Aus dem Jahresrückblick haben wir gespürt, wie viele Themen es zu einer gründlicheren Nachbetrachtung an diesem Abend geben könnte: das größere Europa, der weltweite Terrorismus, einschneidende Veränderungen der Sozialsysteme, Auswirkungen der Globalisierung bei uns selbst, das Elend der Arbeitslosigkeit. Auch innerkirchlich hätten wir genügend Themen: der Ertrag des Bonifatius-Gedenkjahres 1250 Jahre nach seinem Martertod, der missionarische Aufbruch als dringende Notwendigkeit für die Kirche von heute, die Neuformulierung der pastoralen Strukturen, nicht zuletzt das Ereignis des Weltjugendtages im kommenden August.
Aber an diesem Abend lässt sich ein anderes Thema, das seit dem 2. Weihnachtsfeiertag alles überragt, nicht verdrängen, nämlich die Flutkatastrophe in Südasien. Über alle andere Dinge reden wir ohnehin öfter. Aber am Ende diesen Jahres kann niemand an dem vorbeigehen, was hier geschehen ist. Geradezu stündlich werden wir mit steigenden Opferzahlen konfrontiert. Die Angst, dass auch noch viel mehr Ausländer und auch Deutsche unter den Opfern sein werden, geht umher. Gott sei Dank, dass es auch weltweit eine sehr große Hilfsbereitschaft gibt.
Wir wissen zwar, dass es immer noch große Katastrophen in unserer Welt geben kann. Niemand wird so schnell den 11. September 2001 mit dem Tod so vieler Menschen in New York und Washington vergessen können. Wir rechnen auch immer noch mit Naturkatastrophen, aber wir vergessen sie oft auch bald. Wer denkt z.B. heute noch an die Überschwemmung des bevölkerungsreichen, aber unsäglich armen Landes Bangladesch im Jahr 1991 mit 100.000 Opfern? Insgeheim denken wir bei Katastrophen doch weitgehend an menschliche Verursachung, wie z.B. im Falle des Terrorismus. Die menschliche Hand sehen wir auch noch weitgehend im Spiel bei Katastrophen, die durch das ökologisch verfehlte Handeln des Menschen entstehen. In einzelnen großen Katastrophen, die durch die Natur bedingt sind, sehen wir eher ein irrationales, blindwütiges Schicksal am Werk, das der Mensch vielleicht doch durch technische Leistungen und Entwicklungshilfe eindämmen kann.
Die Flutkatastrophe in Asien zeigt durch ihre Ausmaße schlagartig noch etwas anderes an: Wir sind nicht, wie wir oft meinen, die Herren der Welt. Wir sind bei all unseren Leistungen und unserem ganz unbestrittenen Können endlich und bedingt, in bestimmten Umständen ärmlich und sterblich. Auch wir können die Natur immer noch als das große Ungeheuer erleben, wie es die alte Welt erfahren und immer wieder eindrücklich beschworen hat. Wir sind nicht nur diejenigen, die die Erde umgestalten und bezwingen, sondern wir werden auch durch die Kräfte der Natur überfallen und überwältigt, mehr als wir denken. So sind wir Menschen auch des 21. Jahrhunderts verwundbarer, als es ein rudimentär oft noch vorhandener Fortschrittsglaube suggeriert. Deshalb werden wir auch durch diese Flutkatastrophe nicht nur stärker mit der jetzt lebenden Menschheit, die weltweit an diesem Drama teilhat, verbunden, sondern werden tief hineingenommen in eine große Geschichte des Unheils. Die Bibel hat so wie auch andere Religionen und Mythen z.B. die Erzählung von der Sintflut aufbewahrt und uns dadurch an die zerstörerische Kraft von Naturkatastrophen, besonders in Folge des Wassers, erinnert.
Auch in der Neuzeit gibt es ungeheure Tragödien, die – wenigstens bis zu einem gewissen Grad – die Menschheit in ihrem Denken und ihren Einstellungen verändert haben. Als im Jahr 1755 Zweidrittel von Lissabon mit mindestens 30.000 Toten durch ein Erdbeben verwüstet worden ist, als vor bald 60 Jahren die Stadt Dresden mit 35.000 identifizierten Opfern durch einen Bombenhagel zerstört wurde, als nach dem Zweiten Weltkrieg in Hiroshima und in Nagasaki mit 100.000 Opfern die erste Atombombe fiel, da haben die Menschen immer wieder auch für sich selbst das Ende der Welt nahe gefühlt. Darum sprechen wir nicht zufällig von einem apokalyptischen Ausmaß oder von biblischen Dimensionen. Heute ist durch die modernen Kommunikationsmittel die Welt noch enger geworden. Auch wenn die Katastrophen weit entfernt geschehen, sind sie im Nu durch die modernen Medien in unseren Wohnzimmern. Gerade dadurch kommt uns die Katastrophe in Südasien so einmalig vor. Dabei dürfen wir aber den Blick zurück in die Geschichte hinein nicht vergessen.
In solcher Ratlosigkeit sucht man einen verborgenen Sinn. Auch Menschen, für die der Glaube im Alltag keine große Bedeutung besitzt, fragen, warum Gott, den sie plötzlich voraussetzen, so etwas zugelassen habe. Wir suchen nach einem verantwortlichen Urheber, auf den wir freilich wiederum alles an Schuld abschieben können. Man kann aber gerade in dieser asiatischen Zerstörungswelle nicht so schnell Sündenböcke entdecken. Es führt kein Weg daran vorbei: Es ist unverständliches Leid, ohne jede Schuld. Dies macht die Herausforderung und das Rätsel noch größer. Es gibt eben nicht nur das moralische Übel, sondern es gibt auch Unvollkommenheiten, Mängel und Fehler in unserer Welt. Wir sitzen auch sonst viel mehr, als uns bewusst ist, auf einem gefährlichen Vulkan, der noch längst nicht zur Ruhe gekommen ist. Alles andere ist eine Täuschung.
Solches unverständliche Leid ist auch deshalb so aufdringlich und widerständig, weil es sich nicht rasch aufheben lässt. Da wäre ja auf der einen Seite eine Anklage im Blick auf eine konkrete Adresse, auf der anderen Seite könnte man lindernden Trost empfangen. Beides ist hier nicht gegeben. Man sollte deshalb auch sich hüten, von einer Strafe Gottes zu reden. Freilich sind solche Unglücke immer auch eine Mahnung an den Menschen, ob er denn sein Leben richtig führt. In der alten Welt hat man die Katastrophen – d.h. ja bis in das Wort hinein: von oben herabkommendes Unheil – als Reaktion der Götterwelt auf menschliche Machtanmaßung verstanden. Auch die Geschichte des Turmbaus von Babel weiß noch etwas davon.
Es ist eine große Versuchung des menschlichen Denkens, besonders in der Philosophie und in der Theologie, in solchen Situationen einen verborgenen Sinn zu suchen und zu entdecken. In der Tat ist die Frage nach dem Ursprung des Bösen eine ungeheure Versuchung, solche Heimsuchungen zu rationalisieren. Das Böse habe schon einen uns eben noch jetzt entzogenen Sinn, der sich erst später in einer höheren Harmonie erweisen lasse, in die jetzt nur Gott selbst Einsicht habe.
So können wir nicht mehr denken. Dazwischen steht vor allem auch die Erfahrung mit Auschwitz und dem Holocaust. Es gibt eben unsägliches, durch und durch unverständliches Leid. Man kann es im Grunde auch nicht mehr Verstehen, denn jedes verstehen hat immer auch etwas von der Gefahr einer Rechtfertigung in sich. Dennoch fragen wir. Aber dies kann man schon im Alten Testament finden. Dort ist z.B. der plötzliche Tod eines jungen Menschen im Unterschied zu dem, der sein Leben gestalten und in gewisser Weise vollenden konnte, ein Skandal, auf den es keine Antwort gibt. Ja, Hiob schleudert sogar Gott selbst harte Fragen entgegen. Wir haben unsere Gebete zu sehr domestiziert, um artig mit Gott umgehen. Aber vielleicht gibt es überhaupt nur einen sinnvollen Umgang mit solchen Katastrophen durch die offene Zwiesprache mit Gott selbst, indem die Klage an ihn gerichtet und so zur Anklage wird. Gerade der Fromme, der sich auf Gott verlässt und ihm vertraut, rechtet mit Gott und zieht ihn immer wieder vor einen menschlichen Gerichtshof. Die Literatur aller Jahrhunderte hat sich dies zu Eigen gemacht, besonders wenn es um das schuldlose Leid und Leiden von Kindern geht. Ja, viele sind besonders im Zeitalter der Aufklärung mit dem Glauben an einen Gott gescheitert, der – wie man gerne sagt – solche Übel zulässt. Die so genannte Theodizee-Frage hat in der Tat immer wieder dem Atheismus in verschiedenen Gestalten Zunder gegeben. Dabei ging es am Ende nicht mehr um eine vom Menschen ausgehende Leugnung der Existenz Gottes selbst, sondern man war der Überzeugung, dass schon das Wort Gott angesichts dieses Unrechtes und Leidens sinnlos geworden ist. „Die einzige Entschuldigung für Gott besteht darin, dass er nicht existiert“, sagt Friedrich Nietzsche einmal. Und überall tauchen die vielen Fragen auf, ob bei Dostojewski, Camus oder Borchert: Wo warst du, lieber Gott..., als...
Ich habe nur eine Antwort. Sie macht vielleicht die Sache noch schwieriger. Aber darin liegt vielleicht auch ihr einziger Vorteil. Es bleibt mir nur der Blick auf den Gekreuzigten. Gott selbst ist Mensch geworden und hat bis zum grausamen Tod am Schandpfahl, dem schlimmsten Tod in der alten Welt, unser Menschsein geteilt. Er hat diesen Weg aus freien Stücken gewählt. Mancher wird einwerfen, damit sei ja nur das Leid nochmals vermehrt worden. Der Christ ist jedoch der Überzeugung, dass Jesus als der menschgewordene Gott damit auch die ganze Unerlöstheit, das Unrecht und das Leid der Welt auf sich geladen und uns davon erlöst hat. Freilich wissen wir, dass auch nach seiner Auferstehung die großen Anfechtungen des Bösen bleiben. Dies erleiden wir spürbar und leibhaftig. Aber so wie Jesus nicht im Tod geblieben ist, ist auch die Negativität, d.h. der Tod und die Zerstörung, nicht das Letzte. Freilich spricht die Empirie dagegen. Es geht um die Einlösung einer Hoffnung. Der Glaube ist, wie die Bibel sehr gut weiß, auf etwas bezogen, was man nicht sieht. Ich weiß, dass dieses grausame Ereignis alle diese Worte zu Boden drückt und entlarven kann. Aber dies ist die Größe des Glaubens, dass er auch in einer solchen Situation noch leben und wirksam sein kann. Am Ende steht dann vielleicht nichts mehr anderes als die letzte Aussage in unserem Glaubensbekenntnis: Ich glaube an das ewige Leben.
Aber dies ist nicht alles, was der Christ in einer solchen Situation sagt und tun kann. Es bleibt vielfältige Hilfe, vor allem durch die Einsatzbereitschaft für die bedrängten Menschen vor Ort und durch unsere Spenden, die wiederum zur Heilung von Wunden und Krankheiten, zum Besorgen von Nahrung und Kleidung sowie zur Schaffung eines Dachs über dem Kopf verwendet werden. Diese Hilfe ist – abgesehen vom Gebet – die einzige Möglichkeit, der Verzweiflung zu entgehen. Darum rufen wir Bischöfe an diesem Tag und für die nächste Zeit alle auf, durch ihre Gaben die Not zu lindern (vgl. Aufruf der Bischöfe vom 29.12.2004 ). Darin liegt auch eine große Chance. Gewiss wird auch diese Katastrophe bald von den Menschen vergessen sein. Vielleicht ist dieses Vergessen überlebensnotwendig. Sonst kämen wir um vor Leid. Aber spurlos darf die ganze Sache doch nicht werden. Wir rücken in der Menschheit enger zusammen. Wir leben immer mehr in einer Welt, die jedoch grässliche Unterschiede aufweist. Ökonomisch stecken wir mitten in einem großen Globalisierungsprozess. Nun haben wir auch die Chance, dass wir im Sozialen und Humanitären globaler denken und empfinden. Dann wären wir auf dem rechten Weg zu mehr weltweiter Solidarität. Darum darf unsere Hilfe nicht nur punktuell sein, wie sie in diesen Tagen eindrucksvoll von vielen Hilfsorganisationen in aller Welt, gerade auch aus unserem Land, praktiziert wird. Wir müssen den Armen der Welt helfen, dass sie auch die Chance bekommen, einem solchen Unheil, wenn wir es schon nicht vermeiden können, entkommen können: durch ein Frühwarnsystem, durch eine bessere Siedlungspolitik und durch wirksamere Hilfsorganisationen. Hier sind auf längere Zeit nachhaltige Unterstützung und langfristige Sanierung notwendig.
So sind wir also mitten im Unheil nicht so hilflos. Bei solchen Gelegenheiten spüren wir die Wahrheit unseres Glaubens, dass die Liebe stärker ist als der Tod. Aber die Väter und Mütter im Glauben haben zugleich über Jahrtausende und Jahrhunderte gewusst, dass wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind. Amen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort!
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Der Aufruf der Deutschen Bischöfe.
Interview mit dem Deutschlandfunk zum Thema
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz