Zugrunde liegender Text für die Predigt ist Joh 1,1-18
Das Evangelium nach Johannes, das wir gerade am Anfang gehört haben, beginnt mit den Sätzen: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dieses war im Anfang bei Gott." (1,1-2) Bereits die erste Zeile dieses Vorspiels zum Johannes-Evangelium sagt es uns in aller Deutlichkeit: Gott bleibt nicht selig in sich selbst. Er ist von Anfang an in sich selbst und zugleich in die Welt hinein Aus-sage, Mitteilung, Wort. Vom Vater zum Sohn hin im Geist ist der Dreifaltige Gott nach außen in einem gemeinsamen Wirken. So hat das Wort zugleich die Aufgabe, die Tiefe Gottes vor allem auch in seiner Zuwendung zur Welt und zur Geschichte zum Ausdruck zu bringen. Die Sprache und das Medium des Wortes sind offenbar dafür besonders geeignet. Manche haben versuchen wollen, diesen Anfang umzudeuten, als ob am Anfang etwas ganz anderes gestanden hätte. So auch Goethe in „Faust" wenn er sagt: „Am Anfang war die Tat". Nein, am Anfang war das Wort, die Aussage, Zuwendung, die Mitteilung. Dieser erste Satz des Johannesprologs zielt ganz auf die Aussage in Vers 14, denn bis dort kommt das Wort gar nicht mehr vor: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit." Darin liegt, meine lieben Schwestern und Brüder, auch das ganze Thema des Johannes-Evangeliums. Dieses Wort, das eines Wesens ist mit Gott, hat die Zuwendung Gottes zur Welt zu uns Menschen noch gesteigert. Da ist nicht nur die Schöpfung, nicht nur das Wort der Propheten, sondern ER ist „Fleisch" geworden. Er hat einen menschlicher Leib mit der Vergänglichkeit und dem Leiden, die zum Menschen gehören. Das Wort ist ein wirklicher, ganz konkreter Mensch geworden. In ihm selbst ist Gott anschaulich geworden, weltlich-menschlich, sichtbar und greifbar, begrenzt, anfällig und auch hinfällig. Der Evangelist deutet auch an, dass damit ein flüchtiges Menschenleben gemeint ist, denn wörtlich übersetzt müssten wir eigentlich sagen: „Er hat unter uns gewohnt"; oder besser und wörtlicher: „Er hat unter uns sein Zelt aufgeschlagen für einige Zeit".
Aber für den Evangelisten ist etwas anderes entscheidend. In ihm, in diesem sterblichen Menschen uns gleich, da können wir im Menschgewordenen den Glanz und die Herrlichkeit Gottes sehen. Aber zugleich ist es so, dass das Fleisch des Menschen, der konkrete Mensch, uns diesen Glanz auch ein Stück weit verbirgt. Da ist ein gewöhnliches Menschenkind. Unterwegs auf der Flucht ist es zur Welt gekommen. Die Eltern haben es in die Krippe gelegt. Und dennoch werden viele immer wieder sagen: Was ist denn da Besonderes? Fleisch verbirgt auch den Glanz Gottes, aber zugleich lässt es die Herrlichkeit Gottes auch in unserer Welt erfahren. Die Engel und die Hirten haben es entdeckt. Sie haben es wahrgenommen durch das oberflächliche Erscheinungsbild hindurch. Sie wissen, dass sich dahinter noch mehr verbirgt.
Die Menschwerdung des Wortes macht uns anschaulich, was der Mensch bedeutet. Die Menschwerdung Gottes sagt viel aus über den Menschen. Was ist der Mensch, dass er Gott aufnehmen kann in sich, ohne dass dieser Gott in seiner Mächtigkeit verkleinert wird? Wenn Gott Mensch wird, dann zeigt sich erst die ganze Würde des Menschen. Das gilt für jeden Menschen, der in diese Welt kommt. Er erhält diese Würde nicht durch uns, nicht durch Menschen, sondern bringt sie als Mensch mit, gerade auch wenn er arm und klein, oder wenn er ungeboren und ohnmächtig ist. Die Menschwerdung Gottes sichert dem Menschen eine unersetzliche und unantastbare Menschenwürde vor allen einzelnen Menschenrechten. Und dies bringt auch eine Gleichwertigkeit aller Menschen mit sich, die eine grundlegende Solidarität untereinander und darum auch sozialen Ausgleich, soziale Balance und Unterstützung begründet.
Darum, meine lieben Schwestern und Brüder, hat diese Begründung unserer sozialen Natur von der Menschwerdung Gottes her und der Gleichwertigkeit aller Menschen eine starke Stütze, und zwar gerade deshalb, da dies jeden Menschen angeht, gerade auch in einer globaler gewordenen Welt. Darum darf freilich auch eine gesteigerte Eigenverantwortung auch nicht Vereinsamung oder soziale Kälte bedeuten. In unserem Gemeinsamen Wort „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" von 1997 haben wir zusammen mit unseren evangelischen Schwestern und Brüdern geschrieben: „Subsidiarität und Solidarität, Subsidiarität und Sozialstaat gehören (...) zusammen. Subsidiarität heißt: zur Eigenverantwortung befähigen. Subsidiarität heißt nicht: den Einzelnen mit seiner sozialen Sicherung allein lassen." (Nr. 27)
Weihnachten kann uns helfen, hier wirklich einen Ausgleich zu schaffen; es ins Lot zu bringen, sodass wir alle in diese Solidarität miteinbeziehen. Dabei denken wir heute nicht nur an uns und die Probleme in unserem Land. Die Kollekte des Bischöflichen Hilfswerkes Adveniat für die Menschen in Lateinamerika zeigt uns schon seit Jahrzehnten, dass wir hinausdenken müssen bis an den Horizont der Welt. Weihnachten, das erfahren wir in jedem Jahr, ist ein Fest hoher Gefühle, aber es darf nicht zu einer romantischen Betrachtung menschlicher Beziehungen führen. Hinter der Krippe von jungen Eltern, die unterwegs sind, steht das Leid von Millionen von Flüchtlingen in aller Welt. Man nennt das letzte und auch dieses Jahrhundert, in dem wir leben, dass Jahrhundert der Flüchtlinge. Noch nie sind so viele Menschen unterwegs gewesen. Die Feste um Weihnachten, zumal morgen am 2. Weihnachtsfeiertag der Steinigungstod des hl. Stephanus und kurz danach der Mord an den unschuldigen Kindern von Bethlehem, zeigen uns, dass Gott in eine Welt kommt, in der Gewalt herrscht. Damals wie heute. Da wird uns nichts vorgelogen. Da ist es nicht einfach so, dass an Weihnachten ein bisschen Glanz über alles gedeckt wird und damit auch zugedeckt wird, was wirklich ist. Weihnachten offenbart unsere Welt bis in die tiefsten und letzten Abgründe. Hinter der Krippe steht auch das Kreuz. Ungerechtigkeit, Angst, Macht und Verrat sind ganz nahe dabei. In dieser Hinsicht entwirft das Fest der Menschwerdung Gottes ein Gegenbild, nämlich von der gleichen Würde aller Menschen und darum auch der notwendigen Solidarität untereinander. Nur so kann in unserem Land und weltweit eine menschenwürdige und zugleich eine menschengerechte Gesellschaft entstehen.
Meine lieben Schwestern und Brüder, man sieht es diesem Wort, diesem zentralen Wort des heutigen Evangeliums: „Und das Wort ist Fleisch geworden" sieht man es nicht sofort an, dass Weihnachten im Grunde ein revolutionäres Fest ist, weil es die faktischen Verhältnisse, die in vielen Teilen der Welt dominieren, auf den Kopf stellt. Aus denen, die untergeordnet und ungleich sind, sollen Menschen werden mit derselben Würde. Aber nur so können viele Träume der Menschen und ein hoher Einsatz vieler, die in aller Welt, auch in unseren Missionen, um Gerechtigkeit und Versöhnung kämpfen, wenigstens Schritt für Schritt verwirklicht werden. Dafür ist und bleibt Weihnachten ein Fest der Hoffnung. Diese Hoffnung mag im Einzelnen, auch in unserem eigenen Leben, immer wieder einmal enttäuscht werden, aber sie kann nicht einfach aufgehoben oder ausgelöscht werden. Weil Gott diese Hoffnung ist. Ich denke, darin liegt der tiefste Grund warum die Engel und die Hirten verkünden: „Verherrlicht ist Gott in der Höhe, und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade." Amen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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