Wir feiern den 150. Geburtstag von Prälat Dr. Lorenz Werthmann am Fest der hl. Erzengel Michael, Gabriel und Raffael. Der hl. Michael ist in besonderer Weise der Patron unseres Landes und unseres Volkes. Schon sein Name „mikael" heißt in unserer deutschen Sprache: Wer ist wie Gott? (vgl. das einzige Vorkommen im AT bei Dan 10,13.21; 12,1). Der Name stellt uns also immer wieder vor die Entscheidung: für oder gegen Gott? Es ist eine elementare Herausforderung, dass wir Gott Gott sein lassen und ihn nicht verwechseln mit unseren Götzen. Dies bewährt sich in unserem biblisch-christlichen Glauben auf vielfache Weise: im Abschwören gegenüber den Mächten des Bösen, aber auch allen Götzen. Die Gottheit Gottes, für die Michael kämpft, zeigt sich aber auch im freien Lob und Preis, die wir Gott entgegenbringen. Die Entschiedenheit unseres Glaubens wirkt sich auch in unserer Welt aus, nicht zuletzt darin, wie wir miteinander umgehen und wie wir dem Nächsten begegnen. Nicht zuletzt darum gehören Gottesliebe und Nächstenliebe zusammen.
Man kann Lorenz Werthmann durchaus in diese Grundsituation des Christlichen hineinstellen. Er hat damit mehr zu tun, als man vielleicht zuerst denkt. Dafür müssen wir aber ein bisschen ausholen.
Es gehörte immer schon zur biblisch-christlichen Verantwortung in der Welt, dass man den Armen und Bedrängten nicht sich selbst überlässt, sondern ihn als seinesgleichen annimmt und ihn in aller Not unterstützt. Frühere Zeiten haben dies gerne mit dem Wort zusammengefasst, dass wir bereit sind, mittellosen Menschen auch durch finanzielle Unterstützung zu helfen. Dabei hat man vor allem immer an chronisch Kranke, Witwen und Waisen gedacht. Das Almosen, das hier gemeint ist, gehörte im Judentum und im Christentum zusammen mit Gebet und Fasten zu den Grundformen der Frömmigkeit (vgl. Mt 6,2 ff.; Apg 10,4.31). Daraus entstand dann auch eine regerechte Armenpflege, aus der schon in der frühen Zeit des Christentums, besonders aber im Mittelalter, die institutionelle Hilfe für die Armen hervorwuchs, nicht zuletzt die Alten-, Siechen- und Krankenhäuser. Oft waren alle diese Bedürftigen noch in einem Haus. Dies gehört zur Geschichte der christlichen Caritas.
Diese hat sich freilich immer auch an den konkreten Umständen und gesellschaftlichen Bedingungen ausgerichtet. Für unser Thema, nämlich die Situation der Menschen gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ist dies besonders wichtig. Es ist das Jahrhundert der Industrialisierung, des Nationalismus und des Aufstiegs der Arbeiterklasse, aber auch einer wachsenden Verarmung und eines steigenden Elends in der Industriegesellschaft. In einer solchen Situation genügten die bleibend wichtigen, alt überkommenen Begriffe von christlicher „Barmherzigkeit" nur noch unzureichend. Dies galt besonders in der Zeit nach dem Jahr 1848 (Parlament in der Frankfurter Paulskirche), als nämlich die Kirche stärker die Freiheit erlangte, sich gesellschaftlich in freien Zusammenschlüssen, Vereinen und Verbänden zu organisieren, und zwar auch hinsichtlich der Gestaltung der irdisch-weltlichen, ja sozialen Verhältnisse.
Sehr unterschiedliche Persönlichkeiten erkannten diese Zeichen der Zeit. Hier sind Namen zu nennen wie der Gesellenvater Adolph Kolping, der Speyrer Priester Paul Nardini (vor zwei Jahren selig gesprochen) und Bischof Freiherr Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Bischof von Mainz. Gerade er war sich, auch in Auseinandersetzungen mit der linken Arbeiterbewegung, bewusst geworden, dass man den Weg gehen musste von der christlichen Barmherzigkeit zur kirchlichen Sozialpolitik. Papst Leo XIII. hat mehr und mehr diese Notwendigkeit erkannt (vgl. seine Enzyklika „Graves de communi" vom 18.1.1901).
In diese Zeit hinein gehört Lorenz Werthmann (1858-1921). Über sein Leben wird an anderer Stelle gesprochen, sodass ich seine Herkunft und sein Wirken unmittelbar in Freiburg übergehen darf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts häuften sich im Katholizismus die Appelle und Forderungen nach einer Bündelung der Kräfte in der Armenpflege. Die Katholiken waren auch herausgefordert durch die 1848 begründete „Innere Mission", die mit dem Namen des evangelischen Theologen Johann Hinrich Wichern verbunden ist. Jeder denkt an das „Raue Haus", das er in Hamburg für verarmte Jugendliche gründete. Deshalb kann man den Ruf gerade auch katholischer Laien verstehen: „Was unserer katholischen Wohltätigkeit abgeht, das sind vor allem zwei Dinge: erstens die Publizität unserer Einrichtungen, ihre öffentliche Bekanntmachung, die Mitteilung ihrer Aufgaben und Resultate; zweitens die organische Verbindung derselben untereinander, ihre Organisation." (Max Brandts, Landesrat in Düsseldorf, 1891). Und Franz Hitze, Generalsekretär des Verbandes „Arbeiterwohl", mahnte fünf Jahre später: „Mehr Organisation! - Das ist der Ruf der Zeit auf allen Gebieten; er gilt auch für die Caritas ... Die Verhältnisse werden verwickelter, schwieriger. Die Concurrenz wird schärfer. Guter Wille und Opfersinn allein genügen nicht - es muss klar und zielbewusst gearbeitet werden." (1896).
Der Sekretär des Freiburger Erzbischofs, Lorenz Werthmann, hat diese Situation begriffen. Er wollte eine Organisation der gesamten katholischen Nächstenliebe, soweit sie institutionell ausgerichtet war, schaffen, die von möglichst vielen gebildeten Mitarbeitern getragen und durch eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit wirksam werden sollte. Mit der ihm eigenen Dynamik und Zielstrebigkeit, die sich manchmal auch etwas autoritär äußerten, ging er an das Werk, sodass es im Lauf weniger Jahre zu einer Gründung des Caritasverbandes für das katholische Deutschland kam (1896/97). Dabei ging Werthmann sehr zielstrebig vor und wollte die planmäßige Förderung aller Werke der Nächstenliebe unter die Autorität der Bischöfe stellen.
Es scheint mir sehr bezeichnend zu sein, welche Grundforderung Lorenz Werthmann zur Verwirklichung dieser Konzeption aufstellte. Mit seinen eigenen Worten sind es vor allem drei wichtige Komponenten, die schließlich zur Gründung des Deutschen Caritasverbandes geführt haben und zum Teil noch bis heute Auftrag und Tätigkeit bestimmen. Er selbst hat drei Säulen dafür genannt:
1. Er sagt ein klares Ja zur individuellen Caritas des einzelnen Christen, aber ihm kommt es auf die Bündelung der Aktionen an. Deshalb spielt - wie schon dargelegt - das Wort „Organisation" eine große Rolle. In einer verwandelten Zeit kommt alles darauf an, die Hilfen in einem Netz von Maßnahmen zu versammeln. Es ist aufschlussreich, dass hier bereits die Rede von der „Vernetzung" ist.
2. Jede Caritas braucht starke innere Motive, ja geradezu eine Leidenschaft zur Hilfe. Dieser emotionale Faktor wird als wichtige Antriebskraft nicht unterschätzt. Aber Werthmann war sich bewusst, dass dies unter den veränderten Bedingungen nicht mehr genügt. Man brauchte mehr fachliche Kompetenz und auch professionelle Rationalität. Deshalb waren mehr wissenschaftliche Bemühungen notwendig. Damit im Zusammenhang stehen Bemühungen um die bekannte „Caritasbibliothek" in Freiburg und bald auch um die Caritaswissenschaft im Rahmen der Pastoraltheologie.
3. Lorenz Werthmann war sich bewusst, dass er ein intensiveres Bewusstsein von der Caritas schaffen musste. Sie muss wirklich als eine Grundfunktion der Kirche begriffen werden. Die „Caritaspflicht" aller Christen muss von allen Kanzeln verkündet werden. „Caritas ist nicht Betätigung eines dunklen Gefühls, nicht allein Übung eines warm fühlenden Herzens. Caritas ist Wissenschaft, Caritas ist Kunst." (1910) Gerade deswegen ist es aber notwendig, eine starke Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Dies gilt nicht zuletzt für das Publikationswesen. Vor allem deswegen hat Werthmann schon im Jahr 1896 die heute noch existierende Zeitschrift „Caritas" gegründet. Dies gilt auch für andere Aktionen. Nicht minder verlangt er deswegen aber auch eine intensive Ausbildung und Schulung der Caritasmitarbeiter. Er studierte selbst noch Volkwirtschaft.
Lorenz Werthmann griff damit auch einerseits Anregungen der sozialen Bewegungen von damals auf (z.B. von Franz Hitze). Er ließ sich aber auch von dem bekannten Großstadtseelsorger Carl Sonnenschein inspirieren. So wurde er zum Pionier der modernen Caritasarbeit, zum Gründer und konsequent auch zum ersten Präsidenten des Deutschen Caritasverbandes. Deshalb ist es für uns heute gut zu wissen, auf welchen Schultern wir stehen und was wir ihm zu verdanken haben. Aber auch die Grundanregungen seines Wirkens sind für uns noch heute von großer Bedeutung.
Die Zeitumstände waren besonders im Blick auf den Ersten Weltkrieg dem ganzen Vorhaben nicht günstig. Lorenz Werthmann ließ sich jedoch nicht vom Weg abbringen. Das Grundanliegen von Lorenz Werthmann erreichte jedoch eine wichtige Etappe, als im Jahr 1916 die deutschen Bischöfe den Deutschen Caritasverband als berufene Vertretung katholischer Caritasinteressen in Deutschland anerkannten. Zum großen Bedauern vieler ist er bald nach Kriegsende, nämlich im Jahr 1921, gestorben.
Es versteht sich von selbst, dass Lorenz Werthmann uns dabei auch eine Reihe von Problemen zurückgelassen hat, die zum Teil bis heute noch einer wirklichen Lösung bedürfen. Ich möchte hier nur zwei Themen nennen: einmal das Verhältnis des Caritasverbandes in seiner Struktur als Verband zur verfassten Kirche, zum anderen das Verhältnis des Deutschen Caritasverbandes als Spitzenverband zu den caritativen Fachverbänden.
Lorenz Werthmann hatte seine zentralen Ideen durchgesetzt. Hören wir seine zentralen Anliegen nochmals aus seinem eigenen Munde: „Was ist Caritas? Caritas ist ein Kampf gegen die materielle und sittliche Not, sowohl beim Einzelnen wie in der Gesellschaft. - Caritas ist Heilkunst. Sie soll für materielle und sittliche Krankheiten, die Ursachen und Folgen der Armut zugleich, Heilung bringen. - Caritas ist Erziehung. Der Arme soll zu einem geordneten Leben, zum Selbstvertrauen, zur Selbstständigkeit erzogen werden." (1901) In diesem Sinne gilt für ihn: „Armendienst ist Gottesdienst." (1910) Amen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Hinweis:
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz