I.
Seit uralter Zeit haben Fest und Feier die Wirkung, dass wir im täglichen Lauf der Dinge innehalten und durch diese Unterbrechung, wenn wir nur wollen, zur Besinnung kommen. Daher ist der Jahreswechsel auch eine gute Gelegenheit für ein solches Nachdenken über die vergangene Zeit. Wir haben soeben von Herrn Dompräbendat Martin Berker eine solche vielfältige Rückschau auf das Jahr zur Kenntnis genommen.
Das Erste, das wir dabei feststellen dürfen, ist die Notwendigkeit des Dankens. Unsere Sprache ist weise: Denken und Danken gehören eng zusammen. Wer nachdenkt, hat genug Grund zum Danken. Vieles ist uns in diesem zu Ende gehenden Jahr gelungen. Manche Krise konnte glücklich gemeistert werden. Gott sei Dank, vieles ist nicht so schlimm gekommen, wie es zunächst aussah. Dabei wollen wir nicht die Augen davor verschließen, dass wir von geliebten Menschen endgültig Abschied nehmen mussten, unheilbare Krankheiten aufgedeckt wurden und uns auch sonst manche Hiobsbotschaft erreichte. Aber auch solche Schicksalsschläge können wir am ehesten bewältigen, wenn wir sie uns nochmals vor Augen führen und uns damit auseinandersetzen. Dies gilt auch für große Katastrophen, wie z.B. die Tsunami-Katastrophe in Südostasien und das Erdbeben in Kaschmir, deren Opfer wir auch an diesem Abend nicht einfach vergessen wollen.
Wenn wir darüber und manches andere nachdenken, spüren wir einen Wandel in unseren Beziehungen zur Welt und zur Geschichte. Wir erfahren nicht nur wieder neu unsere Ohnmacht gegenüber Naturkatastrophen, sondern wissen auch um die Anfälligkeit unserer Gesellschaftssysteme, etwa durch den Terrorismus, und die Ungesichertheit der Sozialsysteme für die Zukunft. Früher konnten wir neu auftretende Probleme oft durch die Verteilung gewachsener finanzieller Mittel lösen, jetzt spüren wir viel stärker auch die Grenzen in materieller Hinsicht. Jedenfalls müssen wir gegenwärtig und künftig wohl mit weniger Sicherheiten leben als bisher. Wenn man dies in einer Zeit erfährt, in der wir noch sehr aus dem Vollen schöpfen konnten, wird man rasch enttäuscht und missmutig, ängstlich und unbeweglich. Wir brauchen also eine neue Gelassenheit den Verhältnissen und Dingen gegenüber, Gelassenheit, die freilich nicht mit einem Nachlassen unserer Verantwortung für die Zukunft verwechselt werden darf.
II.
Wir haben gerade als Kirche in diesem Jahr für vieles zu danken. Der Tod von Papst Johannes Paul II. hat der ganzen Welt gezeigt, dass es am Ende auf das Christsein ankommt, und wie man auch im Sterben noch einen letzten Halt gewinnen kann. „Ich bin froh, seid ihr es auch!“ gehört zu den Worten, die wir nicht so leicht vergessen können. Man spürte weltweit, wie sehr die Menschen das Gefühl hatten, einen Mann verloren zu haben, der ihnen verlässliche Orientierung aufzeigte. Eine ganze Generation kannte keinen anderen Papst als Johannes Paul II. Er war für sehr viele, besonders junge Menschen der Papst. Gerade vor diesem Hintergrund und der bangen Frage, wer ihm nachrücken könnte, war es eine befreiende Erfahrung, dass das neue Oberhaupt unserer Kirche nach ziemlich kurzer Zeit, nämlich im vierten Wahlgang, gefunden werden konnte, und dass er auch diesen Dienst annahm. Für uns Deutsche war es wenige Wochen vor der 60. Wiederkehr der Kapitulation am Ende des Zweiten Weltkrieges ein ganz unwahrscheinliches Geschenk, dass Joseph Kardinal Ratzinger vom Konklave mit Kardinälen aus der ganzen Welt zum Nachfolger von Johannes Paul II. gewählt wurde. Ihm traute man die Fortführung des Petrusdienstes im Geiste des früheren Papstes zu. Seit mehr als 480 Jahren gab es keinen Papst mehr aus dem deutschen Sprachgebiet. Schließlich hat Benedikt XVI. rasch und überzeugend gezeigt, dass er seine neue Aufgabe entschlossen, würdig und selbstständig übernimmt und auch für Überraschungen gut ist.
Beim Weltjugendtag im August 2005 in Köln haben wir nicht nur die Jugend der Zukunft aus aller Welt mit ihren Hoffnungen zu Gast gehabt, sondern auch eine große neue Zuwendung zum Gottesdienst und zur Spiritualität, ja zur Kirche überhaupt erlebt. Es hat uns beeindruckt, welchen Mut zur Zukunft gerade junge Menschen aus armen Ländern gezeigt haben und welche Begeisterung für den Glauben sie mitbrachten, ohne dass dies ein blinder Enthusiasmus gewesen. Die jungen Schwestern und Brüder haben uns gezeigt, dass die Begeisterung auch mit Schweigen und Anbetung zusammengeht. Rasch fanden sie in Papst Benedikt XVI. einen Mann, der sie in den Wirrnissen unserer Zeit begleitet und dem sie Vertrauen schenken konnten. Wie sehr unsere Welt Vorbilder braucht, haben wir an der tiefen Trauer vieler Menschen über den tragischen Tod von Prior Roger Schutz aus Taizé erfahren, der schon früh die Weltjugendtage begleitete. Ein weiteres markantes Ereignis durften wir mit unseren evangelischen Schwestern und Brüdern feiern, als die wiederaufgebaute Frauenkirche in Dresden am 30. Oktober 2005 unter einer riesigen Teilnahme der Menschen wieder eingeweiht wurde.
So wäre noch manches zu nennen, etwa die XI. Ordentliche Bischofssynode in Rom zum Thema der Eucharistie. Vielleicht ist es jetzt jedoch wichtiger, sich genauer zu fragen, wie die Menschen dies alles erfahren und gedeutet haben. Man kann diese Ereignisse durch Übertreibung oder durch Untertreibung falsch einschätzen. Es ist nicht nur eine großartige Stimmung für ein paar Tage gewesen. Es ist aber auch kein Wunder, das schlagartig unsere Probleme lösen würde.
III.
Schon seit Jahren sprechen Sozialwissenschafter, Demoskopen und Kenner unserer Zeit von so etwas wie einer „Rückkehr der Götter“ oder auch von einer „Rückkehr der Religiosität“. Wir wissen, dass der Glaube nicht schon jede Religion absegnet, weil sie Religion ist. Es gibt in den Religionen der Völker und bis in unser eigenes Herz hinein immer wieder auch eine Entstellung und einen Missbrauch von Religion. Formen, die wir für überholt glaubten, wie z.B. der Satanismus, stehen wieder auf. Sie können auch die rationale Einsicht und Verantwortung des Menschen vernebeln. Der christliche Glaube kennt schon mit der Bibel des Alten Testaments die Notwendigkeit der Religionskritik und der Entlarvung von Götzen. Es darf auch nicht bei frommen Stimmungen bleiben, die rasch wieder verfliegen, wenn der Ernst des Alltages sich meldet.
Dennoch sagt das Stichwort „Rückkehr der Religiosität“ mehr. Nicht zufällig haben zwei große Wochenendzeitungen unseres Landes jetzt zu Weihnachten als Haupttitel auf der ersten Seite geschrieben: „Gott wird wieder wichtiger“ (FAZ-Sonntagszeitung vom 25.12.2005) oder „Gott ist nicht tot“ (Die Zeit vom 21.12.2005). Gewiss stecken dahinter viele einzelne Motive. Jedenfalls ist der Glaube nicht verschwunden, wie viele Propheten über die Zukunft der Gesellschaft und auch der Kirche seit langem voraussagen wollten. Die Religion hat sich trotz staatlicher Übermacht im Osten Europas und trotz eines großen Wohlstandes mit den Gefahren des Konsumismus im Westen nicht erledigt. Die Säkularisierung wächst nicht in den Himmel.
Gewiss steckt aber auch noch ein Bündel anderer Motive hinter dem erwähnten Wandel. Wir sprachen am Anfang vom Ende der alten Sicherheiten. Der Mensch braucht aber gerade bei ihrem Verlust eine neue Gewissheit, die ihn trägt. Religion kann es nicht geben ohne eine solche letzte Gewissheit, die auf Biegen und Brechen, im Leben und im Sterben Halt gibt. Natürlich können sich auf dieser Suche nach Gewissheiten auch allerhand fundamentalistische Haltungen einnisten. Aber daran werden bald alle Ersatzlösungen zerbrechen, dass sie nämlich die unendliche Sehnsucht des Menschen nicht erfüllen können. Dies gilt aber nicht nur für ein Erstarken des Verlangens nach Spiritualität und sogar Mystik, wie es vielfach zu beobachten ist, sondern dahinter verbergen sich auch Hunger und Durst des Menschen nach Maßstäben und „Werten“ im alltäglichen Leben des Einzelnen und der Gesellschaft.
Unsere Zeit hat ja auch nach dem Scheitern mancher Gesellschaftsprojekte und politischer Programme den Glauben an billige und wohlfeile Lösungen verloren. Man spürt, dass man seine Hoffnung tiefer verwurzeln muss als in den Launen des Zeitgeistes. Dies gilt nicht zuletzt eben für unsere Not, überdurchschnittlich anspruchsvolle politische und soziale Maßnahmen in unserem Land akzeptabel zu machen und durchzusetzen: über den Tellerrand bloß von heute hinwegzusehen, viel stärker sich um die zukünftigen Generationen zu sorgen, die Güter dieser Welt mit den Armen zu teilen und freiwillig Verzicht zu üben auf ihren raschen Verzehr. Auch für das politische Leben und Gestalten braucht es eine Hoffnung, die gerade auch beim Scheitern mancher Pläne nicht zerfällt. Es wird ein Ziel gesucht, das nicht wieder allen Interessen unterworfen ist, sondern das unbedingt für alle gilt. Das Ziel dieser Suche hat in unserer Gesellschaft gewiss viele Namen, die ihre letzte religiöse Dimension oft kaschieren: uneingeschränkte Freiheit, absolute Gerechtigkeit, weltweites Teilen, Menschenwürde für alle. Aber es sind gewiss auch Vornamen für Gott selbst.
Die christlichen Kirchen wissen, dass die „Rückkehr der Götter“ bzw. „Rückkehr der Religiosität“ nicht von selbst in die Kirchen hineinführt. Es gibt mit Recht Religionsfreiheit und Toleranz, solange Religion mit den Spielregeln unserer Verfassung im Einklang steht. Der Pluralismus der Weltanschauungen und Religionen strömt mächtig von außen und von innen in unsere Gesellschaft ein. Die Unterscheidung der Geister tut Not, wo z.B. wirklich wahre Freiheit gefördert wird, wo am Ende Gewalt verherrlicht wird wo und raffiniert blanker Egoismus vorherrscht. Darum muss es bei aller Religionsfreiheit und Toleranz auch diese Unterscheidung der Geister geben, was einen echten Wettbewerb friedlicher Art durchaus einschließt. Zum vielfachen Zusammenwirken der Christen in der Ökumene gibt es dabei keine Alternative. Gemeinsam sind wir stärker. Es kann dabei durchaus einzelne Rückschläge geben. Aber wir können nur gemeinsam einen gediegenen Weg des christlichen Zeugnisses in die Zukunft gehen. Dabei kann die Betonung der eigenen Identität, wenn sie sich nicht überlegen und negativ, sich selbst überhöhend, durchaus nützen. Aber die Hervorkehrung des eigenen Profils ist hier nicht ohne Gefahren.
Was den Kirchen in einer solchen Situation zu tun bleibt, ist nichts anderes als das, was uns immer aufgegeben ist, dass wir nämlich unerschrockene Zeugen von Glaube, Hoffnung und Liebe in unserer Welt sind. Dabei wird es immer mehr auf jeden einzelnen Christen ankommen, der an seinem Ort ein unersetzlicher Zeuge von der Kraft des christlichen Glaubens ist. Alle Ämter und Dienste, alle Institutionen und Strukturen werden immer stärker in ihrem radikalen Dienstcharakter erkennbar: Sie unterstützen und befähigen die Christen zu ihrem Zeugnis in der Welt. Wir sind dabei in der Deutschen Bischofskonferenz, aber auch in der Ökumene auf einem guten Weg; denn spätestens seit der Jahrtausendwende haben wir viele Anregungen und Hilfen erstellt zur Vertiefung und Erneuerung des missionarischen Bewusstseins. Unser Christsein hat wirklich grundlegend etwas damit zu tun, wie viele Menschen wir durch unser Leben und unser Wort aufmerksam machen auf die Chance des Glaubens und wie viele wir auch gewinnen.
IV.
Dafür haben wir heute gewiss eine besondere Chance. Wir konnten im Zug der geschilderten Entwicklung eine erhebliche Veränderung im Mitgliedschaftsverhalten feststellen. Die Zahl der Kirchenaustritte hat sich erheblich verringert. Zugleich hat sich die Zahl der Wiedereintritte etwa in derselben Größenordnung erhöht. Hinzu kommen angestiegene Eintritte überhaupt, Konversionen und Erwachsenentaufen. Sie belegen ihrerseits den beschriebenen Trend. Wir haben daraus die Konsequenzen gezogen und haben die Anstrengungen der missionarischen Pastoral verstärkt. So haben wir mit den Diözesen der Mittelregion unseres Landes eine Initiative gestartet, die aufruft zum Eintritt und zum Wiedereintritt in die Kirche. Die missionarische Pastoral trägt ihre Früchte.
Unsere anderen Aktivitäten, wie z.B. die präzisere Fassung der pastoralen Strukturen im Bistum Mainz, soll uns für die Präsenz vor Ort besser rüsten, denn die anderen Schwerpunkte, besonders in den überpfarrlichen Räten, liegen letztlich auf derselben Linie, die mit der missionarischen Pastoral zusammenhängen: z.B. Vertiefung der Gottesfrage, Stärkung von Ehe und Familie, Schutz des Lebens.
In diesem Jahr haben wir zurückblicken dürfen auf den Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 40 Jahren und der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland vor 30 Jahren. Ich habe in Wort und Schrift, in den Medien und den Erwachsenenbildungseinrichtungen, aber auch in der Theologie und in Veröffentlichungen immer wieder dazu Stellung bezogen. Wir haben den manchmal vergessenen Reichtum mancher Konzilstexte neu entdeckt. Es sind viele wertvolle Kongresse abgehalten worden. Wir haben auch viele Hilfen zur Auslegung der Konzilstexte erhalten.
Wir haben dabei unser Verhältnis zum Zweiten Vatikanischen Konzil vertieft. Seine Anregungen und Aussagen sind für uns nach wie vor die Magna Charta der Kirche auch im 21. Jahrhundert. Es ist eine verlässliche Orientierung auch in unserer Zeit. Viele Bischöfe, Priester, Ordensangehörige und Laien nehmen weltweit an der Verwirklichung dieser großen Anregungen teil. Gewiss können wir deutlich unterscheiden zwischen dem, was stärker zeitbedingt und zeitübergreifend war und ist. Wir sehen dadurch aber auch stärker, welche Impulse wir selbst noch nicht genügend aufgenommen und noch keineswegs eingelöst haben.
Damit schließt sich der Kreis. Wir haben damit begonnen darzulegen, wie sich unsere Lebensverhältnisse geändert haben. Wir haben oft die alten Sicherheiten in ihrer bisherigen Gestalt eingebüßt, aber wir haben darum die letzte Gewissheit unseres Glaubens nicht verloren; im Gegenteil: Sie ist für uns wie ein Leuchtzeichen und ein Stern am Himmel unserer Zeit.
Wir sind und bleiben Wanderer zwischen zwei Welten. Wir spüren dies auch immer mehr, besonders am Jahreswechsel. Auf dieser Wanderschaft brauchen wir besonders Mut, Gemeinschaft und Gelassenheit. Dazu gebe uns Gott seinen Segen. Amen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz