I.
Die Zeit war dem Menschen immer schon ein tiefes Rätsel. Ihre Flüchtigkeit, dass man sie nicht anhalten kann, hat den Menschen immer Schrecken eingejagt. Sie erschien geradezu als unheimlich und gefräßig, weil sie die verfügbare Zukunft aufzehrte. Auf der anderen Seite war die Erfahrung der Zeit auch eng verbunden mit glücklichen Augenblicken, darin der Mensch in vieler Hinsicht die Schönheit und Größe seiner Existenz wahrnehmen konnte. Es ist vor allem das Glück, das mit dieser Zeiterfahrung zusammenhängt. Aber auch hier wissen wir aus eigenem Erleben, wie schnell der glückliche Augenblick vorbei ist und sich gerade deshalb immer wieder auch Melancholie einstellt.
Wegen dieser doppelten Seite hat der Mensch ein ambivalentes Verhältnis zur Zeit. Dies wird besonders deutlich am Ende eines Jahres. Einmal sind wir glücklich und froh, wenn ein gutes, ertragreiches Jahr zu Ende geht. Auf der anderen Seite wissen wir um die Ungewissheit aller Zukunft. Bei allen Planungen können wir uns nicht absolut vorsehen und schützen vor Missgeschick und Unglück. Darum hoffen wir wieder auf ein gutes Jahr. Und darum auch einerseits der Dank und anderseits die Bitte an der Jahreswende.
Wir brauchen eine Pause der Besinnung gerade zu dieser Zeit. Wir wollen nicht einfach gedankenlos weitermachen, sondern wollen eine schöpferische Unterbrechung des Alltags, der oft von Hektik geprägt ist. Da liegt es nahe, dass wir nicht nur ökonomisch, sondern auch in anderer Hinsicht Bilanz machen und uns damit nochmals vergegenwärtigen, was sich ereignet hat und worauf es in Zukunft ankommt.
II.
Im Rückblick sind wir zunächst einmal dankbar für vieles, was sich in dem zu Ende gehenden Jahr ereignet hat. Gerade in den letzten Wochen und Monaten stellen wir nach langem Warten eine Aufwärtsentwicklung der wirtschaftlichen Lage und damit besonders auch eine leichte Verbesserung der Arbeitsmarktsituation fest. Der Einsatz und der Fleiß vieler Menschen auf allen Ebenen haben dazu beigetragen. Manchmal freilich sind mir, auch wenn wir gute Gründe für eine zuversichtliche Haltung haben, die Töne im Blick auf die künftige Entwicklung fast schon zu leichtfertig optimistisch, denn – der Bundespräsident hat es in diesen Tagen auch angedeutet – wir haben noch nicht alle Reformen bewältigt. Manches, was sich ändern muss, wird noch schmerzlich bleiben oder werden. Aber es ist schon einmal eine hoffnungsfrohe Grundstimmung, die wir in das neue Jahr hineinnehmen dürfen.
Wir haben mehrere Probleme zu bewältigen. Da ist zunächst die Globalisierung als ein nicht mehr ganz so junges, aber immer noch sehr herausforderndes Phänomen. Wir haben in vielen Dingen unerwartete Konkurrenz aus aller Welt bekommen. Viele Waren werden kostengünstig ins Land geworfen und schaffen eine Situation, wo Konkurrenz schwieriger geworden ist. Wir müssen unsere Kräfte schöpferisch bündeln und jene Produkte vorzugsweise schaffen, die eine hohe Qualität haben. Dabei wird immer deutlicher, dass wir unseren Lebensstandard nur halten können, wenn wir auf einem hohen Niveau beweglich und schöpferisch bleiben. Dies setzt hohe Bildungsstandards voraus.
Wir leben in einem sozialen Rechtsstaat, in einem – wie wir gerne sagen – Sozialstaat. Dies ist eine große Errungenschaft, die wir niemals preisgeben können und wollen. Aber er ist manchmal auch in einiger Hinsicht überdehnt worden. Wir haben auch zu viele Aufgaben dem Staat aufgebürdet, der diese Lasten nur durch eine hohe Verschuldung tragen kann. Dabei werden die zukünftigen Generationen besonders belastet. In diesem Sinne müssen wir unseren Sozialstaat in mancher Hinsicht umbauen, was nicht gleichbedeutend ist mit Abbauen. Wir müssen auch in Zukunft fähig sein, für die Menschen durch die Sozialversicherungen die Grundrisiken des menschlichen Lebens, vor allem Krankheit und Pflege im Alter, Schicksalsschläge (z.B. Arbeitslosigkeit) und Unfälle, zu tragen. Gewiss kann dann der Mensch auch in den alltäglichen Situationen des Bedarfs an kleinerer Hilfe stärker mit seinen eigenen Kräften zurechtkommen. Hier braucht es eine neue Balance zwischen Selbstverantwortung oder auch Eigenverantwortung und Solidarität. Dabei werden wir die Menschen nicht vergessen dürfen, die im Schatten unserer Erfolge leben. Arm und Reich klaffen oft weit auseinander. Die Rede von einer „Zweidrittelgesellschaft“ ist nicht nur ein Gespenst. Wir dürfen uns nicht mit der hohen Arbeitslosigkeit und vor allem der Langzeitarbeitslosigkeit abfinden. Gerade wenn es uns besser geht, müssen wir hier vermehrte Anstrengungen unternehmen.
Wir haben gerade in unserem Land in den letzten Jahrzehnten eine hohe Sozialkultur entwickelt. Es herrscht nicht zuerst und allein der Gegensatz von Kapital und Arbeit. Bei aller Verantwortung der Unternehmer und dem großen Beitrag aus Technologie und Wissenschaft haben alle Schichten, vor allem auch die Arbeitnehmer, zum Gelingen des Zusammenlebens in Gesellschaft und Staat beigetragen. Dies dürfen wir nie vergessen. Es ist in besonderer Weise eine kostbare Errungenschaft, vor allem auch der mitteleuropäischen Gesellschaften. Dies hat uns viele unnütze Auseinandersetzungen oder z.B. auch längere Streiks erspart. Deshalb darf nun auch die soziale Gerechtigkeit, die immer auch den Schwächsten im Auge halten muss, nicht verletzen, gerade wenn auch einige Schwächen und Entgleisungen des Sozialstaates zu korrigieren sind. Hier ist in den letzten Jahren doch manches auch in der Unternehmenskultur in Gefahr geraten, einseitig nur den Markt und den Profit als Maßstäbe zu sehen und den notwendigen Ausgleich, der zur Sozialen Marktwirtschaft gehört, hintanzustellen.
Die Kirche wird hier besonders wachsam bleiben, denn dies ist ihr, gegründet auf das Evangelium, durch ihre Soziallehre aufgegeben. Gerade in Mainz wissen wir uns dem unveräußerlichen Erbe von Bischof Ketteler verpflichtet.
Wir sind nicht mehr allein, sondern in der Europäischen Union ab morgen mit Rumänien und Bulgarien 27 Länder. Wir sind dankbar für dieses Zusammenwachsen in einem Kontinent, der sich jahrhundertelang zerfleischte und nun schon über 60 Jahre im Ganzen friedlich zusammenleben darf – vergessen wir freilich nicht Krieg und Vertreibung im ehemaligen Jugoslawien.
Die Bundesrepublik Deutschland übernimmt im ersten Halbjahr 2007 die Präsidentschaft des Europäischen Rates. Im März werden wir 50 Jahre „Römische Verträge“ feiern. Dies wird für alle Kräfte Europas eine Gelegenheit sein, wieder mehr Begeisterung für die Idee eines geeinten Europa unter unseren Völkern zu wecken.
Wir haben diese Begeisterung ziemlich verloren und sind enttäuscht über das ökonomische und vor allem bürokratische Übergewicht. Nun haben wir Gelegenheit, die kulturelle Gemeinschaft dieses Europa in ihren „Werte“-Grundlagen zu erneuern. Dies schließt auch eine wieder zu belebende Diskussion über eine europäische Verfassung mit ein. Wir werden von kirchlicher Seite alles tun, um auch in einer Präambel die religiösen und christlichen Grundlagen Europas wieder neu ins Gespräch und zur Geltung zu bringen. Es ist wohl nicht zufällig, dass die Pioniere für ein neues Europa zum größten Teil katholische Christen waren.
III.
Ein gewisser Optimismus hat auch die Situation von Kirche und Religion erfasst. Man spricht gerne von einer Wiederkehr des Religiösen oder der Religionen. Darin verbirgt sich zunächst ein vielschichtiger Befund. Terroristen haben mit Berufung auf ihren Gott mörderische Anschläge verübt. Manche Formen des Religiösen sind wieder erstarkt, die wir eher für überholt glaubten, z.B. wachsender Aberglaube, ja sogar satanische Kulte. Für den biblischen Glauben ist nicht schon jede Wiederkehr des Religiösen von vornherein – weil es eben Religion ist – gut. Judentum und Christentum haben von Anfang an eine Auseinandersetzung mit den vielen Göttern und Götzen unseres Lebens geführt. Wir sind froh und dankbar, dass es in den letzten Jahren immer wieder glaubwürdige Aufbrüche zu Glauben und Religion hin gab, besonders wenn große Katastrophen uns bedrohten, sei es vom Menschen gemachte oder von der Natur hervorgerufene (11. September 2001, Tsunami). Der wahre, göttliche Gott darf nie verwechselt werden mit unseren Projektionen, am allerwenigsten der Gewalt und Macht. Auch das Christentum ist immer wieder einmal dieser Versuchung erlegen. Deshalb bedarf es der ständigen Unterscheidung zwischen dem göttlichen Gott, vor dem man allein die Knie beugen darf, und den am Ende selbst gemachten Götzen unseres Lebens. Religionskritik kommt zuerst aus dem Glauben selbst, nicht von Außen.
Es scheint mir ein wichtiges Kennzeichen wahrer Religion zu sein, dass sie den Menschen von solchen Tendenzen und Machenschaften befreit und nicht neu versklavt. Darum darf auch der vielberufene Dialog der Religionen bei aller Tendenz zum Verständnis nicht oberflächlich zu einer harmonisierenden Einheit führen, sondern muss auch die jeweiligen Differenzen aushalten. Die Geschichte der Regensburger Vorlesung von Papst Benedikt XVI. vom 12. September 2006 hat uns gelehrt, dass wir diesen – ich sage es nochmals: unersetzlichen – Dialog nicht oberflächlich und blauäugig führen dürfen. Er wird jedoch so wichtiger.
Wir dürfen – Gott sei Dank – in den letzten ein bis zwei Jahren auch in der Kirche ein neues Interesse an echten religiösen Fragen feststellen. Dies zeigt sich zuerst einmal darin, dass es beträchtlich weniger Austritte aus der Kirche, eine größere Zahl von Wiedereintritten und eben auch von neuen Christen gibt. Sie zeigen uns, dass wir in der Kirche wirklich immer wieder an die Hecken und Zäune gehen müssen, um das Evangelium Jesu Christi zu verkünden. Missionarisches Bewusstsein, das wir neu und vertieft gewinnen wollen, heißt ja nicht, dass wir Menschen in einer bestimmten Richtung indoktrinieren und manipulieren, aber es gehört zu jeder wahren Religion, dass sie von ihren Glaubensüberzeugungen öffentlich spricht, andere dazu einlädt, an ihnen teilzunehmen, und dies durchaus auch in einem gewissen Wettbewerb. Diese neue missionarische Haltung, die immer zum christlichen Glauben gehörte (sei Jesus Christus für alle Menschen gestorben ist), vollzieht sich nicht nur und vielleicht nicht einmal zuerst im Wort, sondern in der Tat unseres Lebens, in der persönlichen Nächstenliebe, in Caritas und Diakonie.
Wir reden viel von „Werten“, die unserer Gesellschaft abgehen und die wir doch so notwendig brauchen. Aber manchmal ist unsere Rede davon auch allzu wolkig. Werte sind ja nicht einfach freistehende Fixsterne. Sie müssen vor allem von Menschen in Gemeinschaft überzeugend getragen und exemplarisch gelebt werden. So sehr der Glaube im Herzen des Einzelnen wurzelt, so sehr brauchen wir auch den Anhalt und die Stütze durch eine größere Gemeinschaft, gerade auch in Sachen des Glaubens. Deshalb darf der religiöse Aufbruch auch nicht nur eine momentane Stimmung oder eine kurzlebige Mode sein. Deshalb haben wir auch versucht, z.B. beim Weltjugendtag im August 2005 und beim Papstbesuch in Bayern im September 2006 über die Begeisterung des Tages hinaus die Impulse zu entdecken, die weitertragen, gerade auch in der Jugendpastoral. Deshalb brauchen wir aber auch in der Gemeinschaft der Glaubenden Verlässlichkeit und Standfestigkeit, Kontinuität des Zeugnisses und Zivilcourage. Um dies immer wieder einzuüben und lebendig zu halten, brauchen wir eine regelmäßige Unterbrechung des Alltags zu Fest und Feier. Darum müssen wir uns auch mit allen Kräften für eine Erneuerung der Sonntagskultur, zu der der Gottesdienst gehört, einsetzen, die nicht selten wenigstens indirekt durch die Auswirkungen der neuen Ladenschlusszeiten beeinträchtigt wird, auch wenn der Sonntag selbst formell verschont wird. Dafür müssen wir auch gemeinsam einen neuen ökumenischen Schwung aufbringen.
Ich möchte allen, die sich in diesem zu Ende gehenden Jahr im Sinne dieser Erneuerung von Glaube und Kirche bemüht und verdient gemacht haben, ein herzliches Danke zurufen: Zuerst Papst Benedikt XVI., der uns die großen Linien des Weges der Kirche in die Zukunft vor Augen führt, aber auch den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Haupt- und Ehrenamtlichen auf allen Ebenen der Kirche, den Geistlichen und den Laien, nicht zuletzt den Verbänden und besonders den Familien. Ich danke allen, die uns ermöglichen, unsere Aufgaben im Blick auf die Glaubensverkündigung, den Gottesdienst und die Feier der Sakramente sowie in der Tat des Lebens, die Nächstenliebe, zu erfüllen. Dabei denke ich vor allem auch an die Frauen und Männer in den Schulen, in sozialen Einrichtungen, z.B. in Kindergärten sowie den Krankenhäusern und Altenheimen. Es ereignet sich in unseren Einrichtungen, gewiss auch anderswo, viel Menschlichkeit, oft im Alltag verborgen. Ich wünsche uns allen, dass wir im kommenden Jahr diese Treue zur alltäglichen, oft unscheinbaren Menschlichkeit, weiterbezeugen, die auch im Leiden und in der Vergeblichkeit nicht scheitert, vielmehr durch den Blick auf das Kreuz unseres Herrn neue Kraft schöpft. Dann tun wir dies, was der hl. Paulus uns aufträgt, nämlich die Zeit „auszukaufen“ (vgl. Kol 4,5; Eph 5,16). Wenn wir dies tun, brauchen wir keine Angst zu haben vor einem neuen Jahr. Damit können wir auch künftig gut bestehen. Amen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz