Gastkommentar in der Mainzer Allgemeinen Zeitung v. 5. August 2000
Es ist höchste Zeit, dass dem Phänomen Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft energischer nachgegangen wird. Lange Zeit gab es viel Beschwichtigung und Vertröstung.
Trotzdem kann man nicht immer glücklich sein, wie in diesen Tagen manchmal zur Sache geredet wird. Was inhaltlich gesagt wird, mag in Ordnung gehen: stärkere Beobachtung entsprechender Gruppen, kürzere Zeiten für die Aufklärung und die rechtlichen Prozeduren usw. Aber es lässt sich auch nicht übersehen, dass damit manchmal ein "Aktionismus" an den Tag kommt, der dem Bürger den Eindruck mannhafter Gegenwehr und entschlossenen Auftretens suggerieren soll. In Wirklichkeit könnten es jedoch nur aufpeitschende, aber wirkungslose Schläge ins Wasser sein. Bedenkt man die Risiken und Probleme eines Parteienverbotes, kann ein solches Vorgehen gegen die NPD wohl auch nicht ganz von diesen Gefahren freigesprochen werden.
Selbstverständlich kann man entschlossenes Handeln nur begrüßen. Es hat offenbar in manchen Bereichen daran gefehlt. Man muss die Dinge auch beim Namen nennen. Hinter grober Ausländerfeindlichkeit verbirgt sich ja in einzelnen Fällen schlicht ein Mord oder wenigstens ein Mordversuch.
So notwendig klare und wirksame Maßnahmen sind, so evident ist aber auch, dass sie allein auf die Dauer den Sumpf nicht austrocknen können. Sofortige und kurzfristige Maßnahmen müssen darum mit längerfristigen Aufgaben zusammengesehen werden. Auf letztere möchte ich besonders abheben. Denn schließlich muss die Frage gründlich beantwortet werden, woher die Zuneigung zu braunen Ideologien und besonders zur Gewaltanwendung kommt. Man kann dies ja nicht bloß mit mangelnder Geschichtskenntnis und Bildungsdefiziten erklären, so sehr dies auch im ganzen und im Detail ins Gewicht fällt.
Ein wichtiges Element, das näher zu befragen wäre, scheint mir das Vakuum in der Sinnorientierung bei vielen jüngeren Menschen, besonders in den neuen Bundesländern, zu sein. Im Westen hat dieses Vakuum wegen der Vielfalt, Beliebigkeit und Unübersichtlichkeit von Sinnangeboten in der heutigen pluralistischen Gesellschaft bereits eine eigene Prägung. Hier kommen leicht Orientierungslosigkeit, Langeweile und dann eben auch Veränderung durch Gewalt – für viele vielleicht zunächst nur "Action" – ins Spiel.
In der ehemaligen DDR kommt für die jungen Menschen noch etwas hinzu: Die Ideologie war von oben verordnet. Man musste sich nicht selbst darum kümmern. In gewisser Weise war man von der Sinnorientierung entlastet. Die Eltern, die dieses noch leibhaftig erfahren haben, können darum ihren Kindern, die das Vakuum nun stärker zu spüren bekommen, meist wenig helfen. Wer hilft ihnen auf einen guten Weg? Wir alle sind gefragt. Die Gesellschaft kommt an einer Antwort nicht vorbei.
(c) Bischof Karl Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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