"Rechtsextremismus"

Auf ein Wort

Datum:
Donnerstag, 24. August 2000

Auf ein Wort

Von der Zweideutigkeit eines öffentlichen Schlagwortes

Die Experten, die seit einiger Zeit von der Verharmlosung der Fremdenfeindlichkeit reden, dürften Recht haben. Hier sind alle Verantwortlichen herausgefordert, den gestiegenen Taten gezielt und tatkräftig das Wasser abzugraben.

 

Ob für dies alles das Stichwort "Rechtsextremismus" ausreichend ist, steht auf einem anderen Blatt. Dieses Schlagwort wird heute in vieldeutiger Weise verwendet. In einem engeren Sinne trifft es alle Tendenzen, die in irgendeiner Verbindung stehen mit faschistischen und nationalsozialistischen Ideologien. Darüber hinaus gibt es vage rassistische Anschauungen, die in ihrem Ursprung nicht leicht zu fassen sind. Sie können auch ein Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit sein, die oft selbst wieder von Angst und Abneigung gegenüber dem Andersartigen bestimmt ist. Es ist jedenfalls nicht gut, wenn man, wie es offenbar in der Kürze nicht besser gelingt, das theoretisch und praktisch vieldeutige Spektrum von Gewaltanwendungen in diesem Bereich pauschal mit "Rechtsextremismus" zu beschreiben und abzudecken versucht. Es ist vielmehr notwendig, den einzelnen Gruppierungen sorgfältiger nachzugehen.

 

Ich verharmlose nicht den "Rechtsextremismus", aber das Wort selbst kann mehr zudecken, als dass es aufdeckt und klärt. Es wird darum leicht ein bequemes Wort, das auch ein wenig beruhigt, denn man glaubt, den Gegner damit identifiziert zu haben.

 

Auch im Ausland wirkt "Rechtsextremismus" vor dem Hintergrund der jüngsten deutschen Geschichte nicht gut. Hier spielen immer noch viele Verdachtsmomente mit. In Wirklichkeit hat ein sehr hoher Prozentsatz der Deutschen heute geistig mit "Rechtsextremismus" nichts zu tun, wenn damit die soeben beschriebenen ideologischen Tendenzen gemeint sind. Hier muss man vor allem die konkreten Subjekte solcher geistiger Verirrungen beim Namen nennen. Man muss auch gerecht bleiben: Diese ideologischen Zuspitzungen sind nicht in den neuen Bundesländern, sondern schon längst vor der deutschen Einigung im Westen entstanden.

 

Nach meinem Dafürhalten darf der Gebrauch des Wortes "Rechtsextremismus" nicht davon absehen lassen, dass das Phänomen der Gewalt in unserer Gesellschaft zugenommen hat. Es gibt eine Hemmungslosigkeit der Gewaltanwendung, es gibt aber auch ein bedenkliches "Wegsehen" vieler Mitbürger, wenn sie öffentlich ganz nahe Zeugen solcher Untaten sind. Es gibt hier auf allen Seiten offenbar eine große Fühllosigkeit, die die zur Wurzel eines falschen Verhaltens wird.

 

Eine Gesellschaft, die in vielen Bereichen das "Sichdurchsetzen" des Stärkeren gutheißt und als Leitbild anpreist, darf sich nicht wundern, wenn faktisch hier – zumindest ohne Gegensteuerung – Gewalttätigkeit begünstigt wird. Wenn zusätzlich lohnenswerte Ziele fehlen und ein unzweifelhaft gegebenes Sinnvakuum nicht gefüllt wird, bleibt der menschliche Geist nicht einfach "leer", sondern es ziehen dunkle und dumpfe Ideologien ein.

 

Es gibt in unserer Gesellschaft gewiss auch einen Bodensatz sehr konkreter Fremdenfeindlichkeit, der sich in Ausschreitungen gegen Juden und Angehörige fremder Kulturen äußert. Hier braucht es konkrete Aufklärung. Die Bildungseinrichtungen, die Schulen, aber auch die Medien und die zuständigen Wissenschaften müssen sich fragen, ob wir mit den Phänomenen des Totalitalismus, wie er im 20. Jahrhundert gewütet hat, richtig umgehen. Wurde nicht vielfach diese Zeit z.B. des Nationalsozialismus verharmlost und zu einem Stück historischer Unterhaltung? Fehlte nicht die politische Erziehung als wahre Konsequenz?

 

"Fremdenfeindlichkeit" reicht aber auch noch weiter. Der Mensch hat eine elementare Angst vor dem Fremden, das oder den er nicht versteht. Dies kann wenigstens auf die Dauer Abneigung und vielleicht sogar Aggression erzeugen. Aufklärung ist hier mehr als nur ein etwas von oben herabschauendes Mehr- oder Besserwissen. Man muss viel mehr versuchen, den Anderen gerade in seiner Eigenart zu verstehen. Dafür sind auch Sprachenkenntnisse unentbehrlich. Es genügt auch nicht, in fremde Länder zu fahren, ohne dass man sich um die Leistungen und Sinnschöpfungen anderer Kulturen und auch Religionen bemüht. Dies hat auch eine Kooperation zu Hause als Folge. Sonst ist auf die Dauer so etwas wie ein Crash der Kulturen fast unvermeidlich.

 

Im Kern geht es jedoch hier um die konkrete Gültigkeit der Menschenwürde in jeder Situation und für ausnahmslos alle Menschen. Es ist nicht selbstverständlich, daran mit Herz und Sinn sowie in der Tat des Lebens festzuhalten. Nach meiner Auffassung erreicht man dies nicht ohne eine letzte Verankerung in der Transzendenz, im Glauben und in Gott selbst. Darum sind die Kirchen und alle Religionsgemeinschaften elementar aufgerufen, sich in der Frage der Ausländer nicht mit Randsymptomen zu begnügen, sondern auch den inneren Verführungen eines "Rechtsextremismus" auf den Grund zu gehen.

 

Copyright: Karl Lehmann, Mainz
(aus: Bistumszeitung Glaube und Leben, August 2000)

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz