Hilfe, wenn sie zerbrochen sind.

Der Redeweise "Meine Mutter und meine Brüder sind die (...)" sollte man zunächst nicht so viel Aufmerksamkeit zuwenden, weil man hier eine eigene Anführung der "Schwestern" vermisst. Sie sind ja durch die Ansprache der Mutter – sogar an erster Stelle – mitgenannt. Man muss also gar nicht Zuflucht nehmen zu der durchaus begründeten Auffassung, dass im Urchristentum das Wort "Bruder" relativ geschlechtsneutral benutzt wird und auch die Schwestern in sich begreift. Diese Bezeichnung betont den engen "familiären" Zusammenhalt (vgl. Mk 10,30), die Würde (Phlm 16) und die grundsätzliche Gleichheit eines jeden einzelnen Christen (vgl. Mt 23,8-12 und auch Mt 25,31-46). Jedenfalls wird durch diese "Geschwisterlichkeit" intensive Zusammengehörigkeit, Vertrautheit und Ebenbürtigkeit der Mitglieder in der Kirche zum Ausdruck gebracht. Da im Begriff Bruder als Mitchrist und Nächster die Schwester selbstverständlich eingeschlossen ist (vgl. z. B. Mt 25,40, Phil 4,1), gibt es eine grundlegende Zusammengehörigkeit, Solidarität und Gleichheit unter den Geschwistern. Gerade deshalb wird auch zur Bruderliebe angehalten (vgl. 1 Thess 4,9 f.; Röm 14,10; 1 Joh u.ö.).

Diese Eigenschaften zeigen aber auch, dass die "neue Familie" im Blick auf Zusammengehörigkeit und Solidarität eine eigene Bedeutung und Kraft gewinnt. Sie intensiviert die Beziehungen, die durch die Generationengemeinschaft grundgelegt werden. Sie erweitert den Umkreis über die Blutsverwandten hinaus und kann viele integrieren, die nicht Verwandte im natürlichem Sinne sind. Damit ist Kirche dann doch wiederum in einer engen Beziehung zum allgemeinen Generationszusammenhang. Sie ist auch hier Sauerteig und Ferment, innerste Triebkraft und gleichsam das Sakrament Gottes für die Welt.

Wir sprechen im Bereich von Glaube und Kirche – manchmal aus Routine und nicht selten auch etwas gedankenlos – von den Schwestern und Brüdern, den Brüdern und Schwestern. Wenn wir aber unseren heutigen Evangeliumstext bedenken, spüren wir, wie tiefreichend und einzigartig diese Anrede ist. Dabei darf sie nicht mit einer allgemeinen Verbrüderung, die abstrakt die Millionen umschlingt, verwechselt werden. Sie meint zunächst jeden Einzelnen und jede Einzelne, aber sie alle auch zusammen in einer Gemeinschaft, die die Würde der Person wahrt und doch wahre Zusammengehörigkeit schafft. Niemand soll sagen, dies habe keine Auswirkungen auf den notwendigen Zusammenhang und Zusammenhalt unter den Generationen. Amen.

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Es gilt das gesprochene Wort

Veröffentlichung der Deutschen Bischofskonferenz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz