Wir feiern heute nicht nur wie in jedem Jahr das Fest des Hl. Thomas von Aquin, einem der wohl bedeutendsten theologischen Lehrer unserer Kirche, der auch „Kirchenlehrer" ist, sondern zugleich auch die Erinnerung an die Gründung des Predigerordens, d.h. der Dominikaner, vor 800 Jahren. Es ist wohl nötig, dass wir zuerst an diese Gründung denken, denn über den Hl. Thomas wissen wir vielleicht etwas mehr, es wird auch immer wiederholt beim jährlichen Gottesdienst.
Ich glaube, dass man die Entstehung des Dominikanerordens sehr bewusst in die Zeit hineinstellen muss, in der die Gründung stattfand. In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat man mehr und mehr erkannt, wie wichtig die kulturelle Wende im 13. Jahrhundert ist. In dieser Zeit ist auch das IV. Laterankonzil aus dem Jahre 1215 wichtig, bei dem wohl alle im damaligen Europa beheimateten Religionen, Volksstämme und Konfessionen versammelt waren. Was sie zusammenführte, war der über alle politischen Strömungen, kulturelle Verschiedenheiten und kirchliche Gliederungen hinausgehende christliche Glaube. Das Konzil war eine glückliche und geeignete Form, um diese differenzierte Einheit im Horizont des christlichen Glaubens darzustellen.
Dabei spielte die Wiederaneignung des antiken Wissens, die in großem Stil Kaiser Karl der Große angestoßen hatte, eine wichtige Rolle. Es entstanden viele Hof- und Klosterschulen. Mit dieser neuen Wertschätzung entstand aber im 12. Jahrhundert auch eine regelrechte Neukonzeption vor allem der Theologie als Wissenschaft. Sie ist in besonderer Weise mit Albert dem Großen, dem Lehrer des Thomas von Aquin, verbunden. Es ist dabei sehr zu beachten, wie nun durch die Rezeption des Aristoteles eine Wende im Verständnis von Theologie erfolgt. Die Theologie scheint vor diesem Hintergrund nicht mehr als eine Einheitswissenschaft, die alles integriert, sondern im Vordergrund steht eher ein Netzwerk von Wissenschaften, in dem der Theologie ein Platz besonderer Art zugeordnet wird. Ich brauche in einer Predigt dies nicht näher auszuführen. Jedenfalls entsteht eine neue Konzeption und Kultur von Wissenschaft, die in Spannung steht zur traditionellen Perspektive des Glaubens. Dies muss hier genügen.
Mit diesem Wandel verbinden sich auch andere Verschiebungen im geistigen und gesellschaftlichen Leben. So gibt es z.B. eine starke „Verstädterung" des gesamten Lebens. Es gibt auch eine intensive Spezialisierung des jeweiligen Wissens. Dies hat auch Folgen für die Stellung der Theologie im Ganzen der Wissenschaften und des gesellschaftlichen Lebens. Dies geht bis in die Struktur des Gesellschaftsideals, wo die Gleichheit aller Bürger der Stadt und ihr Recht auf Teilhabe an der Verantwortung in den Vordergrund treten. Es gibt eine Vielheit und Verschiedenheit von Bürgern, die alle an einem Gemeinwesen teilhaben, gibt ein Leben aller in Gemeinschaft und Freiheit. Diese Gestalt der Stadt und des Staates, die erst in der Neuzeit vollends verwirklicht wird, verlangt auch Rücksicht in der Theologie, im geistigen Leben der Kirche und in der Seelsorge.
Zu gleicher Zeit musste die Kirche auch noch größere Anstrengungen unternehmen, um ihren Anspruch aufrechtzuerhalten und um durch Reformen ihre Mitglieder von der Wahrheit des Evangeliums neu zu überzeugen. Dies war besonders notwendig in Südfrankreich und Nordspanien, wo vor allem auch aus Laien bestehende Reformgruppen, die sogenannten Waldenser, Albigenser usw. nicht zuletzt auch durch ihre spirituelle Lebensform auf die Katholiken großen Einfluss ausübten. In diesem Zusammenhang entstanden aus Ordensleuten anderer Gemeinschaften und aus Laien Reformgruppen, um die Anhänger dieser verschiedenen Zweige, die auch zu manchen Häresien neigten, zurückzugewinnen. Diese Reformer waren vor allem auch als Wanderprediger unterwegs, besonders inspiriert durch Dominikus von Caleruega. Der Bischof von Toulouse bestellte ihn und seine Gefährten zu Diözesanpredigern. Das ihnen dort zur Verfügung gestellte Haus mit Kapelle nahm Papst Honorius III. am 22. Dezember 1216 in päpstlichen Schutz und bestätigte die Lebensweise der Gemeinschaft nach der Augustinerregel. Deswegen gilt dieser Akt vor 800 Jahren als Gründungsdatum für die Dominikanergemeinschaft, die auch Predigerorden genannt wurde. Beim Tod des Hl. Dominikus 1221 waren Zielsetzung und Struktur der Gemeinschaft festgelegt. Wichtig war: 1. das zeitgenössische Ideal des Wanderapostolats in evangelischer Armut; 2. der intellektuelle Aufbruch in den schulischen Zentren der Zeit; 3. die im Zuge der „Verstädterung" angestiegene Nachfrage nach religiös-kultischen Dienstleistungen und Unterweisung im Glauben; 4. eine Ekklesiologie, nach der es dem Papst zustand, Personen und Institutionen den Predigtauftrag zu erteilen. Daraus entstanden drei Hauptmerkmale des Ordens: 1. Armut als Verzicht auf Besitz von Produktionsmitteln; Existenzsicherung durch Almosen für seelsorgerische Dienstleistungen; 2. ortsunabhängiger Personenverband mit vielen neuen Strukturelementen der entstandenen Konvente; 3. Einbindung von Seelsorge und Studium in die monastische Lebensweise.
Nach 1216 erlebte die Gemeinschaft zunächst eine ungewöhnliche Ausbreitung. Dies erfolgte auch bei uns, so entstanden wenige Jahre und Jahrzehnte nach 1216 auch bei uns Konvente, in Mainz 1257 und in Worms sogar bereits 1226. Später stockte die Entwicklung: Gründungen waren nämlich fast nur in Städten möglich; dort fehlte nicht selten das Geld für die notwendigen Bauten; es gab auch Streitigkeiten zwischen den Konventen und den Bischöfen; nicht überall fand man die geeigneten Personen, die ja strengen Anforderungen genügen mussten.
Wenigstens kurz sollen einige neue Betätigungsfelder beschrieben werden. Zunächst fällt auf, dass Papst Honorius selbst die Predigttätigkeit des Ordens ungewöhnlich hervorhob. In einem Brief aus dem Jahr 1221 heißt es, dass die Brüder „gänzlich zur uneingeschränkten Verkündigung des Wortes Gottes bestellt sind". Kurze Zeit später schreibt er, dass die Predigerbrüder sich „der Predigt des Wortes Gottes in einem armen und klösterlichen Leben widmen sollen". Predigen bedeutet für Dominikus eine Sendung, die den ganzen Menschen in Beschlag nimmt, sich mit einem konkreten Lebensstil verbindet und eine entsprechende Führung der Gemeinschaft braucht. Dominikus ist dabei Vorbild, denn der Ordensgründer hat „ein Charisma der Predigt, das sich weiterhin in und für die Welt ausbreitet, inmitten der Kirche". Dafür ist es auch notwendig, dass die Brüder gut ausgebildet sind und sich durch das Studium fortbilden, um den Auseinandersetzungen mit den „Häretikern" gewachsen zu sein. Dies erfordert der Dienst der Evangelisierung. Dabei schätzt man vor allem auch die Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit der Welt. Ohne ein sorgfältiges Studium kann man kein echter Verkünder des Evangeliums sein. Die Kenntnis der gegenwärtigen Kultur ist eine wichtige Voraussetzung. Dabei ist auch das gemeinsame Leben eine weitere elementare Notwendigkeit, geprägt vom Gebet und einem einfachen Lebensstil. Predigt erfordert auch eine Lebensgestalt. Es gibt eine Predigt vor der Predigt, nämlich Zeugnis durch das Leben. Man ist auch bis heute überzeugt, dass Kirchenraum und Hörsaal nicht genügen. Auch der „Markt" und das „Forum" sind Orte der Glaubensunterweisung, einschließlich der Argumentation und des Disputs. Dies ist aber nicht nur eine intellektuelle Bemühung, sondern es braucht bestimmte Haltungen gegenüber den Adressaten, so z.B. Mitleid und Demut, Verstehen und Hoffnung, also emotionale Teilnahme am Leben derer, die man ansprechen möchte. Heute nennen wir dies „compassio", was auch ein Eingehen auf die Situation des Menschen einschließt. Gerade nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil sind diese Haltungen in vielen Konventen und in den Strukturen des Ordens vertieft worden. In dieser Haltung muss man auch den Prediger als „prophetisch" verstehen. Umso wichtiger ist das Hören des Wortes Gottes.
Noch vieles wäre zu erwähnen, was nicht Sache einer Predigt ist. Ich will jedoch wenigstens einen wichtigen Gesichtspunkt noch nennen: Wenn der Predigerorden viel davon spricht, dass er eine Familie ist, dann gilt dies auch ganz besonders für seinen großen Einsatz zugunsten der Frauengemeinschaften. Die Begleitung und die spirituelle Bildung gerade der Frauenklöster gehören zu den wesentlichen Aufgaben des Predigerordens. Er hat damit viel mehr auch das Bild der Frau überhaupt aus Einseitigkeiten und Verfälschungen befreit, als man gewöhnlich meint.
Ich halte hier ein, noch vieles wäre zu sagen. Dieses Jubiläum muss für die Kirche auch ein großes Zeichen der Anerkennung und besonders des Dankes sein. Wenn wir uns daran erinnern, mit welcher Schnelligkeit in relativ kurzer Zeit der Orden wuchs, und was er bewirkte, so gilt dies erst recht. So gab es um 1720 ca. 30.000 Dominikaner in 34 Provinzen. Es kamen auch Zeiten des Niedergangs. 1966 waren es noch ca. 10.000. Heute sind es etwa 6.500 in 34 Provinzen. Die Frömmigkeit wurde auf hohem Niveau, besonders auch in den Frauenklöstern, vertieft. In Deutschland stehen dafür Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse. Albertus Magnus und Thomas von Aquin sind bis zum heutigen Tag, kennt man sie im Original, unerschöpfliche Meister des Denkens. Wenn man die Motive und Faktoren der Ordensgründung aus Anlass dieses Rückblicks auf die Zeit vor 800 Jahren betrachtet, kann man nur dankbar sein für das, was der Predigerorden bis hinein in das Zweite Vatikanische Konzil für die Kirche geleistet hat. Ich nenne dafür nur zwei große Namen, Yves Congar und Marie-Dominique Chenu. Ich bin überzeugt, dass uns gewiss neben anderen geistlichen Gemeinschaften und Impulsen auch uns besonders der Dominikanerorden hilft, die Schwierigkeiten und Nöte dieser Zeit zu überstehen, und zwar ohne nutzloses Klagen, aber mit viel schöpferischer Kraft.
Dies gilt auch für das Bistum Mainz. Es galt für das alte Erzbistum Mainz in dessen Grenzen schon früh die ersten Gründungen sind, wie z.B. in Erfurt. Es gilt aber bis heute im viel kleineren Bistum Mainz. Wir sind überaus dankbar, dass wir heute wichtige Konvente haben in Worms und Mainz. In Worms danken wir für den Erhalt des Noviziates und vieler Initiativen, die vom Stift St. Paul ausgehen. In Mainz sind wir besonders dankbar, dass Sie, verehrte Mitbrüder, nach dem Weggang der Kapuziner diese große Gemeinde St. Bonifatius an der Grenze und am Übergang von der Altstadt in die Neustadt übernommen haben. Ich danke Pater Laurentius Höhn, dem gegenwärtigen Pfarrer und allen Mitgliedern. Sie haben heute insgesamt eine große Kommunität, weil auch die Kandidaten für das Priestertum in Ihrem Orden an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz studieren. Sie haben damit eine lebendige Spannung und zugleich Zusammenarbeit zwischen dem Noviziat in Worms, der Pfarrei St. Bonifaz und dem für Sie wichtigen Studium an der hiesigen Universität, alles im kontaktreichen Miteinander mit der Diözese Mainz und besonders dem Priesterseminar. Sie wirken auch in anderen Bereichen unseres Bistums, wenn ich z.B. an die verantwortliche Mitarbeit von Pater Frano in unserem Ordensreferat denke.
So danken wir mit einem herzlichen Vergelt's Gott für Ihre viele Jahrhunderte währende Präsens und Ihren Dienst in Mainz und Worms. Zugleich verbinden wir damit die Hoffnung, dass Sie noch lange segensreich bei uns sein werden. Dafür wollen wir besonders auch in diesem Gottesdienst beten und uns dafür fürbittend an den Hl. Dominikus, an den Hl. Albert den Großen, an den Hl. Thomas von Aquin mit allen heiligen Schwestern und Brüder Ihrer Gemeinschaft wenden. Amen.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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