Das Leben und Wirken des verstorbenen Papstes ist in den letzten Tagen, auch hier durch Predigten und Ansprachen im Mainzer Dom, vielfach gewürdigt worden. Ich selbst habe es kurze Zeit nach dem Tod hier und im Erbacher Hof, auch am Sonntagmorgen in der Eucharistiefeier versucht; danach in Berlin und in vielen Medien.
Dabei lag mir immer auch daran zu zeigen, dass dieser Papst aus unserem polnischen Nachbarland ein großer Freund der Deutschen war. Dies ist keineswegs selbstverständlich. Polen war immer wieder in der Zange zwischen Deutschland und Russland. Es ist von beiden Seiten überfallen worden. Man hatte Grund zum Misstrauen. Dieser Papst hat sich mitten in der nationalsozialistischen Besatzungszeit, ja man kann sagen im Untergrund und Widerstand, differenziert verhalten. In dieser Zeit und bald danach hat er schwierige, namhafte deutsche Philosophen, besonders Max Scheler und Edmund Husserl, studiert, die sein eigenes Denken nicht unmaßgeblich geprägt haben. Der universale Geist hat wirklich über nationalistische Gewalt gesiegt. Und auch die Gräuel des Vernichtungslagers in Auschwitz-Birkenau ganz nahe bei seiner Heimat konnten nicht verhindern, dass er nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in verschiedenen Positionen immer wieder auf uns zuging bis hin zum Austausch des Briefwechsels zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils im November und Dezember 1965.
Aber wir dürfen an diesem Abend gerade auch in Mainz unsere speziellen Erfahrungen mit dem Erzbischof von Krakau, Karol Wojtyla und späteren Papst Johannes Paul II., in Erinnerung rufen. Wahrscheinlich war er im September 1974, also vor über 30 Jahren, zum ersten Mal in Mainz. Der damalige Generalvikar für die Polen in Deutschland feierte in Frankfurt sein Goldenes Priesterjubiläum, zu dem der Krakauer Oberhirte kam. Bei dieser Gelegenheit wollte er unbedingt einen Abstecher nach Mainz an das Grab des von ihm verehrten Sozialbischofs von Ketteler machen. Immer wieder kommt der Name in seinen Schriften und Predigten vor. Ketteler war für ihn ein Beispiel, wie für den Bischof selbst die soziale Sorge um das Wohl der Menschen mit der Frage nach dem Heil eng zusammengehört. Die großen Sozial-Weltrundschreiben „Laborem exercens“ (1981), „Sollicitudo rei socialis“ (1987) und „Centesimus annus“ (1991), aber auch seine Weltfriedensbotschaften zu den Neujahrstagen (seit 1979 bis 2005) zeugen von dieser intensiven Verbundenheit mit Bischof von Ketteler. Beiden lag übrigens auch die Freiheit der Kirche von politischen Kräften am Herzen.
Nur wenige Jahre später kam Kardinal Wojtyla wiederum nach Mainz. Hier hatte der Fachbereich Katholische Theologie der Johannes Gutenberg-Universität unter Anregung und Leitung von Prof. Prälat Dr. Dr. h.c. Josef Georg Ziegler schon seit 1971 einen regen Austausch zwischen den Mainzer Professoren und sechs polnischen Partnerhochschulen begonnen und ausgebaut. In diesem Zusammenhang wurde der Krakauer Erzbischof anlässlich der 500-Jahrfeier der Universität zum Ehrendoktor ernannt. Der Titel seiner Festvorlesung lautete: „Person: Ich und Gemeinschaft“. Kurz vorher sprach er im Mainzer Dom zum Thema: „Christ sein im Licht des Zweiten Vatikanum“. Er wurde ausgezeichnet, weil er ein Ethiker war, „der dem Ethos der Wahrheit verpflichtet, der Theologie, insbesondere der Moraltheologie ebenso mutig wie umsichtig neue Wege aufgezeigt hat“, wie es in der Laudatio hieß. Dies war auch der Dank für die in schwierigen Zeiten erfolgte eindrucksvolle Rezeption vor allem auch des deutschen Philosophen Max Scheler in der polnischen Kultur. Dies war eine zweite wichtige Brücke, die durch die persönliche Freundschaft, so nüchtern sie auch war, zwischen den beiden Kardinälen von Krakau und Mainz befestigt wurde, Karol Wojtyla und Hermann Volk.
Ein dritter wichtiger Besuch (20.-25. September 1978) fand drei Wochen vor Wojtylas Wahl zum Papst statt. Er besuchte am 24. September 1978 mit dem damaligen Primas von Polen Stefan Wyszynski aus Warschau im Rahmen des ersten offiziellen Besuchs einer polnischen Bischofsdelegation in Deutschland zum dritten Mal Mainz. Im Mainzer Dom hielt der Erzbischof von Krakau vor 3000 Gläubigen eine längere Begrüßung vor dem gemeinsamen Gottesdienst. Wiederum betete man gemeinsam am Grab von Bischof Ketteler. Fast prophetisch hat der Krakauer Kardinal damals in Köln erklärt: „Ich hoffe, dass die Begegnung der gegenseitigen Annäherung, dem gegenseitigen Kennenlernen dienen und das Schöpfen aus dem beiderseitigen Schatz des Glaubens und der Kultur ermöglichen wird. Ich bin überzeugt, dass dies zur Gestaltung eines neuen Antlitzes Europas und der Welt beitragen wird zur nahenden Jahrhundert- und Jahrtausendwende.“ (Stimmen der Weltkirche, Nr. 4, Bonn 1978, 31) Wenige Tage nach der Abfahrt der polnischen Gäste stirbt Johannes Paul I. am 28. September 1978. Am 16. Oktober ist Karol Wojtyla als erster Slawe und erster Nichtitaliener seit 1522 mit dem Namen Johannes Paul II. Nachfolger Petri. Vielleicht war Mainz, gewiss mit den anderen Aufenthalten in Deutschland und in den deutschsprachigen Ländern, eine wichtige Station auf dem Weg nach Rom.
So war der erste Besuch des neuen Papstes am 16./17. November 1980 auf der großen Deutschlandreise gut vorbereitet. Am 16. November feierte er mit 250.000 Gläubigen bei schrecklichem Wetter die heilige Messe auf dem Flughafen in Mainz-Finthen. Man darf die zwei dichten Mainzer Tage gewiss unter manchen Akzenten sehen, aber vor allem gab es ökumenische Höhepunkte beim Gespräch mit dem damaligen Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Eduard Lohse, und der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland. Die Überlegungen, wie es mit der Ökumene weitergehen könnte, trugen viele Früchte. Hier liegt die Geburtsstunde der langjährigen Arbeit über den wechselseitigen Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts. Es gibt große Worte zu Martin Luther, der 1510/1511 als Pilger, aber auch als Suchender und Fragender nach Rom gekommen sei. „Heute komme ich zu ihnen, zu geistlichen Erben Martin Luthers; ich komme als Pilger. Ich komme, um mit dieser Begegnung in einer gewandelten Welt ein Zeichen der Verbundenheit in den zentralen Geheimnissen unseres Glaubens zu setzen.“ Der Papst zögert aber auch nicht im Blick auf bevorstehende Aufgaben. So sagte er: „Alle Dankbarkeit für das uns Verbleibende und uns Verbindende darf uns nicht blind machen für das, was immer noch trennend zwischen uns steht. Wir müssen es möglichst miteinander ins Auge fassen, nicht um Gräben zu vertiefen, sondern um sie zu überbrücken. Wir dürfen es nicht bei der Feststellung belassen: ‚Also sind und bleiben wir ewiglich geschieden und wider einander.’ Miteinander sind wir gerufen, im Dialog der Wahrheit und der Liebe die volle Einheit im Glauben anzustreben. Erst die volle Einheit gibt uns die Möglichkeit, uns eines Sinnes und eines Glaubens an dem einen Tisch des Herrn zu versammeln.“
Andere Höhepunkte folgten, die ich jetzt nicht weiter erläutern möchte: die Begegnung mit Vertretern des Judentums; das Treffen mit den Katholiken anderer Muttersprache, bei dem auch deutlich von der Notwendigkeit einer Bewusstseinsänderung im Umgang mit Ausländern die Rede war; er geißelte die aufkeimende Fremdenfeindlichkeit. Und schließlich gab es bedeutsame Ausführungen zum Thema Arbeitswelt, die heute noch lesenswert sind. Ich zitiere nur zwei wichtige Sätze auch für heute: „Strukturelle Umgruppierungen mögen sich nach genauester Prüfung als notwendig erweisen, und je ehrlicher gesehen, desto besser. Niemals jedoch dürfen Arbeiter, die viele Jahre ihr Bestes gegeben haben, die allein Leidtragenden sein... Selbst wenn wir es nicht wollten, werden wir durch die Entwicklung gezwungen, vom Anspruchsdenken abzurücken und auf manches zu verzichten, um die begrenzten Güter mit möglichst vielen Menschen friedlich zu teilen. Wenn das soziale Klima sich zu verhärten beginnt, so sind die kommenden Veränderungsprozesse nur in sachlicher Auseinandersetzung und in solidarischem Zusammenwirken aller zu bewältigen.“ (Vgl. alle diese Texte, in: Papst Johannes Paul II. in Deutschland = Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 25 A, 3. Aufl., Bonn 1981, vgl. O. Neisinger, Stefan Cardinal Wyszynski – Karol Cardinal Wojtyla, Würzburg 1978)
Noch vieles könnte man anfügen. Aber ich wollte nur einen ersten Eindruck davon verlebendigen, wie sehr der Besuch in Mainz in vieler Hinsicht Geschichte gemacht hat. Bei anderen Besuchen, wie z.B. später in Speyer (1987), gibt es ähnliche Erfahrungen. Dies gilt auch für die Aufenthalte in Fulda. Und so könnte man auch von manchen anderen Besuchen in Köln und München, Hannover, aber auch im KZ Dachau erzählen.
Der vielgereiste Papst der 104 großen Pastoralbesuche und der über 200 Pastoralreisen in Italien – er hat auch wohl als erster Papst fast alle Gemeinden in Rom besucht –, hat dies alles nicht vergessen. Er hat überall Spuren hinterlassen, aber auch Erfahrungen und Begegnungen haben bei ihm selbst Geschichte gemacht auf seinem Lebensweg und gewiss auch Eindrücke zurückgelassen. Wenn Rompilger und auch ich selbst ihn in den vergangenen Jahren immer wieder in Rom trafen, hat er oft nur kurz, aber nachdenklich wiederholt: Mainz, Mainz, Mainz... Er wusste wohl sehr genau, was er damit verband.
Dieses Leben setzte sich aus ungeheuer vielen Erfahrungen dieser Art zusammen. Nur so können wir auch das große Echo verstehen, das ihm jetzt auf dem Weg zur Vollendung seines Lebens weltweit begegnete. Es ist wohl richtig, wenn viele Medienvertreter in diesen Tagen nicht selten sagten, zum ersten Mal in der Weltgeschichte seien einem Menschen so viele Mitmenschen begegnet. Dafür haben wir unendlich zu danken, in Mainz, in Deutschland, in Europa und auf der ganzen Welt. Und dies wollen wir darum nochmals, bevor Johannes Paul II. am kommenden Freitag seine letzte Ruhe in St. Peter findet, von ganzem Herzen sagen: Heiliger Vater, Vergelt´s Gott! Amen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz