Thema: "Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen" (Mt 2,2b), ER hat uns gerufen.
Lesungen: 1 Sam 3, 1-10; 1 Kor 12, 12-27; Mt 2, 1-2
Es ist eigentümlich, wie viele junge Menschen aus aller Welt seit dem Beginn der Weltjugendtage vor fast 20 Jahren (Erster offizieller WJT am Palmsonntag 1986 in Rom; 1987 erstmals außerhalb Roms in Buenos Aires) immer wieder zusammengeströmt sind. Kein Hindernis konnte sie zurückhalten. Es stecken große Sehnsüchte nach Frieden, Bekämpfung von Armut und einer "Kultur der Liebe" (Papst Johannes Paul II.) dahinter. Sie brauchen wir auch für den Bau der Zukunft unserer Welt. Wie immer stecken hinter solchen Aufbrüchen verschiedene, sogar recht unterschiedliche Motive. Man möchte die Welt, ja andere Verhältnisse kennen lernen. Vielleicht entdeckt man auch andere Lebensmodelle und Erfahrungen in anderen Ländern, die einem selbst weiterhelfen können. Neugierde wird nicht fehlen. Im Übrigen war dies gewiss auch schon im Wallfahrtswesen der Jahrtausende und Jahrhunderte durchaus ähnlich.
Aber dies reicht doch nicht als Erklärung. Wir können ja feststellen, dass gerade ein großer Aufbruch und eine weite Reise einen tieferen Grund brauchen, damit man sich die Mühe macht und Gefahren nicht fürchtet. Dabei werden wir manchmal von einem inneren Instinkt oder einer noch etwas undeutlichen Stimme gelockt und getrieben zugleich. Es gibt Antriebe für unsere Aufbrüche, die nicht einfach von uns kommen. Die Bibel ist hier sehr sensibel und bringt uns unvergessliche Beispiele dafür. Die Verheißung an Abraham, dass Gott ihn mit einem großen Volk segnet, ist mit einem solchen Aufruf, in ein unbekanntes Land und eine ferne Zukunft zu ziehen, eng verbunden. "Der Herr sprach zu Abraham: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde." (Gen 12,1) Ähnlich sehen wir dies auch bei Jesus und den Jüngern, die er in die Nachfolge ruft. Mitten beim Fischfang lassen sie ihre Netze liegen, folgen Jesus und werden Menschenfischer (vgl. Mk 1,14-20).
So evident wie bei Abraham und den Jüngern ist es jedoch nicht immer, nicht von Anfang an und nicht bei allen. Es gibt ja verschiedene Anrufe, die wir im Gewirr vieler Stimmen hören und immer auch unterscheiden müssen. Es ist nicht leicht herauszufinden, ob eine Stimme von Gott kommt oder bloß ein Reflex unserer Gewohnheiten, ein Echo heimlicher und raffinierter Verführer, z.B. in Werbung und Propaganda, oder am Ende nur ein Ausdruck unserer eigenen verborgenen Wünsche ist. Dies können wir in der Berufungsgeschichte des Samuel gut sehen, die wir vorhin in der ersten Lesung gehört haben.
Samuel tut den Dienst im Tempel. Er hat schon vieles in seinem Glauben erfahren. Aber im Blick auf das unmittelbare Wort Gottes in die Zeit hinein scheint es offensichtlich eher dürftig zu sein. "In jenen Tagen waren Worte des Herrn selten. Visionen waren nicht häufig." (1 Sam 3,1) Dennoch spricht Gott. Aber Samuel erkennt ihn zunächst nicht. Er meint, dass es sein Meister Eli ist, der ihn nachts ruft. Erst beim dritten Mal merkt Samuel, dass es nicht Eli war, der ihn rief, sondern Gott selbst. Dann findet Samuel auch die richtige Antwort. Es braucht also das, was die Heilige Schrift und die Tradition der Spiritualität von Anfang an "Unterscheidung der Geister" nennt (vgl. 1 Kor 12,10; Heb 5,14). Besonders die Zeichen der Zeit, so vieldeutig und wetterwendisch wie die Zeichen am Himmel, brauchen eine klare Deutung (vgl. Mt 16,3; Lk 12,54; 21,7).
Den Ruf Gottes und auch den Ruf Jesu kann man daran erkennen, dass er uns aus der Masse, wo wir uns eher verstecken können, und den Gewohnheiten unseres Lebens, für die wir uns nicht so verantwortlich fühlen ("Andere tun es doch auch!"), herausreißt. Da ist es wichtig, dass wir bei unserem Namen gerufen werden: So wie Gott uns schon bei unserer Entstehung und auch beim Christwerden (Glaube und Taufe) einen eigenen Namen gegeben hat, der die einmalige Würde eines jeden Menschen zum Ausdruck bringt. Gott packt uns in der letzten Tiefe unseres Lebens, wenn er ruft. Der Ruf Gottes verlangt immer Mut, denn er meint jeweils uns, ohne dass wir austauschen könnten. Wir möchten ja gerne alles tauschen, besonders die schwierigeren Dinge unsers Lebens: Verantwortung und Lasten. Zum Ruf Gottes gehört es, dass er uns zunächst in die fremde und in eine unbekannte Zukunft führt. Dies gilt für jeden Christen und besonders natürlich für alle in seiner engeren Nachfolge. Aber hier kommen immer zwei Dinge zusammen: Der Ruf Gottes geht an den Einzelnen, und zwar in die letzte Tiefe seiner Person und seines Gewissens. Aber diese Unverwechselbarkeit des Rufes bezieht sich auch auf einen Auftrag, auf die Zugehörigkeit dieses Einzelnen zu einer Gemeinschaft und besonders auf den Dienst am Evangelium in aller Welt. Der Ruf und die Sendung gehören zusammen. Ein Ruf dient nicht einfach nur der privaten Erbauung oder nur dem individuellen geistlichen Verlangen. Er stellt uns immer an einen bestimmten Platz. Viele Berufungsgeschichten in der Bibel zeigen uns dies.
So entspricht die Sendung dem Ruf. Durch die Sendung erteilt uns Jesus – meist durch die Kirche, die in seinem Namen spricht – einen Auftrag. Die einzelne Person stellt ihre Fähigkeiten und Charismen in den Dienst der Gemeinschaft besonders der Kirche. Die Lesung aus dem 12. Kapitel des ersten Briefes an die Korinther hat uns gezeigt, wie die vielen Gaben, gerade auch in ihrer bunten Vielfalt, einander ergänzen: "Es gibt verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist... Er bewirkt alles in allen... Das alles bewirkt ein und derselbe Geist; einem jeden teilt er seine besondere Gabe zu, wie er will." (1 Kor 12,4.11) Nur dieser eine Geist hilft uns auch den Eigensinn und eine falsche Selbstliebe zu überwinden. Die Gaben des Geistes (Charismen) sind nur echt, wenn sie sich nicht in ihrer Besonderheit aufblähen und aufspreizen, sondern wenn sie in den alltäglichen Dingen der Kirche als der Gemeinschaft der Glaubenden nützlich sind und dienen.
Dabei müssen wir immer wieder in uns selbst hineinhören und auf das Wort Gottes achten, ob wir den Ruf Gottes auch wirklich vernommen haben oder nur auf einzelnen vorläufigen Stufen stehen geblieben sind. Vielleicht führt uns der Ruf Gottes noch tiefer. Auch Menschen, die einen Dienst in der Nachfolge Jesu übernommen und lange Zeit ausgeübt haben, fragen sich manchmal nach vielen Jahren: War das alles? Will Gott vielleicht von mir doch noch mehr und etwas anderes? Wir sperren uns oft gegen einen solchen weiterführenden Ruf Gottes und möchten uns gerne entschuldigen, wie es sogar die Propheten tun: Suche einen anderen! Ich bin noch zu jung! Ich kann nicht gut reden! Aber Gott besteht dann auf der Radikalität seines Rufes. Hier gilt das abgründig tiefe Wort Jesu an Petrus: "Als du noch jung warst, hast du dich selbst gegürtet und konntest gehen, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst." (Joh 21,18)
Wir sprachen zu Beginn davon, dass wir alle irgendwo einen Impuls oder irgendeinen Wink erhalten haben, uns zu diesem Weltjugendtag 2005 aufzumachen. Gott spricht mit vielen Signalen. Einmal sind sie offenkundig und unzweideutig. Dann müssen wir auch wiederum mühsam seine Stimme in den vielen Stimmen unserer Welt herausfinden und regelrecht herausfiltern. Dies gilt für jeden von uns. Der Weltjugendtag schafft nicht eine anonyme Masse, sondern er möchte auch jedem und jeder von uns seine Sendung und seinen Ort in der Kirche aufzeigen. Auf den Weltjugendtagen haben darum immer auch junge Menschen ihre Berufung zu einem geistlichen Dienst entdeckt: Frauen und Männer! Zugleich werden wir aber auch erneut berufen als Kirche in der verschiedenen Bedeutung dieses Wortes: in der kleinsten Gemeinschaft von Ehe und Familie, die wir gerne "Hauskirche" nennen, in unseren Pfarrgemeinden, in unseren Diözesen und Ländern, vor allem aber auch als Weltkirche, die vom Austausch ihrer Glieder lebt. Da müssen wir unseren konkreten Platz suchen.
Zum Weltjugendtag 2005 gehören gerade in Köln, wohin wir nun gehen und in den nächsten Tagen sein werden, die "Heiligen Drei Könige". Sie sind Menschen, die sich in ganz besonderer Weise rufen ließen. Sie wussten nicht, was sie erwartet. Aber sie waren leidenschaftlich auf der Suche nach der Wahrheit unseres Lebens, nach einer Orientierung für unser ganzes Dasein, nach einem letzten Halt und einer untrüglichen Gewissheit mitten in den Wirrungen unseres Lebens. Dieses Suchen gehört zum Menschen, wenn er sich nicht selbst verbiegt. Es sind Heiden. Sie nehmen den Ruf Gottes in einem Stern wahr: "Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen." (Mt 2,2) Darauf kommt es an: unablässig und leidenschaftlich auf einen Stern zu zu gehen. Jesus ist der Stern unseres Lebens, der Morgenstern und der Abendstern, am Anfang und am Ende. Gehen auch wir mit diesem Stern heute und morgen zu unseren vielen Schwestern und Brüdern nach Köln und von dort aus dann nach diesen Tagen verwandelt in unsere Heimat. Amen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz