Die christlichen Kirchen, allen voran der Papst, und namhafte Religionsführer auch des Islam haben nach dem 11. September mit aller Deutlichkeit gesagt, man müsse bei den Attentaten strikt zwischen Islam und Terrorismus unterscheiden. Dies wiederholt sich auch in zahlreichen Stellungnahmen von Staatsmännern der ganzen Welt. Aber bei nicht wenigen Menschen kommt auch der Verdacht hoch, solche Gewalttätigkeiten wären am Ende und insgesamt ein Ausbruch und ein Ausdruck eines religiösen Wahns, den die Religionen ohnehin immer über die Menschheit gebracht hätten. Es wäre nun höchste Zeit, dass mit der Religion eben auch der religiöse Wahn ausstirbt und verschwindet.
Hier muss man manches unterscheiden, was durcheinander geht. Je weniger deutlich solche Überzeugungen, z.B. auch in Leserbriefen von Illustrierten, geäußert werden, umso notwendiger ist eine genauere Beschäftigung damit.
Der biblische Glaube ist nicht einfach gleichzusetzen mit Religion. Er weiß um die Götzen und die Abirrungen in vielen Religionen und verspottet sie nicht selten. Der wahre Glaube muss immer wieder unterscheiden zwischen dem göttlichen Gott und den Idolen sowie Masken des Göttlichen, in denen Menschen endliche Dinge absolut setzen. Darum gibt es seit Jahrtausenden immer wieder Hinweise zur Unterscheidung der Geister.
Freilich muss auch der biblische Glaube immer wieder mit Selbsttäuschungen rechnen. Man ist nicht schon selbst im Lot, wenn man andere und fremde Verirrungen des Religiösen kritisiert und ablehnt. Die Geschichte der Religionen und der Kirche zeigt, dass sich immer wieder irdische, allzu irdische Versuchungen einschleichen und so Religion missbraucht werden kann. Darum muss man auch und gerade in der Religion immer das Wesen vom Unwesen unterscheiden und um eine stetige Reinigung des Geistes und des Gewissens besorgt bleiben. Wir Christen wissen durchaus um verhängnisvolle Verstrickungen in das Böse und um Schuld oder wenigstens Mitschuld, die daraus erwachsen sind.
Ich denke z.B. an sogenannte Zwangsmissionen und erzwungene Taufen, an eine fragwürdige Wertschätzung der Heimat Jesu Christi durch Kreuzzüge, an eine tief problematische Verteidigung von Wahrheit durch Inquisition und an manche Brutalität bei der Eroberung fremder Länder im Namen des christlichen Glaubens durch den Kolonialismus. Ich weiß, dass man alle diese Phänomene sorgfältig, frei von Vorurteilen und auch aus dem Geist einer Zeit heraus beurteilen muss. Sie eignen sich wirklich nicht für einen Kirchenkampf oder für eine billige Kritik des Christentums. Gerade wir Katholiken wollen uns der Geschichte, die zu uns gehört und zu der wir uns bekennen, stellen. Aber dies heißt ja nicht, dass wir alles blind verteidigen müssen. Es bleiben schließlich auch Fehlentwicklungen und Abwege, Schuld und Sünde.
Auch heute müssen die Kirchen auf der Hut sein, nicht für andere – gewiss manchmal harmlose Zwecke –instrumentalisiert zu werden. Dies reicht von der Werbung, die oft schamlos christliche Motive aufgreift und ausnützt, bis zum politischen Wahlkampf, der hier auch nicht zimperlich ist. Es gibt diesen Missbrauch, und wir haben ihn manchmal zu milde hingenommen. So ergibt sich immer wieder die Notwendigkeit einer Art von Tempelreinigung, ähnlich wie Jesus die Wechsler und Händler aus dem Heiligsten verjagt hat.
Es gibt gewiss auch immer wieder einzelne Menschen, die psychisch oder geistig abnormal oder krank sind und tatsächlich einem religiösen Wahn im engeren Sinne verfallen können. Aber ein einigermaßen aufgeklärter Mensch wird diese Einzelbeispiele nicht einfach der Religion schlechthin oder den Kirchen insgesamt anlasten können und wollen.
Es bleibt wohl immer ein Problem, das stets Versuchungen mit sich bringt und eine bleibende Herausforderung darstellt. Dies ist das Verhältnis jeder Religion zur Gewalt. Vor allem ist es die Frage, wie sich das Verständnis und das Bild Gottes offen oder mehr verborgen zur Gewalt verhält. Die Forschungen zur Geschichte der Religionen in psychologischer und soziologischer Perspektive haben im letzten Jahrhundert viele Erkenntnisse an den Tag gebracht. Die Theologie hat sie nicht einfach übergangen (vgl. nicht zuletzt die zusammenfassenden Bücher des Innsbrucker Jesuitentheologen R. Schwager). Es gibt bei den raffinierten Listigkeiten des Menschen, die ihm gar nicht alle bewusst sein müssen, sehr subtile Versuchungen, sich bei der letztlich doch gewalttätigen Durchsetzung von Interessen der Religion zu bemächtigen. In diesem Zusammenhang geht es besonders auch um den Umgang mit Leid und Leiden.
Hier muss der Glaube auf der Hut sein. Wir haben in der reichen Spiritualität der Kirche viele Hilfen dafür. Aber dieses Verhältnis zur Gewalt ist auch ein zentrales Stück des Dialogs der Religionen untereinander, nicht zuletzt auch des Gesprächs mit den vielen Formen des Islam.
Auch dies sollten wir nach dem 11. September beachten und, wenn wir schon so aufgeklärt sein wollen und manche sich so intellektuell gebärden, nicht vergessen oder gar unterschlagen.
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz
(aus: Bistumszeitung Glaube und Leben, Oktober 2001)
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz