Predigt im Festlichen Gottesdienst

anlässlich des 1650. Geburtstags des hl. Augustinus mit der Gesellschaft zur Förderung der Augustinus-Forschung e.V. und der Deutschen Augustiner-Ordensprovinz am Samstag, 13. November 2004 in der Augustinerkirche in Würzburg

Datum:
Samstag, 13. November 2004

anlässlich des 1650. Geburtstags des hl. Augustinus mit der Gesellschaft zur Förderung der Augustinus-Forschung e.V. und der Deutschen Augustiner-Ordensprovinz am Samstag, 13. November 2004 in der Augustinerkirche in Würzburg

Selten kennen wir einen Menschen der Antike so gut wie den hl. Augustinus, der heute vor 1650 Jahren, also am 13. November 354, in Thagaste, einer kleinen Stadt der numidischen Provinz (heute Algerien), geboren wurde. Das Afrika Augustins war lateinischer Boden. Augustin war ein „afrikanischer Römer“ (H. Marrou). Trotz vieler Schwierigkeiten auch im Inneren der Kirche ist dieses Jahrhundert, in dem der hl. Augustinus lebt, eine große Zeit des sozialen, geistlichen und intellektuellen Aufblühens des Christentums. Augustinus war Zeitgenosse der größten Kirchenväter, gerade auch der griechischen Schulen von Kappadozien, Antiochien und Alexandrien. Aber auch im Westen leben und lehren große Männer wie Ambrosius. Von der afrikanischen Kirche her ist er besonders stolz auf Tertullian und Cyprian. Er hat uns in den „Confessiones“ (Bekenntnisse) ein einzigartiges Dokument seines Lebens hinterlassen, das noch längst nicht ausgeschöpft ist. Wohl kein anderer Kirchenvater spielt in philosophisch-theologischen Debatten eine ähnliche Rolle, keiner wird heute noch so häufig und intensiv gelesen.

Dieses große Buch der „Bekenntnisse“, sie gelten als erste biografische Schrift der Weltliteratur, gibt uns auch einen tiefen Einblick in die Einzigartigkeit des hl. Augustinus. Der Mensch, wohl vor allem des Westens, wird sich darin in einem sehr hohen Maß seiner Individualität, Freiheit und Eigenverantwortlichkeit bewusst. Es gibt bei ihm eine neue „Ich“-Erfahrung. Mindestens ist die Intensität viel größer als bei früheren Äußerungen anderer. Dabei kommt beides zusammen, nämlich die individuelle Prägung und Lebensgeschichte des hl. Augustinus und der eigene Horizont der westlich-abendländischen Kultur.

Augustinus entdeckt in einer bis dahin unerhörten Weise die personale Prägung menschlichen Lebens. Diese personale Dimension ist vor allem durch Einzigartigkeit und Einmaligkeit, durch den Primat des Willens und der Freiheit bestimmt. Der Mensch im Osten fühlte sich wohl stärker als Teil in das umfassendere Ganze des Kosmos eingefügt, mit dem auch der Heilsprozess in enger Verbindung stand. Man gewinnt den Eindruck, dass Augustinus sich viel stärker aus diesem Eingebundensein in die Natur löst. Es geht ihm – im Unterschied zum Osten – wie den meisten Lateinern stärker um den Einzelnen vor Gott, die ethische und rechtliche Dimension seines Tuns, damit auch um Schuld und Vergebung.

Dadurch wird der Mensch viel mehr als bisher unmittelbar vor Gott selbst gestellt, geradezu ihm ausgesetzt. Dieses gleichsam nackte Stehen vor Gott hebt zunächst einmal den Menschen in seiner Einmaligkeit hervor. Der Mensch lernt so, sich selbst ungleich tiefer kennen. Aber wenn er bei sich einkehrt und sich auf sich selbst besinnt, erfährt er sein Ich als unmittelbar auf Gott, ja, auf das Du Gottes bezogen. In dieser Beziehung zwischen dem Ich und Gott selbst lebt die ganze Leidenschaft Augustins. Darum kann er sagen: „Deum et animam scire cupio, nihil plus, nihil omnino“, „Gott und die Seele möchte ich kennen lernen, nichts mehr, überhaupt nichts mehr“. Man hat das Empfinden, dass hinter und in dieser Beziehung alles andere mitgegeben ist. Auch das Wirken Gottes dringt unmittelbar in die Personmitte des Menschen ein. Schön sagt dies Augustinus: „Du aber, Herr, Du holtest mich während seines Redens zu mir selbst herum, Du holtest mich hinter meinem eigenen Rücken hervor wo ich mich versteckt hatte, um mich nicht selbst anschaun zu müssen. Jetzt zeigtest du mir mein Gesicht, damit ich sähe, wie hässlich ich sei, wie verkrüppelt und schmutzig, voll Sudel und Geschwür.“ (Conf. VIII, 7, 16). Von da aus wird deutlich, wie Augustinus nach dieser Entdeckung des Ich alles von einer inneren unsichtbaren Kraft her sieht, die ihm in der Tiefe seiner Person die wahre Freiheit schenkt. Darauf kommt es an: die wahre Freiheit zu finden und dadurch heil zu werden.

Dies ist in der Tat, besonders auch in ihrer Tragweite, eine einzigartige Entdeckung der Tiefe des menschlichen Selbst, die uns alle bis heute noch bestimmt. Sie ist auch das Fundament für die Ausbildung der ethischen und personalen Dimension der Menschenwürde. Dabei darf man ja nicht vergessen, wie sehr die Menschenwürde auch in der römischen Welt bereits Bedeutung gewonnen hatte (vgl. Cicero). Ich bin auch fest überzeugt, dass es zur Entdeckung und letztlich auch zur Bewahrung - mindestens auf längere Zeit hin - des Nachvollzugs und der Wiederholung dieser Erfahrung des hl. Augustinus zwischen Gott und dem menschlichen Ich bedarf, um die Würde des Menschen in allen Dimensionen wirksam zu achten (vgl. die bioethische Diskussion über den Anfang des Lebens, aber auch die Frage nach der Erlaubtheit der Folter). Es ist durchaus möglich, dass die Augen des Glaubens Strukturen und Dimensionen des Menschen, eben in der Tiefe der Begegnung mit Gott, entdecken, die sich gewiss der Initiativ- und der tiefen Erschließungskraft des Glaubens verdanken, aber doch auch in der Substanz dann mit den Mitteln der menschlichen Vernunft erkennbar sind. Darum bekommt Person- und Menschenwürde ihren hohen Rang.

Dabei darf man jedoch nicht stehen bleiben. Augustinus kennt die ganze Tiefe des Menschen durch eigene Erfahrung. Wenn der Mensch nämlich so auf sich zurückgeworfen wird, erfährt er nicht nur Gott als Gegenüber, sondern er entdeckt sich auch selbst in den eigenen Untiefen, nämlich seiner tiefen Unfreiheit und der Versklavung an sich selbst. Er erfährt sich als zutiefst gebrochen und ohnmächtig. Wer den Menschen so nackt und bloß vor Augen sieht, entdeckt auch viel stärker die eigene Abgründigkeit und Verlorenheit. Geradezu erschreckt ruft Augustinus aus: „Unser Herz ist nicht in unserer Gewalt“ (De dono perseverantiae, 13,33). Nur so kann man ja auch das Erschrecken des Augustinus über seine eigene Lebensgeschichte und die doppelte Bedeutung von „Confessio“ verstehen, nämlich das Bekenntnis des eigenen Elends und das Lob Gottes als Dank für die Rettung. Augustinus hat damit die tiefe Verlorenheit und Ausweglosigkeit des Menschen in der Sünde wohl mehr entdeckt als die Theologie vor ihm. Augustinus entdeckt die ganze Explosivität des hl. Paulus neu. Die Größe des Menschen von Gott offenbart auch seine Verlorenheit ohne ihn. Dann verfällt der Mensch sich selbst, schließlich seinen Lastern und verschiedenen Ausformungen von Sucht. So kann man auch verstehen, dass Augustinus ruft und geradezu schreit: „Wer gibt mir, dass ich Ruhe finde in dir? Wer gibt mir, dass du in mein Herz kommest und es trunken machst; damit ich das Schlechte an mir vergesse und mein einziges Gut umarme – Dich? Was bist du mir? Sei barmherzig, damit ich rede!“ (Conf. I, 5, 1) Augustinus bleibt aber nicht bei einzelnen Fehlern und Irrwegen des Lebens, sondern er deckt den tiefsten Grund dieser Verlorenheit auf, indem er die bis dahin noch schwach entwickelte Lehre von der Erb- und Ursünde radikal vertieft. So entdeckt er nicht nur die Größe des Menschen, sondern auch sein letztes Verfallensein und Ausgeliefertwerden an sich selbst.

Gerade vor Gott ist in dieser Perspektive – radikal betrachtet – die ganze Menschheit verloren. Gerade darum ist es aber auch wieder im hohen Maß verständlich, dass Augustinus nun schärfer fragt, wie denn der Einzelne dieser Verlorenheit entrinnen kann. Das Verhältnis von Freiheit und Gnade wird so zum zentralen Thema seines Lebens und bestimmt bis zum heutigen Tag zentrale Fragestellungen der Theologie. Wir sind nicht so weit weg von Luthers Frage: „Wie finde ich den gnädigen Gott?“. Alle Aussagen über Jesus Christus und seine Erlösung werden mit großer Kühnheit radikal auf das persönliche Ich zurückbezogen.

Dieses ungeheure Drama im Kampf zwischen Freiheit und Gnade durchzieht den ganzen Augustinus und prägt auch bis zum heutigen Tag die Stellungnahme und Beurteilung seiner Person und seines Denkens. Ich möchte hier eher innehalten. Mehr Reflexionen gehören nicht in die Predigt. Man muss jedenfalls von den Zuspitzungen Augustins in der Gnadenlehre immer wieder auf die aufgezeigten Ursprünge zurückkommen. Sie sind die wahre Entdeckung, wie immer diese auch konkret entfaltet wird, z.B. durch Begegnung und Berührung durch den Neuplatonismus. Diese Ursprünge können auch uns heute herausfordern. Dann verstehen wir auch vielleicht die zunächst so unbegreiflich erscheinenden Äußerungen vor allem des späteren Augustinus über den Menschen.

Vieles, was der hl. Augustinus uns sagt, hat sich ihm im Gebet, in der Zwiesprache mit Gott erschlossen. Die Confessiones sind ein regelrechter farbiger Teppich mit einer Fülle von Gebeten in großer Vielfalt. Je mehr er sich auf das dialogische Beten einlässt, um so größer wird Gott. „Gib Dich mir, mein Gott, gib Dich mir zurück! Ja, ich liebe dich, und wenn es zu wenig ist, möchte ich dich aus noch vollerer Kraft lieben. Messen kann ich´s nicht, wie viel mir an an Liebe noch fehlt, dass es reicht, damit mein Leben sich in Deine Arme wirft und nimmer sich lösen lässt, bis er geborgen ist in der Verborgenheit Deines Angesichtes; nur das eine weiß ich, dass es, wenn ich Dich nicht habe, mir schlecht geht, nicht nur draußen, sondern gerade auch in mir selbst, und dass mir jegliche Fülle, die nicht mein Gott ist, tiefe Armut ist.“ (Conf. XIII, 8, 9). Man muss sich also in diese denkende und liebende Bewegung einbeziehen lassen. Das letzte Buch der „Bekenntnisse“ schließt mit folgenden Sätzen: „Von Dir soll man´s erbitten, in Dir es suchen, bei Dir darum anklopfen: So, so allein wird man empfangen, so wird man finden, so wird die Tür aufgetan werden.“ (Conf. XIII, 38, 53). Amen

 

 

(C) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort!

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz