Lesungs- und Predigttext: Jer 29, 1.4-7
Der Prophet Jeremia hat persönlich und im Blick auf seine Zeit viel Schwieriges erlebt. Er wurde zum Opfer vieler Anfeindungen aufgrund seiner unwillkommenen Botschaft. Zeitweise war er in lebensbedrohlicher Haft. Schließlich floh er nach Ägypten. Aber dennoch gibt es nicht nur die zweifellos vorherrschenden Unheilsankündigungen, vielmehr lässt er Gott an entscheidender Stelle sprechen: „Ich will Euch Zukunft und Hoffnung geben.“ (29,11). Dieses Wort möchte ich mit dem Kontext, den wir eben als Lesung hörten, in die Mitte stellen.
„Zukunft” kann durchaus als Leitwort unserer Epoche gelten. Es hängt mit der schöpferischen Aktivität des Menschen zusammen, der darin überhaupt das grundlegende Element von Geschichte erblickt. Wer endlich den Zwängen der immer gleichen Natur und ihrem Rhythmus entwachsen ist, versteht sich und seine Welt mehr von den eigenen Möglichkeiten her. In einem solchen Geschichtsentwurf scheint jede Zukunft machbar und durch Planung und Prognose verfügbar zu werden. Die Ankunft unserer Zukunft braucht nicht wartend abgesessen zu werden, sondern der Mensch arbeitet selbst produktiv im Frontraum der Zukunft. Er schafft sich seine Zukunft.
Aber gelangt das Wort „Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben” nicht gerade hier an eine Grenze? Wurde nicht in den letzten Jahrzehnten im Bereich des geistigen Lebens und der gesellschaftlich?politischen Zielsetzungen das Wort „Zukunft” maßlos überbeansprucht, sodass es wie Treber erscheint, der keine Kraft und keinen Saft mehr in sich birgt? Kommen die Christen mit ihrer erneuerten Hoffnungsbeschwörung nicht wieder einmal zu spät, indem sie auf einen vergangenen Bewusstseinszustand zurückgreifen, der eindeutig nicht mehr der heutigen Grundorientierung entspricht? Und wenn man dem Wortpaar „Hoffnung” und „Zuversicht” neues Leben eingeben könnte, sind diese Worte nicht zu einer wohlfeilen, abgegriffenen Münze geworden?
Es lohnt sich, diesen Zweifel ernst zu nehmen. In der Tat will das Prophetenwort auch nicht jene Stimmungslage reproduzieren, die vor allem durch eine ungebrochene Fortschrittsgläubigkeit, ein unbegrenztes Freiheitsbewusstsein und durch einen fast schwärmerischen Enthusiasmus geprägt war, innerhalb kürzester Zeit in fast allen Lebensbereichen Veränderungen größten Ausmaßes durchführen zu können. Das Wort will aber auch sich nicht jener heimlichen Resignation beugen, die heute nach dem Zusammenbruch vieler Wünsche und Illusionen das Denken und Wollen nicht weniger Menschen geradezu gelähmt hat. Der Mensch ist und bleibt von Hause aus ein Wesen, das auf Zukunft angelegt und von Zuversicht getragen wird. Stutzt man ihm völlig die Flügel der Hoffnung, dann wird er rasch bitter, humorlos und in einer falschen Weise schicksalsergeben ? auch politisch eine Gefahr! Ja, manche reagieren in der Verfinsterung der konkreten Zukunft mit einem Sichvergessen im Taumel des Rausches oder aber durch Gewalttätigkeit in ihren verschiedenen Spielarten. Diese Verhaltensweisen zeugen von einem Verhältnis zurzeit, das sich von der Zukunft nichts mehr verspricht.
Woher soll man aber nun den Mut nehmen, neu von der Hoffnung und der Zukunft zu sprechen, ohne dass diese von Anfang an mit den eingestürzten Utopien verwechselt und als fade Chiffren übergangen werden? Die Antwort ist nicht leicht. Es ist nämlich nicht zu übersehen, dass auch ein Teil der Theologie und der Verkündigung, wie eben schon erwähnt, diese großen Worte im Stil von Angebot und Nachfrage der Supermärkte traktiert hat. Wo also kann man anknüpfen? Der Prophet Jeremia verlässt sich nicht auf unsere eigenen Eingebungen, sondern ist ein Zeuge der unerschöpflichen und durch nichts völlig aufbrauchbaren Kraft des Wortes Gottes. „Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben” – das ist ein Wort Gottes!
Auch damals, um das Jahr 600 v. Chr., war dieses Wort keineswegs selbstverständlich. Im Gegenteil, Jeremia kämpfte an mehreren Fronten. Zunächst einmal musste er die schwärmerischen Heilspropheten seiner Zeit entlarven, die trügerische Hoffnung und turbulente Heilserwartungen verbreiteten, als ob alle menschlichen Unternehmungen glücklich enden müssten. Hier war ein religiös verbrämter Fortschrittsoptimismus am Werk. Das Wort „Gott“ wurde ein Ausdruck für diese Sicherheit, in der man sich wiegte. Keine Rede war mehr von der Ferne und der Unbegreiflichkeit Gottes, vom eigenen Versagen und vom Gericht. Darum verschweigt Jeremia gegenüber den optimistischen Weissagungen und den goldenen Träumen nicht seine Katastrophenahnungen. Immer wieder muss er zur Nüchternheit mahnen. Auch die Frommen sind vielen falschen Illusionen erlegen.
So warnt Jeremia seine Landsleute im babylonischen Exil, sie sollten sich nicht von der falschen Hoffnung verführen lassen, ihre Heimkehr stünde unmittelbar bevor. Er ermutigt sie vielmehr, auch in der Situation der Verschleppung, der Fremde und der Diaspora ein neues Verhältnis zu Gott zu suchen. Jeremia wird der Schwarzseherei und der Resignation angeklagt, denn das Heil sei doch sehr viel näher. Aber der Prophet weiß, dass jede Hoffnung einen langen Atem haben muss. So ruft er den Deportierten in der Fremde das Gotteswort zu: „Ich kenne die Gedanken, die ich für euch hege, spricht Jahwe, Gedanken des Friedens und nicht des Unheils, dass ich euch Zukunft und Hoffnung gebe.” Der Prophet, der alle denkbaren Anfechtungen und Anschläge auf sein Leben erfahren hat, verschweigt nicht das Dunkel und den Schmerz der Geschichte. Er redet überhaupt wenig von den großen Entwürfen der Zukunftshoffnung. Seinen Landsleuten im Exil gibt er merkwürdig einfache Ratschläge, nämlich das Nächstliegende zu tun: „Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter... Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum Herm; denn wenn es ihr wohlgeht, so geht es auch euch wohl“ (29,5-7). Zu diesem Aufruf gehörte Mut. Keine Spur von Kleinbürgerlichkeit, wie mancher denken könnte: Die Deportierten sollten Hoffnung und Zukunft erwarten von jener Stadt, die für sie Fremde und Niedergang schlechthin bedeutet. Gottes Hoffnung ist überall.
Jeremia kann nur darum von dieser letzten Zukunft und Hoffnung so nüchtern und konkret sprechen, weil er sie in Gott geborgen und gegründet weiß. „Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben“: So souverän und frei kann nur Gott selbst reden. In Menschenmund wäre ein solcher Spruch vermessen. Das Prophetenwort darf gewiss nicht einfach in unsere innerweltlichen Erwartungen einnivelliert werden. Nur derjenige, der auch die Sünde und den Tod besiegt, kann dieses steile Wort sagen: Ich gebe Zukunft und Hoffnung. Immer wieder werden wir dieses „Ich“ suchen müssen. Gott schenkt Zukunft und Hoffnung nicht in schlechthin untätige Hände, so wenig sie allein von der Leistung abhängig gemacht werden dürfen. Darum gehört zur Verheißung auch der Auftrag, nach Gott zu suchen und nach ihm zu rufen.
Jeremia erhofft sehr entschieden Zukunft von Gott. Aber er verfällt darum nicht hochfahrenden Plänen. Er hat darum Gewißheit, weil er in vielen Schicksalsschlägen immer wieder die Treue Gottes erfahren hat. Er liest die Zukunft von der wirklich ergangenen Geschichte des Heiles her. Es kommt ihm gar nicht in den Sinn. die Bedeutung von Vergangenheit und Gegenwart zu leugnen. Auch hierin können wir ganz entschieden von ihm lernen, wie nämlich der biblische Mensch „Zukunft” verstanden hat. Für ihn sind Hoffnung und Erinnerung nicht zu trennen. Das lebendige Erinnern lässt die erfahrene Geschichtsmächtigkeit Gottes neu Wirklichkeit werden. Da Gott sich bisher als der getreue Helfer und Retter erwiesen hat, wird er sich auch in Zukunft als ein solcher erweisen. Das wahre Erinnern vermittelt und schenkt den Anfang der Hoffnung. Der Heidelberger Alttestamentler Hans Walter Wolff kennzeichnete deshalb mit einem schönen Bild die biblische „Zukunft”: „Nach dieser Sicht bewegt sich der Mensch durch die Zeiten wie ein Ruderer, der sich rückwärts in die Zukunft bewegt: er erreicht das Ziel, indem er sich orientiert an dem, was einsichtig vor ihm liegt; diese enthüllte Geschichte bezeugt ihm den Herrn der Zukunft.” (Anthropologie des Alten Testaments, München 1973, S. 135, gerade zu Jer 29,11). Der Israelit sieht die früheren Zeiten als Bedenkenswertes vor sich, während die Zukunft das Rückwärtige ist, das hinter uns folgt. Hier verwandelt sich auch unsere Rede von der „Zukunft”: Zukunft ist nicht zuerst „futurum”: die Summe unserer nach vorne entworfener Möglichkeiten, sondern „adventus”: Gott selbst kommt von vorne auf uns zu.
Dies ist einWort auch für uns. Wir brauchen inmitten vieler Schwarzseherei und Resignation, endloser Klage und Kurzsichtigkeit der Perspektiven bei aller Nüchternheit eine neue Zuversicht, begründete Hoffnung, die uns aus den deprimierenden Stimmungen reisst und uns nach vorne befreien hilft.
Wir brauchen aber auch die konkreten Hinweise auf die Verwirklichung dieser Hoffnung im Alltag unseres Lebens: „Baut Häuser, und wohnt darin ... Nehmt auch Frauen und zeugt Söhne und Töchter ... Ihr sollt euch (dort) vermehren und nicht vermindern.” (29, 5-6)
Dies gilt für uns alle, besonders aber für unser Land, dessen Menschen immer eine solche Zuversicht hatten, ein Land mit vielen Kriegen, die Europa in der Mitte durchzogen. Aber immer wieder waren diese Menschen mutig, die Hoffnung auf Friede und Wohlergehen nicht aufzugeben, fleißig und praktisch. Hier schließt sich auch der Reigen zwischen Glaube und Politik, Religion und Gemeinwohl, Kirche und Gesellschaft: „Bemüht euch um das Wohl der Stadt ... und betet für sie zum Herrn, denn in ihrem Wohl liegt euer Wohl.” (29,7).
Predigttext - es gilt das gesprochene Wort
(c) Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz