Predigt im Pontifikalamt anlässlich der Erhebung der hl. Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin

am 21. Oktober 2012 in der Basilika St. Martin von Bingen

Datum:
Sonntag, 21. Oktober 2012

am 21. Oktober 2012 in der Basilika St. Martin von Bingen

Lesungen: Weisheit 8,1-6; 1 Kor 1,26-29; Mt 25,1-13

Am 7. Mai 2012 hat Papst Benedikt XVI. erklärt, dass die hl. Hildegard von Bingen nicht nur faktisch heilig ist, sondern auch in der ganzen Weltkirche verehrt werden darf. Dass sie heilig ist und deshalb auch als solche anerkannt wurde, war gerade für uns im Lebensraum der hl. Hildegard nichts Neues, denn sie wurde in den von ihr gegründeten Klöstern und im Benediktinerorden schon bald nach ihrem Tod ein „Beispiel der Heiligkeit" genannt. Aber hinter der Entscheidung des hl. Vaters steckte deshalb noch eine eigene Absicht, die freilich erst beim Mittagsgebet am 27. Mai 2012 offenkundig wurde, als er erklärte, dass er am 7. Oktober 2012 den heiligen Johannes (Juan) von Avila und die hl. Hildegard von Bingen zu Lehrern der universalen Kirche verkünden wird. „Hildegard war eine Benediktinerin im Herzen des deutschen Mittelalters, sie war eine wahre Lehrerin der Theologie und eine tiefe Kennerin der Naturwissenschaften sowie der Musik ... Die Heiligkeit des Lebens und die Tiefe der Lehre macht beide neuen Kirchenlehrer für alle Zeiten aktuell: die Gnade des heiligen Geistes führte sie beide zur Erfahrung eines tiefdringenden Verstehens der göttlichen Offenbarung und eines klugen Dialogs mit der Welt, die den stetigen Horizont des Lebens und des Wirkens der Kirche ausmachen."

Inzwischen hat die Erhebung der hl. Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin am 7. Oktober in Rom stattgefunden. Einige von uns konnten anwesend sein, auch eine Gruppe aus Bingen mit dem Herrn Oberbürgermeister an der Spitze. Wir sind schließlich ganz besonders dankbar für diese große Ehre, die der hl. Hildegard mit dem nun weltweit gebrauchten Zusatz „von Bingen" zuteil wurde. Das Einmalige in der Erscheinung dieser Frau haben schon die Zeitgenossen empfunden. Sie wurde gepriesen als „prophetissa teutonica", also als deutsche Prophetin, als „die rheinische Sibylle", als „Edelstein Bingens" oder auch einfach als „Posaune Gottes". Ja, Papst Eugen III., der die Visionen Hildegards kannte und prüfte, schrieb um das Jahr 1150 an die Äbtissin: „Die Scharen der gläubigen Völker, sie brechen aus in Lob über dich, du bist für viele ein Duft des Lebens geworden!"

Wir kennen dieses Lob auch in mehr weltlichen Tönen. Hildegard gilt heute vielen als die gelehrteste und klügste Frau des Mittelalters. Von keiner Frau dieser Zeit haben wir ein so großes Erbe an Schriften und künstlerischen Schöpfungen erhalten. Ja, sie gilt nun auch als eine mit großer Geisteskraft und tiefer Weisheit begnadete Frau, die sogar in Darstellungen der Geschichte des Denkens einen Platz findet. Ihr universales Wissen aus ihrer ganzen Zeit lässt uns immer wieder staunen und fragen, woher sie dies alles geschöpft hat.

In diesen letzten Jahren und Jahrzehnten ist sehr viel über Hildegard und ihre Zeit geforscht worden, ganz besonders auch in der Hildegard-Abtei in Eibingen. Diese Arbeit wird gewiss auch intensiv fortgesetzt, nachdem sie jetzt zur Kirchenlehrerin und damit zur Lehrerin des Glaubens erhoben worden ist. (1) Aber jetzt müsste alles darauf ankommen, dass wir die Bedeutung der hl. Hildegard für das kirchliche Leben unserer Gegenwart viel kräftiger herausstellen. Papst Benedikt XVI. hat ja mit Recht gesagt: „Die Heiligkeit des Lebens und die Tiefe der Lehre macht beide neuen Kirchenlehrer (also auch den hl. Johannes von Avila) für alle Zeiten aktuell." (27.5.2012) Wir haben viele Themen, an denen man dies aufzeigen kann. Aber so einfach ist es nicht, dass man nur die Zeugnisse der hl. Hildegard in unserer Gegenwart neu zitiert. Man muss schon die Gedanken in unsere gegenwärtige geistige Situation schöpferisch umsetzen, ohne die hl. Hildegard zu verbiegen.

Für die Predigt, besonders auch für ihre Grenzen, möchte ich wenigstens einen Grundakkord aus dem Denken der hl. Hildegard anschlagen, nämlich ihre Sicht der Schöpfung. Dabei darf man Schöpfung nicht einfach gleichsetzen mit Natur. Schöpfung ist für Hildegard immer ein Werk Gottes, darin der Schöpfer selbst sichtbar wird und auch heute noch in den Kreaturen wirkt. Dazu gehört nun eben auch das Loben und Preisen des Schöpfergottes. Aber darum verliert Hildegard nicht den Sinn auch und gerade für die äußere Schönheit der Schöpfung. Ich wähle zwei Beispiele dafür aus „Das Buch vom Wirken Gottes" (2). „Ich, das feurige Leben der göttlichen Wesenheit, flamme über die Schönheit der Fluren, leuchte in den Wassern und brenne in Sonne, Mond und Sternen. Mit dem Windhauch, dem unsichtbaren Leben, das alles erhält, erwecke ich alles zum Leben. Die Luft lebt nämlich im Grünen und im Blühen, die Wasser fließen, als ob sie lebten, auch die Sonne lebt in ihrem Licht ... Ich - so die Seherin - bin also als feurige Kraft in diesen Winden verborgen, und sie brennen durch mich wie der Atem ständig den Menschen bewegt und wie im Feuer die windbewegte Flamme ist. Dies alles lebt in seiner Wesenheit und in ihm ist kein Tod zu finden, weil ich das Leben bin. Ich bin auch die Vernunft, die den Windhauch des tönenden Wortes in sich hat, durch den jedes Geschöpf gemacht ist; und in das alles habe ich Leben gehaucht, sodass keines davon seiner Art nach sterblich ist; denn ich bin das Leben ...Vielmehr hat alles Lebendige in mir seine Wurzeln. Die Vernunft nämlich ist diese Wurzel; das tönende Wort aber erblüht in ihr."

Der dreifaltige Gott liebt die Welt um des Menschen willen, den er in die Mitte der Schöpfung gestellt hat. Hier bekommt der Mensch einen ganz hohen Rang: „Er schuf ihn nach seinem Bild und Gleichnis und zeichnete im Menschen alle anderen Geschöpfe nach ihrer Maßgabe ein. Denn es lag von Ewigkeit her immer fest, dass Gott Sein Werk, den Menschen, schaffen wollte; und als Er dieses Werk vollendete, gab Er ihm alle Geschöpfe, damit er mit ihnen wirke, und zwar so, wie auch Gott selbst Sein Werk, den Menschen, geschaffen hatte." (3) Der Mensch als Gottesgeschöpf inmitten der Schöpfung bildet den Kern von Hildegards Denken. Deshalb wird immer auch die Welt, der Mensch und Gott zusammengesehen. So spricht man auch vom kosmologischen Denken der hl. Hildegard.

Man könnte eigentlich über dieses außerordentlich anspruchsvolle Denken über den Menschen irre werden, weil wir so oft den Übermut des Menschen, der sich in die Mitte der Welt setzt, bitter erfahren haben. Aber Hildegard weiß zu sehr um die gefährdete Stellung des Menschen in der Welt, wenn er sich von Gott löst und rücksichtslos sich als die Mitte der Welt aufführt. Man sieht dies vielleicht nicht besser als in der so genannten „Klage der Elemente", die rufen: „Wir können nicht laufen und unseren Weg demgemäß vollenden, wie unser Gebieter uns bestimmt hat. Denn die Menschen stürzen uns mit ihren bösen Werken um, wie mit einer Mühle. Daher stinken wir vor Pest und vor Hunger nach der ganzen Gerechtigkeit ... Auch die Grünkraft welkt wegen des ungerechten Aberglaubens der verkehrten Menschenmassen, die jede Angelegenheit nach ihren Wünschen bestimmen und sagen: Wer ist jener Herr, den wir nie gesehen haben? ... Die ganze Schöpfung strebt nach ihrem Schöpfer und versteht offensichtlich, dass einer sie erschaffen hat; der Mensch ist aber ein Rebell und zerteilt seinen Schöpfer in viele Geschöpfe." (4) Der Mensch soll aber seine Fähigkeiten gebrauchen und diese Welt in aller Nüchternheit durchforschen, ja er soll sie ganz und gar durchdringen.

Hildegard kann dies alles letztlich nur sagen, weil sie immer schon auf den Menschen schaut, der Jesus Christus ist. „Denn der Vater trug immer in seinem Willen, dass er Mensch werde." (5) „Alle guten Werke nämlich hat der Vater in seinem Sohn gewirkt, weil das in keinem anderen geschehen konnte ... Er kam deshalb für die Befreiung des Menschen auf die Erde und kaufte den Menschen frei, den niemand anderer freikaufen konnte; denn der Vater ordnete an, dass Er so komme, wie der Prophet David unter Eingebung des heiligen Geistes sagt." (335) So kann man auch verstehen, dass hinter den Aussagen Hildegards zur Schöpfung und zum Menschen immer die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus steht.

Hildegard sieht Mensch und Welt, Leib und Seele, Natur und Gnade immer in ihrem innersten Zusammenhang. Die Kreaturen ergänzen sich und ordnen sich einander zu. So sind sie immer aufeinander abgestimmt und bilden - dies ein Grundwort Hildegards - eine Symphonie (6). Vor diesem Hintergrund spielen die Farben und ihr Licht, besonders das Grüne (viriditas) eine Rolle. Hier erhalten auch der menschliche Leib und alle irdischen Dinge eine äußerst positive Sicht, besonders auch die Geschlechtlichkeit des Menschen und das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Sie bekämpft alle damaligen und heutigen Verächter der Schöpfung. Gerade eine Ordensfrau verteidigt den menschlichen Leib und die geschaffene Wirklichkeit.

Hildegards wichtigstes Anliegen mit ihrem Werk besteht darin, den Menschen den Weg zum Heil zu weisen. Sie ist davon überzeugt, dass Gott bereits seine Wege zu den Menschen gegangen ist und auch weiterhin geht. Wenn Gott diesen Weg gegangen ist, vor allem auch im Spiegel seiner Geschöpfe und den Menschen dadurch erreichen konnte, kann der Mensch auch zu Gott gelangen. Dies kommt gut im Titel des Erstlingswerkes der hl. Hildegard zum Ausdruck: Scivias - Wisse die Wege, was man gewiss auch mit „Wegweiser" oder „Wegweisung" übersetzen kann. Dies ist eigentlich der ganze Sinn der Lehre der hl. Hildegard (7). Dies zeigt Hildegard besonders auch in vielen Werken, in der Musik, in den Erkenntnissen der Natur mit ihren Heilungschancen, ja an den kostbaren Elementen der Erde wie den Edelsteinen, aber auch im Kampf zwischen den Tugenden und den Lastern (8). So bekommen Umkehr und Entscheidung bei Hildegard eine tragende Bedeutung.

So und noch tiefer müssten die Grundworte der hl. Hildegard gedeutet werden, z.B. das Wort Gottes und die Heilige Schrift, das Verständnis ihrer einzigartigen Visionen (9), Jesus Christus, Maria und die Heiligen, die Kirche usw. Aufschlussreich sind auch ihre Bilder, wie z.B. Weg und Rad. Dies soll uns dazu verlocken, die hl. Hildegard wirklich von der Mitte ihrer Botschaft aus zu verstehen. Hier ist sie wirklich eine Lehrerin des Glaubens, auch für heute. Wir können sie in vielen Spuren unserer Heimat wiederentdecken, wie uns P. Dr. Josef Krasenbrink in seinen verschiedenen Schriften gezeigt hat (10). Die Erhebung zur Kirchenlehrerin macht uns eine weite Türe auf, um ihr mit einem neuen Sinn und frischen Augen zu begegnen. So gibt sie uns auch in vielen kurzen Worten eine Verheißung für ein menschenwürdiges Leben aus dem Glauben in dieser Welt. So heißt es im Brief an Papst Anastasius IV.: „Das Herz aber bringt Rettung, wenn das Morgenrot wie der Glanz des beginnenden Sonnenaufgangs sichtbar wird. Was jedoch in neuem Verlangen und neuem Eifer folgt, ist unsagbar." (11)

Amen.

 (c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

 Es gilt das gesprochene Wort!

Abdruck nur nach vorheriger ausdrücklicher Genehmigung (Kontakt: Sekretariat des Bischofs)

Anmerkungen:

  • 1 Vgl. den zu erwartenden Kongress vom 27. Februar bis 3. März 2013 in Mainz.
  • 2 Liber divinorum operum, Augsburg 1998, 20.
  • 3 Das Buch vom Wirken Gottes, 20f.
  • 4 Das Buch der Lebensverdienste. Liber Vitae Meritorum, Salzburg 1972, 133f.; Neuübersetzung in: Arbeitshilfe 258, Hildegard von Bingen: Heilige und Kirchenlehrerin, hrsg. von R. Berndt, Bonn 2012, 74f., Text Nr. 36
  • 5 Das Buch vom Wirken Gottes, 334.
  • 6 Vgl. Lieder - Symphoniae, Beuron 2012, auch: Symphonia. Gedichte und Gesänge, hrsg. von W. Berschin/H. Schipperges, Gerlingen 1995 u.ö.
  • 7 Vgl. dieses zentrale Buch in verschiedenen Übersetzungen, bes. „Wisse die Wege - Liber Scivias", Beuron 2010/2012.
  • 8 Vgl. das Buch der Lebensverdienste und auch Hildegard von Bingen. Virtus & Vitium. Licht. Schatten. Mensch. Ausstellungsbuch, Rüdesheim 2012.
  • 9 Vgl. dazu auch A. Lempges/Cl. Sticher, in: Hildegard von Bingen. Sage und schreibe, was du siehst und hörst! Einblicke in ihr visionäres Werk, hrsg. von W. Wilhelmy, Mainz 2012, 16-39.
  • 10 Hildegard von Bingen. Spuren in ihrer Stadt, Bingen 1997; Begegnungen mit Hildegard von Bingen, Bingen 1998; Hildegard von Bingen - Bei Gelegenheit -, Bingen 2003; Spuren. Erinnerungen an Hildegard von Bingen in der St. Rochuskapelle, Bingen 1987.
  • 11 Briefe, Beuron 2012, 27 - Der Brief stammt wohl aus dem Jahr 1153/1154.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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