Predigttext: Joh 16,13 |
„Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen. Denn er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird sagen, was er hört und euch verkünden, was kommen wird.“
Pfingsten ist das Geburtsfest der Kirche. Die Frauen und Männer mit der Mutter des Herrn in der Mitte wussten in ihrem einmütigen Zusammenbleiben zwischen Christi Himmelfahrt und der Ankunft des Gottesgeistes an Pfingsten, dass sie nicht allein bleiben müssen. „Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommen wird.“ (Apg 1, 8; vgl. 2,1-13). So kann man auch sagen, wie die Theologie es vielfach getan hat und tut, dass die Kirche ein Geschöpf, eine Kreatur des Geistes ist.
Dies gilt gewiss nicht nur für den Zeitraum der fünfzig Tage nach Ostern. Die Verheißung der Sendung des Geistes gilt für die ganze Zeit der Kirche, die nun beginnt. Auch nach der Himmelfahrt und dem Pfingstereignis bleiben die Jünger nicht als Waisen zurück. Die Kirche muss immer, solange sie in dieser Zeit existiert, offen bleiben für das Wirken des Geistes in ihr. Dies ist in vielerlei Hinsicht ausgesagt. So ist jeder getaufte Christ Träger der Verheißungen des Geistes. Wir sind tief überzeugt, dass alle, wenn wir es nur entdecken, eine Gabe des Geistes haben, die dem Einzelnen zum Wohl des Ganzen gegeben worden ist.
Das heutige Evangelium zeigt uns, dass dieses Geschenk nicht nur dem Einzelnen, sondern auch der Gemeinschaft der Glaubenden gegeben ist. Die sogenannten Abschiedsreden Jesu wollen uns die Mut- und Trostlosigkeit des vermeintlichen Alleinseins und Verlassenwerdens nehmen und uns des Beistandes versichern, den Gott uns schenkt. Darum heißt es, dass der Geist Gottes kommen wird und uns in die ganze Wahrheit führen wird.
Dies ist die Antwort auf die Frage, wie es nun nach dem Abschied Jesu und dem Tod der ersten Jünger und Alt-Apostel weitergehen soll. Wer wird die Gemeinden führen? Wer ist verantwortlich für die Verkündigung? Wer beantwortet die neu anstehenden Fragen? In welcher Autorität tut er dies? Die erste Antwort auf diese bangen Fragen ist relativ einfach: Die Bindung an Jesus ist nicht einfach vergangen, er ist eine bleibend gegenwärtige Autorität. So sagt es in aller Klarheit der Schluss des Matthäus-Evangeliums: „... und lehret sie alles halten, was ich euch geboten habe. Denn siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung der Welt.“ (28,20) Durch die Evangelien sollte der Kirche für alle Zukunft die Möglichkeit gegeben sein, sich immer wieder an der Autorität Jesu zu orientieren. Wenn er aber nun nicht mehr selbst diese Worte verbürgt und in die Situation hineinspricht, droht nicht die elementare Gefahr, dass die Kirche sich vor allem an den historischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten der Zeitlage heraus motiviert? Die „Trauer“, von der Jesus spricht, wird sich oft in Pessimismus, Resignation und lähmender Handlungsunfähigkeit äußern. Matthäus nennt dies „Kleinglaube“. Er ist das Zeichen einer Versuchung im Blick auf den Glauben.
An dieser Stelle genau setzt die wirkliche Verheißung des Johannesevangeliums ein: „Es ist gut für euch, dass ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden.“ (Joh 16,7). Der Geist tritt also an die Stelle Jesu. Die Kirche kann sich auf den „Geist Jesu“ verlassen. Sie kann auch in neuen und anderen Situationen das überlieferte Wort Jesus „aus dem Geist heraus“ verstehen und aus seinem Geist heraus denken und handeln. Es gibt in neuen Situationen, die erschrecken und ratlos machen können, keinen anderen Weg und keine andere Zuflucht, als sich durch den Geist immer wieder in die Tiefe der Person und der Worte Jesu führen zu lassen.
Dies muss man sich immer wieder sagen lassen, wenn man anderswo eine Antwort sucht: In Visionen, in neuen Prophezeiungen, in Vorhersagen und Mutmaßungen. Wir verbrauchen oft viel Zeit, um den Weg der Kirche mit vielen Mitteln zu erkunden. Hilfsweise ist dies auch nicht falsch. Aber es kann leicht verdecken, dass wir nur eine echte Antwort finden, wenn wir immer wieder Jesus, seine Person und sein Wort, aufsuchen. Es ist deutlich gesagt, dass der „Geist der Wahrheit“ (vgl. auch 14,26) noch längst nicht erschöpft ist. Zwar ist alles Entscheidende schon gesagt. Der Geist bringt keine neuen Offenbarungen, wie man in verschiedenen Jahrhunderten immer wieder glaubte (neues „Zeitalter des Geistes“). Mit aller nötigen Klarheit sagt Jesus immer wieder, dass der Geist von dem Seinigen nimmt und keine andere Botschaft hat. Aber der Geist kann die noch unerkannte Fülle der Wahrheit des Evangeliums neu zur Erfahrung bringen, kann wirklich in die noch verborgene Tiefe führen, „in die ganze Wahrheit leiten“. Geist und Geschichte gehören zusammen: Er vertritt Jesus beim Gang durch die wechselvollen Zeiten und hält sein Wort aktuell lebendig und gegenwärtig. Der Geist macht uns auch Mut, bei Jesu Vermächtnis zu bleiben und uns nicht durch allerlei Rufe, uns von anderswo zu orientieren, verführen zu lassen.
Wie soll dies geschehen? Von wem ist dies gesagt? Die „ganze Wahrheit“ bezieht sich auf die im Wort und in der Verkündigung erfassbare Wirklichkeit Gottes (vgl. 4,24; 8,32; 17,17; 18,37f.). Jesus offenbart, was er vom Vater gehört, und der Geist erschließt, was er von Jesus empfangen hat. Dies gilt für unsere persönliche Situation, wenn wir nicht aus und ein wissen. Dann sollen wir zuerst und entschieden in das Wort Jesu hineinhören, es in Gebet und Meditation geradezu belagern, bis es uns den richtigen Wink gibt. Dieses Wort gilt gewiss nicht nur von denen, die in der Kirche Verantwortung tragen. Es gibt immer wieder Menschen, die in den verschiedenen Zeiten die Orientierung durch den Gottesgeist uns besonders konkret nahe bringen können. Ich denke an die großen Heiligen mit ihren Wegweisungen, vom Heiligen Augustinus bis zu den Seligen und Heiligen unserer Tage, Edith Stein, Kardinal von Galen, Charles de Foucauld, aber auch zu denen, die noch nicht oder gar nicht seliggesprochen sind: Alfred Delp, Roger Schutz. Aber es sind nicht selten auch weniger bekannte, freilich uns vertraute Menschen, die heute die Wege ebnen können für den Geist als unseren Beistand in dieser Zeit: Eltern, Lehrer, Seelsorger, Männer des Geistes und darin auch der Kunst. Manchmal sind es aber auch Kinder und junge Menschen, durch die der Geist spricht, wie der Heilige Benedikt mahnt. Und schließlich sind es auch Päpste, Bischöfe und Priester, die mit Hilfe des Gottesgeistes durch ihr Wort und die Unterscheidung der Geister dem Willen und Wort Gottes die Wege eröffnen wollen in der Not der Geschichte.
Voraussetzung freilich ist für all dies, dass wir Gottes Geist nicht einfach mit unserem Geist ineins setzen, dass wir wie die Jünger mit Maria uns ganz dem Gottesgeist öffnen und wirklich auf ihn allein hören. Von diesem ursprünglichen Hören lebt die Kirche. Bei dem vielen Gerede, das auch oft in die Kirche eindringt, dürfen wir nie vergessen, wo der wahre Beistand zu suchen und zu finden ist.
Schließlich dürfen wir auch hier nicht vergessen, dass dies alles zwar für die Stärkung unsres Glaubens geschieht, aber nicht nur und zuerst für uns allein. Es geht darum, dass wir mit dem Geist Zeugnis geben von Jesu Botschaft in der Welt. Nur in dieser Sendung erfüllt die Kirche wirklich den Willen des Herrn. Sonst bräuchten wir nicht das Pfingstereignis, denn beides, Geistempfang und Sendung, gehören eng zusammen: „Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommen wird; und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde.“ (Apg 1,8).
Darum gibt es Pfingsten als Geburtsfest der Kirche. Amen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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