In diesem Jahr feiern wir zwar kein großes Jubiläum im Blick auf das Leben und das Werk von Romano Guardini, wie es etwa beim 100.Geburtstag im Jahr 1985 war. Aber es gibt einige runde Erinnerungsjahre, die uns in die ganze Biographie von Romano Guardini hineinführen. Vor 75 Jahren, im Jahr 1923, wurde Romano Guardini auf den neu errichteten Lehrstuhl für „Religionsphilosophie und Katholische Weltanschauung" an der Universität Berlin berufen. Aus hochschulorganisatorischen Gründen war er Mitglied der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Breslau mit der Verpflichtung, als ständiger Gast an der Universität Berlin tätig zu sein. In wenigen Monaten werden es 60 Jahre sein, daß Romano Guardini zwei einschneidende Mitteilungen gemacht worden sind, daß nämlich das Kultusministerium die Aufhebung seines Lehrstuhls angeordnet habe. Die Begründung war entlarvend, nämlich der Staat vertrete selbst eine Weltanschauung, neben der eine andere nicht notwendig und nicht zulässig sei. Dies war Ende Januar 1939. Anfang August 1939 wurde Burg Rothenfels beschlagnahmt. Damit wurde ein anderer zentraler Ort im Leben Guardinis hart getroffen. Wenige Wochen später begann der Zweite Weltkrieg. Eine weitere Station ist das Jahr 1948. Vor 50 Jahren wurde Romano Guardini nach dem relativ kurzen Aufenthalt von drei Jahren in Tübingen an die Universität München berufen, wo er seine eigentliche Wirkungsstätte fand. Hier lehrte er bis zum Jahr 1962, dem Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils. Romano Guardini lebte 20 Jahre in der bayerischen Metropole. Vor 30 Jahren - dies ist das letzte Datum -, nämlich am 1.Oktober 1968, schloß er nach schmerzlicher Krankheit und einem immer stärkeren Hinfälligwerden für immer die Augen.
Vor einem Jahr fand er seine letzte Ruhestätte in der Münchener Universitätskirche St. Ludwig, wo er so viele Jahre predigte.
Romano Guardini ist mit Oberitalien und Südtirol in besonderer Weise verbunden. In Verona ist er geboren. Nie hat er Isola Vicentina, die Heimat seiner Familie zwischen Verona und Vicenza, vergessen mit dem wunderbaren Park und den Bäumen, unter denen viele Vorlesungen und Bücher entstanden sind. Aber die Villa seiner Familie war für ihn auch ein Zeichen des langsamen Zerfalls, der Last von Familientradition, abschiedliche Trauer. Die Mutter Paola Maria, in Pieve di Bono geboren, mit ihrem Mädchennamen Bernardinelli, brachte ihn immer wieder mit dem italienischen Geist in Berührung. 95 Jahre ist sie geworden, bis sie im August 1957 in Isola starb. Guardini war damals selbst schon 72 Jahre.
Dies alles liegt in unserer schnellebigen Zeit, die sich immer mehr beschleunigt, schon lange zurück. Der Abstand zu Romano Guardini und seiner Zeit ist überdeutlich geworden. So trat nach seinem Tod bei aller Verehrung, die er bei sehr vielen immer noch genoß, eine Zeit der Stille ein. Im Abstand von 30 Jahren nach seinem Tod und im Rückblick auf die vorher genannten Stationen scheint Romano Guardini jedoch wieder neu vor uns zu erstehen. Darum ist es wohl nicht zufällig, daß in jüngster Zeit einige namhafte Darstellungen von Guardinis Gedanken erschienen sind, von denen ich nur die von Alfons Knoll (Glaube und Kultur bei Romano Guardini, Paderborn 1993), Gunda Brüske (Anruf der Freiheit. Anthropologie bei Romano Guardini, Paderborn 1998) und Bruno Kurth (Das ethische Denken Romano Guardinis. Gehorsam gegenüber Gott und Freiheit des Geistes. Eine moraltheologische Studie, Paderborn 1998) nennen möchte. Die wichtigsten Werke sind leicht zugänglich. Nicht zuletzt auch seine Stimme auf einigen Sprechkassetten.
Vielleicht ist dies auch eine gute Gelegenheit, daß sich manches Zeitbedingte und vieles, was Romano Guardini schon in die geistige Gestalt unserer Gegenwart einbringen konnte, sabhebt gegenüber dem, was bleibt. Es ist das Erbe, das er uns nicht bloß zur Erinnerung, so notwendig sie ist, sondern für die Gestaltung unserer Zukunft hinterlassen hat. Darüber wollte ich am heutigen Tag und gerade hier in Trento sprechen.
Romano Guardinis Denken ist nie nur theoretisch ausgerichtet. Es erhebt zwar in hervorragender Weise den Anspruch auf Wahrheit. In diesem Sinne ist es gewiß in ausgezeichneter Weise theoretisch und akademisch, weil es sich durch nichts anderes leiten läßt als von der Suche nach wahrer Erkenntnis. Aber rein theoretisch ist dieses Denken nie. Helmut Kuhn hat darum sein Guardini-Buch überschreiben können mit dem Titel „Romano Guardini - Philosoph der Sorge" (St. Ottilien 1987). Dabei geht es nicht nur um einen Einsatz für andere und anderes. „Sorge" ist vielmehr ein Grundwort der abendländischen Philosophie, das bei Sokrates und Plato einsetzt und sich - gewiß unter vielen Verwandlungen - von Anfang an bei Martin Heidegger wiederfindet. In diese Traditionsgeschichte gehört auch Romano Guardini.
Es scheint zuerst die Sorge um den Menschen zu sein, die Romano Guardini bestimmt. In der Tat ist er immer Seelsorger und Erzieher gewesen und geblieben, der bewegt ist vom Lebensgang und vom „Schicksal" des Menschen (vgl. dazu ganz besonders das wichtige Buch Freiheit, Gnade, Schicksal. Drei Kapitel zur Deutung des Daseins, München 1948; Mainz 1994). In besonderer Weise war Romano Guardini immer wieder auch von der Sorge um das Heil des Menschen bewegt. Es kam ihm darauf an, daß der Mensch den Sinn seines Lebens nicht verfehlt. Dies war aber nicht einfach abstrakt der Fall. Vielmehr gehörten für Romano Guardini die Analyse der geschichtlichen Situation und in ihr das Erscheinungsbild des Menschen zu seinem Grundauftrag. Man kann wohl sagen, daß ihn dies mehr und mehr geprägt hat. So ist es nicht zufällig, daß Guardini zentrale Aufsätze der späteren Zeit in zwei Bänden unter den Titel stellt „Sorge um den Menschen" (Würzburg 1962/66; Mainz 1988/1989). Dort heißt es im Vorwort (vgl. S.7): Diese Beiträge „enthalten manche Kritik an der gegenwärtigen Kultur; auch diese Kritik ist aber nicht von bloß kulturphilosophischen Gesichtspunkten, sondern von einer immer stärker empfundenen Sorge um den Menschen bestimmt, der nie so unmittelbar gefährdet war wie heute. Von der Frage, ob der Mensch in dem immer rascher vor sich gehenden Prozeß der wissenschaftlichen, technischen, soziologischen Entwicklung in dem Sinne Mensch bleiben könne, wie der Begriff durch göttliches Wort und menschliche Ehre bestimmt wird." Diese Fragen durchziehen gewiß von Anfang an Guardinis Werk, besonders deutlich in den „Briefen vom Comer See" (1927, erschienen, neu aufgelegt unter dem Titel „Die Technik und der Mensch", Mainz 1981, Topos-Taschenbuch 108), werden aber immer dringlicher und gerade gegen das Lebensende hin zu einem prophetischen Aufschrei.
Guardinis Denken ist durch diese Sorge um den Menschen ganz elementar bestimmt. Dennoch ist es überraschend, daß damit zu diesem Thema noch nicht alles gesagt ist. Mehr und mehr wird sich Guardini nämlich fragen, ob mindestens das theologische Denken noch von einer entscheidenderen Frage geprägt sein muß. Dabei darf vorausgesetzt werden, daß die Frage nach dem lebendigen Gott von Anfang an das ganze Fragen und Suchen Romano Guardinis bestimmt. Immer wieder weist er dem heutigen Menschen offene und verborgene Wege zu Gott und zeigt sich als ein findiger Spurenleser Gottes in vielen Zeichen der Zeit. Aber ihn beunruhigt doch die Frage, was das erste sein soll. In den bemerkenswerten, aus dem Nachlaß herausgegebenen „Theologischen Briefen an einen Freund. Einsichten an der Grenze des Lebens" (München 1976) schreibt er zur Frage, von welchem „Interesse" das theologische Denken bestimmt wird, an Pfarrer Josef Weiger in Mooshausen: „In der Regel scheint es die Sorge um das Heil des Menschen zu sein. Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß dieses Moment sein volles Recht hat. Ist es aber das im Letzten Entscheidende? Müßte der Theologe nicht vor allem um Gott Sorge tragen? Sich dafür verantwortlich fühlen, daß Er mit der ganzen Majestät seines Herrentums im gläubigen Bewußtsein steht? Und wäre damit das Anliegen des Menschen nicht schon ganz von selbst gewahrt?" (S.7 f.)
Dies ist aber nicht so etwas wie ein bloßer Themenwechsel. Es läßt Guardini keine Ruhe, wie von Gott geredet wird. Gott ist kein „Problem". Die Problematik liegt in Wahrheit beim Menschen, beim Endlichen. Läßt sich neben und außer Gott überhaupt noch etwas denken? Guardini möchte nicht so rasch mit dem an sich durchaus richtigen Gedanken der Liebe antworten. Gott braucht das Endliche nicht und hat keinen Nutzen an ihm. Dennoch will er es in radikaler Freiheit und Kühnheit. Er tut dies alles nicht „olympisch" im Sinne unbeteiligter Souveränität, sondern er läßt sich ein auf das Begrenzte, das Schwache und das Geringe. Gott hat von Ewigkeit her eine solche freie „Beziehung" zum Endlichen. Es gibt so geradezu eine zärtliche Zuwendung Gottes zur Welt, auf die der Mensch freilich mit seinem Widerspruch, mit dem Bösen antwortet. „Der Gotteswille, der durch die ganze Heilsgeschichte hin das Böse in absoluter Entschiedenheit ablehnt und ahndet, ist eins mit dem Ernst, der die Verantwortung für das von seinem Geschöpf realisierte Böse auf sich nimmt." (S.12) Dies wird besonders offenkundig in der Menschwerdung Jesu von Nazareth. „Gott, der Absolute, hat das Endliche in sein Leben aufgenommen. Er hat das Einzige, was Er vom Wesen nicht ist, für sich gewonnen." (S.12)
Ich bin fest überzeugt, daß uns Romano Guardini damit einen großen Dienst tut. Er stellt die Selbstverständlichkeit unserer üblichen Rede von Gott in Frage. Er hat Sorge, ob sich unsere gutgemeinten anthropologischen Fragestellungen am Ende doch nicht negativ auswirken für die bleibende Herrlichkeit Gottes. Sind wir wirklich Gottsucher?
Romano Guardini lehrt uns auch vieles über die Art und Weise, wie wir denken. Es kommt darauf an, wie wir uns anderen und fremden Dingen öffnen. Wir sind eher gewohnt, davon unseren Ausgang zu nehmen, daß wir etwas suchen und entdecken, planen und konstruieren. Guardini ist in diesem Sinne ein „Realist", indem er weiß, daß der Mensch auf etwas angewiesen ist, was sich zu erkennen gibt. Darum muß man auch das von ihm trotz aller Einwände festgehaltene Wort „Welt-Anschauung" wörtlich nehmen. Es geht wirklich um das Schauen dessen, was ist. Aber dies heißt natürlich nicht, daß man nur ein passiver Zuschauer ist. Man muß sich zur Verfügung stellen für das, was wahr-genommen werden will. Sehen ist immer schon eine kraftvolle und engagierte Erwiderung auf das, was uns gegenüber liegt. Wir sind so vom „Bewältigen" und Erobern im Sinne naturwissenschaftlicher Forschung geprägt, daß wir andere Haltungen, die notwendig sind, um sich auf etwas einzulassen, ganz zurückstellen: das Angerufenwerden, das Sich-Erschließen, das Lauschen, das Sich-Versenken.
Wenn man daraus eine Erkenntnis-Methode ableiten will, kommt man gewiß in die Nähe der Phänomenologie Husserls und vor allem Schelers, der auf Romano Guardini einwirkte. Im Grunde scheint mir jedoch Guardinis Art, die Dinge auf sich zukommen zu lassen, noch vor aller Ausprägung von „Methoden" zu liegen, auch der Phänomenologie. Freilich läßt sich Guardini am ehesten dieser Denkrichtung zuordnen. Hier spielt das Zusammenkommen des Ich und des Anderen in der „Begegnung" eine große Rolle, wobei dies noch gar nicht im Sinne der interpersonalen Dialogik spezifiert ist.
Für Romano Guardini ist wichtig, daß man nicht mit einem Blick alles erfassen kann. Jede Sache bedarf, um wirklich erkannt werden zu können, einer Haltung, welche ihr zugeordnet ist. Gewisse Erkenntnisse erreicht man nur durch exaktes Messen. Zwischenmenschlichen Beziehungen kann man letztlich nur gerecht werden, wenn man sich auf die Person eines anderen vertrauensvoll einläßt. Gott kann man nur erkennen, wenn er der Heilige ist und bleibt, dem man sich in Anbetung und Ehrfurcht nähert. Wir haben sehr oft die Sensibilität für die verschiedenen Gegebenheitsweisen verloren. Romano Guardini ist ein Lehrmeister des Erkennens, Schauens und Verweilens. Dies ist auch eine ganz wichtige „Vorschule des Betens" (vgl. das gleichnamige Buch aus dem Jahr 1943, Mainz 1986; hier gründen auch die wertvollen Beiträge Guardinis zur liturgischen Bildung und zur liturgischen Bewegung).
Man darf sich jedoch dieses „Schauen" nicht zu einfach denken. Guardini weiß von Anfang an um die Komplexität und den spannungvollen Reichtum aller Wirklichkeit. So ringt er im ersten systematischen Werk „Der Gegensatz" (1925, Mainz 1998) um eine „Philosophie des Lebendig-Konkreten". Was uns entgegenkommt, ist immer schon die lebendig bewältigte Einheit von Gegensätzen. Wahrheit ist ein Ereignis polarer Wechselseitigkeit, in der das Subjekt gelegentlich zurücktreten muß, um der Sache mehr Raum zu geben, ein anderes Mal muß es sich mit vermehrter Anstrengung einbringen, um überhaupt Verständnis zu gewinnen. Alle Dinge müssen erst einmal in ihrer Eigengesetzlichkeit und Eigenwertigkeit betrachtet und empfangen werden, ehe sich die Frage erhebt, wie es veränderbar ist: sei es durch Führung und Erziehung, sei es durch technische Operationen. Schon früh nimmt Guardini gegen den Pragmatismus, gegen den Primat des „Lebenswertes" vor dem Logos Stellung. Guardini ist überzeugt, daß der Mensch, wenn er nur die Wahrheit erreichen will, auch fähig wird zum rechten Tun.
Guardini hat sich durch diesen Ansatzpunkt bei der konkreten Begegnung einen fruchtbaren Zugang zum christlichen Glauben geschaffen. Denn das „Wesen des Christentums" (vgl. diese Schrift aus dem Jahr 1938, Mainz 1991, und die dreibändigen Studien zur „Unterscheidung des Christlichen", Mainz 1994/95) liegt in der konkret-lebendigen, einmaligen Person Jesu Christi, nicht in abstrakten Sätzen oder Normen. Wo sonst ein Allgemeinbegriff steht, erscheint eine geschichtliche Person. In diesem Ansatz ist zweifellos auch die Fruchtbarkeit begründet, die sich in den zahlreichen Meditationen und Gedanken zur Person Jesu Christi bezeugt, angefangen bei dem großen und immer noch lesenswerten Buch „Der Herr" (1937, Mainz 1997). Diese gesamte Christologie Guardinis, die sehr stark schriftgebunden ist, bedarf noch eingehenderer Untersuchungen.
Es ist auch von hier aus deutlich, warum für Guardini die „Askese" so wichtig ist, das Wort in einem umfassenden Sinne genommen. Askese wird in einer Reihe neuerer Guardini-Untersuchungen zu einem zentralen Stichwort. Es bedeutet, daß man durch stete Zucht und Selbstüberwindung der Eigenständigkeit des zu Sehenden Rechnung trägt und dadurch der eigenen „Gestalt" ihren Vorrang zurückgibt, ohne sich immer vorlaut und selbstmächtig mit den eigenen Kategorien über die Dinge herzumachen.
Hier ist auch der Grund, warum Guardini in vieler Hinsicht für Menschen aller Lebensalter ein geistiger und geistlicher Führer geworden ist. Hier liegen Guardinis pädagogische Fähigkeiten begründet, die sicher auch etwas mit seiner seelsorglichen Kompetenz zu tun haben.
Ein bleibendes Erbe scheint in diesem Zusammenhang auch der Begriff der Person zu sein. Romano Guardini hat zeit seines Lebens immer wieder Studien dem Personbegriff gewidmet. Nach vielen Ansätzen kam er vor allem in dem 1939 erschienenen Buch „Welt und Person. Versuche zur christlichen Lehre vom Menschen" zur Darstellung (Mainz 1988). Gunda Brüske (Anruf der Freiheit, 139 ff) ist der Entfaltung des Personverständnisses bis in die spätere Zeit hinein sorgfältig nachgegangen. Dabei ist es das Verdienst von Romano Guardini, den klassischen Personbegriff aufzunehmen und ihn mit den Erkenntnissen des philosophischen Denkens unseres Jahrhunderts zu verbinden, vor allem aus der Philosophie der Existenz und Dialogik, aber auch der Phänemenologie. Romano Guardini sieht die eigentliche Auszeichnung der Person in ihrer absoluten Selbstgehörigkeit, die sich jedem fremden Zugriff entzieht. Davon unterscheidet er gewisse Schichten, hauptsächlich Gestalt, Individualität und Persönlichkeit. Die Person steht in sich und kann deshalb von keinem anderen besessen werden. Darin gründet auch die Würde des Menschen. Damit widerspricht Guardini einer Reduktion der Person auf Bewußtseinsakte. Die Personhaftigkeit hängt nicht daran, inwieweit dieses Lebewesen von seiner geistigen Befähigung Gebrauch macht, auch nicht daran, ob der Mensch sich seines Geistseins reflexiv bewußt ist. Der Mensch ist und bleibt in allen seinen Vollzügen immer dieser eine und einzige. Er kann seine leibseelische Ganzheit nicht wechseln. Dies hat große Bedeutung auch für das Verständnis des Menschen am Anfang und am Ende des Lebens. Seine Personwürde hängt nicht von seinem Bewußtseinsstand ab (vgl. dazu auch Sorge um den Menschen I, 162 - 185).
Zur Person gehört das Ich-Du-Verhältnis. Darum gibt es die Person in der Einzigkeit nicht. Sie vollzieht und aktuiert sich in der Ich-Du-Beziehung, aber sie entsteht nicht aus ihr. Letztlich liegt das Wesen der Person in ihrem Verhältnis zu Gott. „Es wird nämlich gerade jenes geschenkt, auf das hin überhaupt erst von Eigengehörigkeit gesprochen werden kann: das Selbst. Nicht nur ein Besitz, ein Zustand, ein Bestandteil meiner Persönlichkeit, sondern der Beziehungspunkt jeglicher Daseinsaussage, das Faktum der Person selbst ist zuinnerst Gabe." (Welt und Person, 161) Die Person ist dadurch bestimmt, daß sie das Ich eines Du werden möchte.
Gunda Büske (vgl. 189 ff, 207 ff, 148 ff) hat eingehend gezeigt, wie sich dieser Ansatz zur Bestimmung von Personalität zeitlich und sachlich durchhält und bis in viele Nuancen hinein entfaltet wird. Dies ist bisher wohl zu wenig beachtet worden, gerade auch im Blick auf die Eigenständigkeit dieses Persondenkens.
Guardini gibt noch einen wichtigen Hinweis, um Personalität in seinem Sinne nicht mit dem Begriff der neuzeitlichen Persönlichkeit zu verwechseln. Für ihn ist diese Konzeption eng mit einer Bestimmung der menschlichen Autonomie verbunden, die das Personsein des Menschen absolut setzt. Bei Guardini ist dies durch das Geschaffensein des Menschen ausgeschlossen. Die neuzeitliche Persönlichkeitsidee hat jedoch durch ihren Ansatz den Menschen übersteigert und überhöht. Wenn nun in der Neuzeit diese Überhöhung eingesehen wird, so ist das nicht das Ende der Personalität des Menschen. In diesem Sinne entlarvt Guardini die Übersteigerung des menschlichen Selbst. Sie hat ihr Prestige verloren. Der Mensch hat jedoch damit das Personsein nicht verloren. „Es ist nicht auf Entfaltung, sondern auf Definition gerichtet. Nicht auf das Reiche, Außerordentliche, sondern auf etwas Karges und Herbes, das aber in jedem menschlichen Individuum aufrechterhalten und entwickelt werden kann auf jene Einmaligkeit, die nicht aus besonderer Veranlagung und Gunst der Situation, sondern daraus kommt, daß er von Gott angerufen ist; und die zu behaupten und durchzusetzen nicht Eigenwilligkeit oder Privileg, sondern Treue gegen die Grundpflicht des Menschen bedeutet." (Das Ende der Neuzeit, 55)
Hier liegt die wesentliche Mitte von Guardinis Denken. „Worin besteht die entscheidende Tatsache des Menschlichen? Darin, Person zu sein. Angerufen von Gott; von daher fähig, sich selbst zu verantworten und aus innerer Anfangskraft in die Wirklichkeit einzugreifen. Diese Tatsache macht jeden Menschen einzig." (ebd., 56)
Für Guardini ist es kein Zufall, daß die „Unterscheidung des Christlichen" (vgl. die in den Jahren 1923 bis 1963 unter diesem Titel gesammelten Studien in drei Bänden aus den Bereichen der Philosopihe und der Theologie mit der Darstellung einzelner Gestalten, Mainz, 1994/95) so etwas wie die Achse seines Denkens darstellt. Dies ist zweifellos ein entscheidendes Moment in Guardinis Denken. Ich möchte dies kurz in seiner Bedeutung für unser heutiges und künftiges Denken aufzeigen.
Es entspricht der Nähe Guardinis zum Menschen und auch dem phänemenologischen Sehen, daß er fast immer „von unten" beginnt. Es ist ein aufsteigender Weg, der nicht nur empirisch beschreibt, sondern immer mehr sich vertieft und weitere Blicke in diese Tiefe freigibt. Dies gilt auch für religiöse Begriffe. Daß es z.B. „Gnade" gibt, kann von einfachen Beispielen her aufgezeigt werden. So begnadigt ein Gericht einen Angeklagten. Aber es gibt auch andere gnadenhafte Elemente des Daseins, wie z.B. Großmut, Schenken, Retten. Es gibt Begegnung und Fügung, geschenkte Ereignisse in der menschlichen und religiösen Erfahrung. Überall erhebt Guardini im Blick auf Religion und Offenbarung so etwas wie ein weltliches Vorverständnis. Er nimmt dies in allen seinen Veröffentlichungen ernst, wie man nicht zuletzt auch in der Lehre von den Tugenden und in seiner Ethik sehen kann. Aber es gibt in diesem aufsteigenden Weg einen Punkt des Umschlags, ja des Abstiegs. Das bisher Bekannte wird umgekehrt. Nach beiden Seiten hin, aufwärts und abwärts, gibt es hier eine eigentümliche Verstehenshilfe. Der Umschlag selbst erfolgt plötzlich und abrupt: Gott handelt und er ist ganz anders als der Mensch. Der Umschlag ändert die Fortsetzung unserer Erwartungen und Gewohnheiten. Aber der Umschlag entfremdet uns nicht von den natürlichen und weltlichen Dingen. Hier unterscheidet sich Romano Guardini von jeder dialektischen Theologie, die er stets bekämpfte. Der Umschlag läßt das bisher Erfahrene und Bekannte in seiner wahren Tiefe aufleuchten, es wird tiefer vertraut, zeigt sein wirkliches Gesicht.
Dennoch bringt der absteigende Weg mit dem Umschlag auch etwas ganz anderes, nämlich das unfaßliche Geheimnis, daß z.B. in Jesus Christus Gott selbst persönlich in die Menschheit und Geschichte eintritt und Schuld und Schicksal des Menschen auf sich nimmt. Es ist ganz und gar nicht mehr selbstverständlich, daß der einzig Gerechte den ganzen Fluch der Welt auf sich nimmt. Hier wird der Bereich des Außergewöhnlichen und Unableitbaren eröffnet. Guardini hat dies, wie mir scheint, in seinem Buch „Freiheit - Gnade - Schicksal. Drei Kapitel zur Deutung des Daseins" besonders eindrucksvoll und überzeugend dargelegt (München 1948, Mainz 1994). Hier wird jeder von der Welt her zu gewinnender Begriff von Gnade gesprengt. An dieser Stelle gibt es eine grundlegende „Unterscheidung" zwischen dem welthaften Vorentwurf und der göttlichen Erfüllung. Beides gehört auf eine eigentümliche Weise zusammen, ist jedoch zugleich unvergleichlich.
Das Wort von der Analogie legt sich nahe, wird aber von Guardini nicht so maßgeblich gebraucht, wie man es erwarten könnte (vgl. dazu G. Brüske, Anruf der Freiheit, 20, 35, 53, 60, 76, 254 mit Anm. 17; A. Knoll, Glaube und Kultur bei Romano Guardini, 246 ff). Guardini spricht hier gerne von der „Antinomie" und meint dabei ein Nebeneinander von „Ja" und „Nein". Im Grunde bezieht er sich hier jedoch eher auf die Analogie im Sinne E. Przywaras, der die je größere Unähnlichkeit bei gleichzeitiger Ähnlichkeit betont. (vgl. dazu E. - M. Faber, Kirche zwischen Identität und Differenz, Würzburg 1993)
Jedenfalls trifft sich hier Guardini mit tieferen Intentionen der Theologie dieses Jahrhunderts. Man ist hier nahe bei der Theologie der Gnade von H. de Lubac. Gnade ist das Nicht-Selbstverständliche, dennoch das Letzt-Erfüllende; sie ist keine Bedingung des unmittelbaren Menschenwesens, sondern geht aus der reinen Freiheit Gottes hervor. Sie ist die Übererfüllung aller menschlichen Sehnsucht. Ähnliches zeigt Guardini auch am Begriff Person auf, der früher schon erläutert worden ist (vgl. ausführlicher Welt und Person, 110 - 131, 143 ff.). Man könnte dies aber auch für das Verständnis fast aller Grundworte bei Romano Guardini aufzeigen: Offenbarung, Freiheit, Auferstehung, Gericht, Ewigkeit, Schicksal, Nachfolge, Glaube.
Dies hat viele Konsequenzen, die hier nicht alle aufgezählt werden können. Einmal sieht hier Guardini einen radikalen Unterschied zwischen der religiösen Erfahrung und dem Glauben. Der Glaube ist gleichsam ärmer und im Blick auf Religiosität „nackter", aber deshalb auch gerade für unsere heutige Zeit chancenreicher. Deshalb hat das Christentum auch bei einer Depotenzierung religiöser Kräfte und Werte die Zukunft noch vor sich.
An dieser Stelle gibt es auch einen engen Zusammenhang zwischen dem biblischen Scandalum, dem Ärgernis, und dem Glauben. Im Christlichen ist das Ärgernis unvermeidlich. Deshalb muß man auch vorsichtig sein im Umgang mit dem Allerweltswort Liebe. Was das Neue Testament darunter versteht, ist ungleich tiefer. Es hat eine eigentümliche „göttliche Härte" (Freiheit - Gnade - Schicksal, 201). Das Christentum nimmt das Dunkle und Schroffe des Lebens und des Skandalums mit in die Unbegreiflichkeit der Liebe hinein. Diese Theologie des Kreuzes darf man bei Guardini nicht unterschlagen.
Es kann im übrigen aufgezeigt werden, daß Guardini auch an dieser Stelle viel mehr im theologischen Gespräch mit der Tradition und mit der Gegenwart steht, als die Kargheit der Zitate vermuten läßt. Der aufsteigende und absteigende Weg mit dem „Umschlag" hat nicht nur zutiefst etwas mit der biblischen „Umkehr" zu tun, sondern auch mit Bonaventuras Methode, die Guardini von seinen akademischen Erstlingsschriften her kennt, aber auch mit der Diskussion über das Verhältnis von Natur und Gnade sowie mit dem Streit um die Analogie. Ähnliches gilt auch für die Schriftauslegungen: Guardini hat hier sicher mehr gelesen und - gewiß kritisch - aufgenommen, als man denkt und bisher weiß.
Diese Unterscheidung des Christlichen gewährt eine neue Sicht der Welt. Sie befreit von der Verbrämung und Verharmlosung, aber auch von der Verteufelung und der Verachtung. Sie gibt eine neue Gelassenheit. Sie ist nicht zu verwechseln mit einer seichten Weltzuwendung, die rasch alles erträglich und assimilierbar macht.
Der späte Guardini wird wohl erst in der Lage sein, uns darum eine neue, wahrhaft christliche Verantwortung für die Welt aufzuzeigen. Vielleicht ist es nicht zufällig, daß er diese Gedanken uns erst nach seinem Tod schenkte, als sein Freund Johannes Spörl die Mappe mit dem Titel „Inbegriff der Offenbarung", Entwürfe aus den Jahren 1963 - 1966, unter dem Titel „Theologische Briefe an einen Freund" (München 1976) veröffentlichte. Nicht zufällig heißt der Untertitel „Einsichten an der Grenze des Lebens". Es ist eine eigene Weisheit des Alters. Dabei weiß Guardini von der Vorläufigkeit seiner Briefe an seinen priesterlichen Freund Josef Weiger.
Es geht Guardini wieder einmal um die Sorge. Er möchte eine „nicht nur widerwillig zugestandene, sondern aufrichtig gewollte christliche Sorge um die Welt; eine Sorge, die sich nicht nur um Notwendigkeiten und Aufgaben in der Welt, sondern um sie selbst und als solche sorgt. Das aber ist nur möglich, wenn die Welt als von Gott gewollte und Ihm teure Wirklichkeit und Wertfülle, als etwas gesehen wird, das Er dem Menschen anvertraut hat" (ebd., 20). Gott steht nicht „olympisch" über der Welt. Gott ist ganz real an der Welt beteiligt. Es gibt zu viel Mißtrauen und Distanz im Verhältnis der Christen zur Welt. In reiner Freiheit, in einem Akt nicht zu begreifender Liebe ist Gott schließlich in Jesus Mensch geworden. Die Menschwerdung bringt diese Selbstbeteiligung Gottes an der Welt radikal zum Vorschein, dieses persönliche Sich-Hineingeben Gottes in die Geschichte des Geschaffenen. Darum ist Gott in Schöpfung und Menschwerdung nicht nur der erhabene Zuschauer, sondern Er steht selbst darin.
Romano Guardini ist überzeugt, daß aus dieser Kraft der Erlösung heraus eine neue christliche Verantwortung für die Welt entsteht, die er gerne im Anschluß an Gen 2,15 mit den Worten des „Bebauens" und „Bewahrens"zur Sprache bringt. Im Werk des Menschen sollte sich Gottes Schöpfung erfüllen. Gott zieht den Menschen auf neue Weise in sein Vertrauen. Zum Bewahren der Welt schreibt er: „Großes Wort: Der Mensch sollte den Sinn des Gotteswerkes bewahren, hüten, aufrechterhalten... Aufrecht halten, was die Welt in Wahrheit ist." (ebd., 33) Es ist Guardini zu wenig, „seine Pflicht zu tun" in der Welt. Alles kommt darauf an, die Welt in die Verantwortung zu übernehmen.:
„Fast verzweifelte Aufgabe, nachdem in allem, im Menschen, im Menschenleben und im Menschenwerk die Verstörung sitzt.
Hoffen wider die Hoffnung
In jedem Augenblick die Welt bebauen und bewahren.
Nicht bloß sich vor ‘Sünden hüten...’
Nicht bloß Gebote erfüllen...
Alles das richtig, aber nicht lebendig und groß genug gefaßt...
Ethik: machen, daß die Welt richtig werde." (ebd., 34)
Dies ist nicht zufällig fast wie ein Gestammel geschrieben. Hier regt sich einer nach vorne und möchte daß eine ganz neue Weltfrömmigkeit entsteht, freilich ohne jede Anpassung. Je flacher die Welt wird und je mehr sie aller religiösen Erfahrung entleert wird, desto mehr muß der Glaubende sich neu der Schöpfung zuwenden. Dies ist ein neuer Auftrag, der Guardini keine Ruhe läßt. Im Zusammenhang mit einer Überlegung zu Teilhard de Chardin schreibt er: „Diese Welt war wichtig als Werk Gottes, als Raum der christlichen Existenz und ihres Dramas; sie hatte aber im Ganzen den Charakter des Schauplatzes für das Eigentlich-Wichtige - und, nicht zu vergessen, der immerfort drohenden Gefahr für dieses Wichtige. Sie selbst und als solche hatte keine christliche Relevanz. Sie gehörte nicht selbst in den eigentlichen Vorgang hinein. - Auch hatte die ganze Vorstellung von dem, was Christsein heißt, in seiner Beziehung zur Welt etwas eigentümlich Eingeschränktes, fast Kümmerliches. Die Art, wie der Glaubende gläubig war und gläubig lebte, und die Art, wie der moderne Mensch die Welt erlebt, meistert, gestaltet, fielen auseinander... Die Welt und ihr Werden ist wichtig; wichtig für Gott und wichtig für den Menschen als Christen. Die Botschaft des Evangeliums darf in keiner Weise mehr pietistisch-beschränkt, weltabgewandt verstanden werden. Wie das Weltwerden sich vollzieht und ob es die Möglichkeiten verwirklicht, die in ihm liegen, ist selbst in einem noch zu bestimmenden Sinne Sache des Heils. Und es müßte gerade Aufgabe des theologischen Denkens sein, das zu sehen und zu entwickeln." (ebd., 46 f) Teilhard de Chardin ist für diesen neuen Weltbezug der christlichen Botschaft „ein erster, vielleich Epoche bestimmender Ausdruck" (ebd., 47)
Bei diesen Perspektiven konnte man nur Guardini selbst zu Wort kommen lassen. Sonst besteht die Gefahr, daß dieser zarte Gedanke verstellt wird, von allen Seiten her, von rechts und von links. Denn Guardini kann so etwas an den Grenzen des Lebens nur sagen, weil er zugleich aus der Fülle und Unterscheidung des Christlichen herkommt.
Ich breche hier ab. Es wäre verführerisch, noch andere Themen von dem, was bleiben wird, anzugehen. Ich denke dabei besonders an Guardinis Kirchenerfahrung. Aber in den nächsten Tagen und Wochen wird noch für viele gute Experten eine Gelegenheit sein, Altes und Neues aus der Schatzkammer dieses großen Denkers hervorzuholen und wieder zum Leuchten zu bringen.
Dabei soll kein Zweifel bestehen, daß wir nicht einfach nur wiederholen dürfen, was Guardini sagt. Es gibt auch Grenzen, wo wir nicht mehr seine Zeitgenossen sind. Nicht, daß wir klüger wären. Aber er wußte wie kaum ein anderer um die Einmaligkeit der Situation und des Auftrags, in der man jeweils steht (vgl. Theologische Briefe an einen Freund, 34).
Wir empfinden manches auch als ergänzungsbedürftig. Die Beschreibung der „Autonomie" der Neuzeit ist zwar differenzierter, als manche Kritiker glauben machen wollen, aber sie ist vielleicht doch zu sehr von einem insgeheim zu harmonischen Mittelalter-Bild her, das Guardini leitete, bestimmt. Die neuzeitliche Autonomie hat immer auch an sich selbst gelitten und ist nie mit sich fertiggeworden. Die „unbefriedigte Aufklärung", wie Hegel einmal sagt, ist auch in der Postmoderne unserer Tage nicht zu Ende. Heute würde Guardini dieses Leiden des neuzeitlichen Menschen an sich selbst ganz anders für seine tiefsten Intentionen in Dienst stellen können. Und schließlich die Erfahrung der Armut und des Elends in unserer Zeit. Guardini hat sicher in den Schrecken zweier Kriege genügend davon mitbekommen. Wer will hier vom hohen Roß herab urteilen? Ich möchte jedoch nicht selbst, sondern mit Hans Urs von Balthasar (Romano Guardini. Reform aus dem Ursprung, Einsiedeln 1995, Erstauflage München 1970) fragen: „Man wird Guardini vielleicht einen Vorwurf nicht ersparen können, aus der bürgerlichen Welt, deren Unterhöhlung und Einsturz er miterlebte, als Christ nicht entschlossen genug herausgetreten zu sein. Genauer, als Frage formuliert: Hat er je der schreienden materiellen Not der menschlichen Massen scharf ins Antlitz geschaut? Das Entsetzen des jungen Marx vor der Welt, wie sie wirklich ist, verspürt? Es war wohl nicht sein Auftrag und Erbtum. Er sollte dort stehen bleiben, wo, um die Not zu beheben, Mittel ersonnen und Methoden durchgesetzt werden, die, konsequent ausgeführt, zu geistiger Knechtschaft, zu Chaos und Dämonie führen. Die Mächte, gegen die er sich stemmt, heißen entfesselte Technik, Totalismus, Atheismus (als logische Folgen der ersten Emanzipation und der Absolutsetzungen der ‘Neuzeit’)." (ebd., 110)
Auch wenn dies richtig wäre, hätten wir genügend Anlaß zum Dank. Ich möchte jedoch noch auf ein Wesenselement kommen, das mir wichtig scheint. Romano Guardini war ein äußerst sensibler, ja verletzlicher Mensch. Sonst hätte er nicht die große Sensibilität gehabt, die für ein solches Denken und für ein solches Werk notwendig sind. Man hat dies im Anschluß an ein frühes Wort von ihm aus dem Jahre 1920 „angefochtene Zuversicht" genannt (vgl. Neue Jugend und Katholischer Geist, Mainz 1920; dies ist zum Titel geworden für das Romano Guardini-Lesebuch von I. Klimmer, „Angefochtene Zuversicht", Mainz 1985; vgl. aber auch H. - B. Gerl, Anfechtung und Treue. Romano Guardinis geistige Gestalt in ihrer heutigen Bedeutung, Donauwörth 1989; dies., Romano Guardini. 1885 - 1968. Leben und Werk, Mainz 1985). Beides gehört für Guardini und wohl auch für unsere Zeit eng zusammen: die Anfechtung mit allen Versuchungen, aber noch größer sind die Zuversicht und die Treue aus der Erfahrung des je größeren Gottes.
Dies ist wohl das wichtigste Erbe für uns heute. Es ist nicht zuletzt für uns müde und langsam heranreifende Europäer notwendig, zu denen uns Romano Guardini erziehen und heranbilden wollte, hier in Italien und in Deutschland: „Europa hat die Idee der Freiheit - des Menschen wie seines Werkes - hervorgebracht; ihm wird es vor allem obliegen, in Sorge um die Menschlichkeit des Menschen, zur Freiheit auch gegenüber seinem eigenen Werk durchzudringen. - Ja, Europa wird fähig sein, auch die Frage zu stellen, ob es dem Menschen überhaupt erlaubt sei, über den anderen Menschen Macht zu üben... Auch Europa kann seine Stunde versäumen. Das würde bedeuten, daß eine Einung nicht als Schritt in freieres Leben, sondern als ein Absinken in gemeinsame Knechtschaft verwirklicht würde." (Europa - Wirklichkeit und Aufgabe. Rede Romano Guardinis nach der Verleihung des „Praemium Erasmianum" zu Brüssel am 28. April 1962, München 1988, 15, 18)
Copyright: Bischof Karl Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz