Rückbesinnung auf die Grundwerte – Anzeige einer Krise?

Zur Begründung der Fundamente, aus denen wir leben

Datum:
Montag, 30. Juni 2003

Zur Begründung der Fundamente, aus denen wir leben

In der Reihe der Domvorträge am 30. Juni 2003 im Mainzer Dom

Es ist öfter so im Leben: je besser eine Sache im Alltag gelingt, um so weniger fragen wir nach ihr. Sie verbirgt sich gleichsam in dem, was sie leistet. Freilich, die Wissenschaften müssen gerade solchen selbstverständlichen Erscheinungen nachgehen und in gewisser Weise hinterfragen. Es ist gerade Aufgabe der Wissenschaft, nach diesen Gründen zu suchen und Rechenschaft zu verlangen, warum etwas so ist und nicht anders. Auf ihre Weise ist diese Aufgabe aller Wissenschaften, im Bereich des menschlichen Zusammenlebens besonders der Philosophie und der Sozialwissenschaften sowie der Theologie und der Religionswissenschaft.

Zu diesen Strukturen unseres menschlichen Zusammenlebens gehört die Sinnfrage. Oft stoßen wir auf sie erst voll, wenn wir einen Orientierungsverlust bemerken und Sinndefizite erfahren. Dies gilt nicht nur für den einzelnen Menschen, besonders wenn er in Lebenskrisen kommt, sondern dieses Phänomen zeigt sich auch im Leben der Gesellschaft. Hier ist es vor allem die Frage, was eine Gesellschaft zusammenhält. Dabei lässt sich dieses Problem nur beantworten, wenn man nicht nur zufällige und beliebige Faktoren des Zusammenlebens aufzählt, sondern wenn man auf die tragenden Bindungen der Menschen untereinander schaut. Der Soziologe Rolf Dahrendorf hat dies „Ligaturen" genannt. Diese Frage wird um so schwieriger, je mehr Sinnangebote und Weltanschauungen zur Beantwortung existieren, die nicht selten miteinander in Konkurrenz stehen. In den letzten Jahrzehnten hat man in diesem Zusammenhang auch von „Grundwerten" gesprochen.

Was sind Werte? Jeder Mensch strebt nach Werten. Der eine ist wichtiger als der andere Wert. Oberste Werte sind für die meisten Menschen Glücklichsein, Gesundheit, die Familie, ein gutes Einkommen und entsprechender Lebensstandard. Elementare Fragen stecken hinter den Werten als Aspekten zur Ordnung des Lebens: „Was ist richtig, was darf man, was darf man nicht tun? Wofür soll man sich Mühe geben? Wozu soll man Kinder erziehen? Was ist der Sinn des Lebens? Und gibt es etwas, wofür es sich lohnt, sein Leben einzusetzen?" Viele Orientierungen sind uns als Antwort auf solche Fragen vertraut: Erfüllung in der Arbeit, Zufriedenheit durch Dienst für andere, Freude an vollbrachten Leistungen, Streben nach Selbstständigkeit. Werte dieser Art beziehen sich auf das gesellschaftlich-politische, das kulturelle und das sittliche Leben des einzelnen Menschen und der Gemeinschaft. Sind dies auch Werte, die das Ganze einer Gesellschaft zusammenhalten?

Die Antwort geht dahin, dass die Gesellschaften durch gemeinsame Wertüberzeugungen und Normen zusammengehalten werden. Damit ist eine verpflichtende Rechts- und Sozialordnung gemeint, die sich auf Normen wie Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit bezieht, die bei aller Bedingtheit jedoch letztlich der gesellschaftlichen Verfügbarkeit entzogen sind. Die Moderne gibt die Antwort auf die Frage, was die Gesellschaft zusammenhält, jedoch nicht primär mit dem Hinweis auf die Verwurzelung dieser Werte in der Transzendenz, sondern in der Interessenlage des Einzelnen und der menschlichen Gesellschaft. Besonders die Sozialwissenschaften fragen nach der Integration dieser vielfältigen Interessen in einer Gesellschaft. Sie verweisen uns besonders auf die wechselseitige Abhängigkeit der verschiedenen Funktionssysteme, wie Wirtschaft, Politik, Religion und Familie. Der gesellschaftlichen Arbeitsteilung entspricht die funktionale Abhängigkeit. Dies ist ein wichtiger Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine solche Integrationsleistung schafft auch das positive Recht, wie es uns in Abmachungen und Verträgen auf vielen Ebenen begegnet. Unsere sozialen Verhältnisse erhalten dadurch Festigkeit und Beweglichkeit zugleich. Denn dieses Recht wird nicht mehr als ewige Ordnung, sondern als ein mit den Umständen wandelbares Beziehungsgefüge verstanden. Ein weiteres wichtiges Element besteht in der Verknüpfung vieler Informationen und Meinungen in einer immer umfassender werdender Kommunikation. Die Kommunikationsnetze wachsen immer stärker zusammen. Auch dies stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Dabei setzt jedes menschliche Zusammenleben, das nicht auf Zwang begründet ist, die Anerkennung des Mitmenschen voraus. Dies zeigt sich ganz besonders in der Forderung nach Dialogbereitschaft und Dialog. Trotz anderer Überzeugungen und trotz anderer Interessen gibt es eine wechselseitige Anerkennung und darum auch eine grundlegende Solidarität der Menschen untereinander. Fragt man weiter nach einer tragfähigen Basis für diese Anerkennung und wechselseitige Achtung, so stößt man irgendwann auf die Menschenwürde.

 

II.

Man kann hier innehalten und sich mit diesen Antworten begnügen. Die unvermeidliche Frage nach einem letzten Grund dieser Menschenwürde treibt uns jedoch weiter. Wo ist das Wurzelreich für so etwas wie „Grundwerte"? Kann man sich mit den innerweltlichen, kulturellen Überzeugungen begnügen? Gibt es überhaupt eine Letztbegründung, die dem Menschen bei weltanschaulicher und religiöser Freiheit wirklich gemeinsam sein kann?

Unter Voraussetzung der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des modernen Staates, der unsere gesellschaftliche Lebensweise seit gut 200 Jahren bestimmt, wird unsere Frage dringlicher und schwieriger. Eine stärkere Organisationskraft in Richtung größerer Einheit allein reicht nicht. Die eingangs gestellte Frage radikalisiert sich, was denn die Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Denn die konkrete Religionsausübung wird der Wahl des Einzelnen und der Gemeinschaften, die sich frei zusammenschließen können, anheim gestellt. Aus dieser Neutralität des Staates darf man jedoch keine falschen oder zumindest voreiligen Schlüsse ziehen. Wenn der Staat keine näher bestimmbare positive Beziehung zu dem von ihm freigegebenen Glaubens- und Gewissensbereich hat, so heißt dies nicht, dass die Verfassung und ihre Grundlagen wertneutral seien. Die Verfassung beschränkt sich nicht auf bloße Verfahrensregeln, wie man leicht schon an den so genannten Grundrechten des Menschen sehen kann, wie z.B. Unversehrtheit des Lebens und Freiheit der Meinungsäußerung.

Es wird schon viel schwieriger, wenn man versucht, die inhaltlichen Konturen solcher gemeinsamer Grundlagen näher zu umschreiben, die einerseits nicht identisch sein dürfen mit den Aussagen einzelner Weltanschauungen und Religionen, andererseits doch genügend Motivationskraft in sich tragen müssen, um ein Staatswesen auch von innen her zusammenzuhalten. Wenn der Satz wahr ist, den Ernst-Wolfgang Böckenförde vor Jahren formuliert hat, nämlich: „Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann", dann ist die Frage unvermeidlich, wie die vielen einzelnen Menschen, die sich jeweils ihre eigene Lebensorientierung und ihr religiöses Bekenntnis wählen, zu einer - wenigstens minimalen - Gemeinsamkeit kommen, die für den Staat als einheitsstiftende Kraft wirkt.

Ist die Gewährleistung der Freiheit des Einzelnen auf die Dauer für den Staat möglich, ohne dass es ein einigendes Band gibt? Dafür gab es verschiedene Antworten. Im 19. Jahrhundert hat man versucht, dieses Problem einer inneren Bindungskraft, die für eine gewisse Homogenität sorgt, mit der Idee der Nation zu lösen, verdeckte es dadurch aber auch für einige Zeit. Nachdem Nationalstaat und Nationalitätsbewusstsein in vielen Staaten ihre Bindungskraft eingebüßt hatten, mussten neue Fundamente gesucht werden. In der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, dem Grundgesetz, sind mit Absicht ein Katalog der Grundrechte und an ihrer Spitze die Menschenwürde an den Anfang gestellt. „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen", lautet ein berühmter Satz bei der Vorbereitung des Grundgesetzes vor 50 Jahren. So bestimmen heute in der Tat weithin die Menschenrechte den inhaltlichen Zusammenhalt und das tragfähige Fundament der Verfassung. Im Grunde ist dies eine Revolution in der Geschichte der Verfassung: Am Anfang stehen nicht die Staatsziele, sondern das Menschenbild.

Freilich gibt es hier auch von Anfang an Bedenken. Man wendet ein, dass konsequenterweise bei einem solchen Ansatz zwar eine Vielzahl von Angeboten im Hinblick auf Religion, Bildung und Lebensführung ermöglicht sei, dass der Mensch jedoch von der öffentlichen Lebensordnung her keine Vorgabe an Verbindlichkeit und Orientierung mehr erhalte. Alle Möglichkeiten des Lebensentwurfes, der Weltanschauung und der Religion erschienen nur noch in Form von konkurrierenden Angeboten, unter denen man frei auswählen könne.

Dies gilt dann auch für den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens: Nur für den, der diesen Glauben schon angenommen hat, wird er auch verbindlich. Man sieht hier, dass das Wort von der „Freigabe" von Weltanschauung und Religion bei aller formalen Richtigkeit eine aufschlussreiche dialektische Zweideutigkeit erhält. „Freigabe", die mit dem Schutz der Glaubens- und Religionsfreiheit sowie des Gewissens des Einzelnen einhergeht, bedeutet auf der einen Seite eine elementare Gewährleistung menschlicher Freiheit. Jeder kann nun auf seine Facon selig werden. Sie schützt im Übrigen auch die Freiheit der so genannten Religionsgesellschaften und darin der Kirchen innerhalb eines Gemeinwesens. Auf der anderen Seite bringt diese Freigabe auch eine Verbannung aus der öffentlichen Bedeutungssphäre mit sich, denn im Grunde ist der Weg von hier aus nicht mehr weit bis zur Erklärung, Religion sei reine „Privatsache". Die solchermaßen freigegebene Religion kommt in Gefahr, in ihrer öffentlichen Relevanz schwächer zu werden oder gar zu zerfallen, sich auf die verbleibenden Nischen der Gesellschaft zurückzuziehen oder sich selbst ziemlich individualistisch zu gebärden. Die Folge kann auch eine Form offener oder heimlicher Distanzierung von den Aufgaben des Gemeinwesens sein, sodass mindestens der Anschein von Gleichgültigkeit entsteht. Für den Staat und die Gesellschaft kann dies selbst wiederum schädlich sein. Wenn diese selbst keinen Gesprächspartner unter den freien Gruppen in der Öffentlichkeit haben, der immer wieder auf bleibende Grundsätze und Grundhaltungen aufmerksam macht, können sie sich noch mehr in einem nicht selten kurzsichtigen pragmatischen Zweckdenken verfangen oder sogar für säkulare Heilslehren anfällig werden.

Die Kirchen müssen darum ihren Ort, der durch eine solche vieldeutige „Freigabe" entstanden ist, in ihrer positiven Bedeutung nützen. Sie haben damit nämlich die Freiheit und die Unabhängigkeit zum öffentlichen gemeinschaftlichen Bekenntnis des Glaubens, die Möglichkeit des Zeugnisses inmitten der säkularen Welt und die Freiheit des Andersseins gegenüber dem Druck gesellschaftlicher Konventionen. Und damit protestieren sie auch - schon durch ihre Existenz und ihre Stimme - gegen das Verschweigen der öffentlichen Bedeutung von Glauben und Religion.

 

III.

Gewöhnlich wird die Frage nach der Struktur der modernen Gesellschaft und die damit zusammenhängende Schwierigkeit gemeinsamer Maßstäbe menschlichen Zusammenlebens mit dem Stichwort „Pluralismus" gekennzeichnet. Oft wird jedoch die wirkliche Problematik des Pluralismus nicht ausreichend erläutert. Pluralismus ist nicht bloß Vielfarbigkeit, Vielstimmigkeit und reiche Ausformung, sondern bedeutet ein gleichberechtigtes Neben- und so auch mögliches Gegeneinander verschiedener Lebens- und Weltanschauungen. Wir sprechen dabei z.B. von einem religiösen Pluralismus und meinen die Vielfalt von Bekenntnissen und Religionen, von einem Wertepluralismus mit der Verschiedenheit von Wertsystemen, von einem sozialen oder auch politischen Pluralismus, der die Vielfalt und Spannung gesellschaftlicher Gruppen und politisch einwirkender Kräfte zum Ausdruck bringt. Der Pluralismus besonders der Weltanschauungen, Bekenntnisse und Werte bekommt seine Zuspitzung dadurch, dass ihm oft weitgehend jede Einheit als übergeordnetes Prinzip fehlt. An diesem Punkt setzt auch die Kritik an.

Dem Wertepluralismus werden seine schier unbegrenzte Offenheit und damit auch Unsicherheit angelastet. Weil keine gemeinsamen Grundwerte herausgestellt und für verbindlich erklärt werden, sei dieser Pluralismus schuld an den Sinn- und Orientierungskrisen. Eine mehr konservative Spielart dieser Kritik hebt dabei die Schwächung der Führungs- und Entscheidungskraft des Staates hervor – die Rede von der „Unregierbarkeit" liegt nahe –, während eine mehr links orientierte Kritik beklagt, dass die an sich gute Grundidee einer Gleichberechtigung aller Gruppen mehr Postulat als soziale Realität sei; in Wirklichkeit sei diese Gleichberechtigung gerade für die Unterprivilegierten nicht realisierbar.

Spätestens hier wird erkennbar, dass das Stichwort „Pluralismus" zwar ein Strukturelement der freiheitlich-rechtstaatlichen Demokratie umschreibt, aber zur Erfassung des Ganzen allein unzureichend ist. Der Begriff des Pluralismus stellt die Vielfalt und den Wettbewerb, die Verschiedenheit und die reiche Auswahlmöglichkeit heraus, leistet aber von sich aus nicht die Vermittlung hin auch zu Gemeinsamkeit und Einheit, die komplementär dazugehören. Vielfach ist auch das Bewusstsein für die Aufgabe der Integration, die zu jeder Politik gehört, geschwunden. Gerade die Verfassung dient bei aller Gewährleistung pluraler Freiheiten auch der Integration in Konsens und Kompromiss.

Solange diese Aufgabe der Integration noch deutlich vor Augen ist, bleibt die Dialektik von Pluralität und Einheit erhalten. Aber dies ist nicht selbstverständlich. Pluralismus verlangt nämlich von sich aus nicht bloß die Wahrnehmung eines gleichberechtigten Nebeneinanders verschiedener Interessen, sondern fordert auch über alle empirische Feststellung hinaus normativ, dass die Vielheit anerkannt und gutgeheißen wird. Der Begriff Pluralismus kommt so immer stärker und ganz undialektisch in einen Gegensatz zu Einheit, Kooperation und Suche nach einem Konsens.

Diese Struktur ist in der Entwicklung der modernen Gesellschaft noch manifester geworden. Es geht nämlich nicht nur um einen Pluralismus, der sich der Aufgabe, ja der Not der - vielleicht sogar sehr schmerzlichen - Vermittlung und Integration bewusst bleibt, sondern um einen Pluralismus, dem die Ergänzungsbedürftigkeit durch die Vermittlung zur Einheit gar nicht mehr bewusst ist und der so in der Gefahr steht, zur Beliebigkeit zu werden. Man muss dabei nicht gleich an eine gewiss nahe liegende bequeme Beliebigkeit denken, die allen Ansprüchen unterschiedslos Gehör und Geltung verschafft. In der gegenwärtigen Diskussion um die „Postmoderne" steht der Pluralismus-Begriff hoch im Kurs, weil er die Fragmentierung und den Szenenwechsel des modernen Lebens in der Kunst, in der Wirtschaft, im Privatleben und auch im Denken auf einen Nenner bringt. Zunächst soll die Erfahrung radikaler Pluralität in Bezug auf Wissensformen, Lebensentwürfe und Handlungsmuster festgehalten werden. Der wahre Postmodernismus zelebriert dabei nicht die unverbindliche Beliebigkeit, sondern sucht selbst nach neuen Verbindlichkeiten, die freilich nicht abstrakt universal sein können, sondern eine Vielfalt präziser Verbindlichkeiten darstellen, die lebbar, sehr real und irgendwie zwischen Singularität und Universalität angesiedelt sind.

Es ist jetzt noch offenkundiger geworden, wie schwierig für viele zeitgenössische Mentalitäten die Suche nach letzten gemeinsamen Maßstäben geworden ist. Nur allzu leicht gewinnen auch hier Ablehnung und Aversion gegenüber der Idee von Einheit - trotz gegenteiliger Beteuerung - die Oberhand, zumal wenn mit jeder Vision einer normativen Einheit gedanklich und affektiv weitgehend Repression und Gewalt verbunden werden. Aus ähnlichen Gründen möchten viele von vornherein auf jede Letztbegründung von Werten verzichten.

 

IV.

Bei aller Anerkennung des faktisch vorhandenen Wertepluralismus in den modernen Gesellschaften, der auch und gerade in den Verfassungen Rücksicht erfordert, ist die Frage nach gemeinsamen Maßstäben des menschlichen Zusammenlebens jedoch unverzichtbar. Aber es ist schwerer geworden, die Berechtigung dieser Fragestellung zu verteidigen. Es gibt aber auch zusätzliche Argumente dafür, dass die großen sozialen und globalen ökologischen Herausforderungen nur in menschheitlich-universalen ethischen Kategorien bewältigt werden können und nicht innerhalb von partikularen Sinnprovinzen.

In der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands haben wir bis zu einem gewissen Grad diesen Streit schon einmal ausgetragen. In den Jahren 1976/77 wurde die so genannte Grundwerte-Debatte geführt. Es ging dabei um jene Normen, die das sittliche Fundament aller individuellen und sozialen Maßstäbe des menschlichen Verhaltens und des gelungenen Zusammenlebens darstellen. Es hat wenig Sinn, von philosophischer oder juristischer Seite aus zu erklären, der Begriff „Grundwerte" sei zu unbestimmt und wolkig. Fachwissenschaftlich gesehen mag dies sogar zutreffen, aber der Begriff ist ja auch mehr als eine Art von Problemanzeige dafür gedacht, wo denn jene Fundamentalüberzeugungen zu finden seien, die auf Dauer die Normen des menschlichen Zusammenlebens bilden. Wenn die Homogenität einer Gesellschaft sich auflöst, der innere Pluralismus sich immer mehr steigert und die Grundwerte als reine „Privatsache" erscheinen, wird es evident, dass der Konsens über die Grundnormen des menschlichen Lebens abbröckelt. Es erhebt sich das Problem, wie der Staat und die Gesellschaft z.B. eine Sittlichkeit aufbauen, bewahren und fördern können, wenn sie sich von den Fragen des konkret gelebten Ethos und der Religion immer mehr zurückziehen.

Man darf diese Frage nicht zu gering einstufen. Der „Preis" der Freiheit und des Pluralismus ist hoch. Er verlangt auch die Hinnahme einer wesenhaften Schwäche, einer konstitutiven Verletzlichkeit und Instabilität der modernen Gesellschaften. Die darin lebenden Menschen werden zunächst aus ihren geschichtlichen und kulturellen Beziehungen herausgelöst. Die für das eigene Dasein des Menschen entscheidenden Ordnungen mit ihren Wirkungen in der konkreten Lebenswelt, also Herkunft und Familie, Kultur und Religion, gehen nicht in die Gesellschaft ein. „Gesellschaft" ist so auf weite Strecken etwas Abstraktes, Asphalt und Boulevard. Gerade der künstliche Boden dieser Gesellschaft, der ja nicht die „feste Erde" gewachsener Lebensüberzeugungen darstellt, ist in besonderem Maße instabil, so „wie ein Funke auf einen Pulverhaufen geworfen eine ganz andere Gefährlichkeit hat, als auf fester Erde, wo er spurlos vergeht". Diese Worte Hegels kennzeichnen die wesenhafte Labilität moderner Gesellschaften.

Auch wenn die öffentliche Meinung in der Annahme verbindlicher Maßstäbe des Zusammenlebens der Menschen schwankt und unsicher ist, muss der Staat für die Anerkennung der „Grundwerte", wie sie vor allem in der Verfassung dokumentiert sind, eintreten. Der Staat ist nicht nur ein Notar der faktischen öffentlichen Meinung, so sehr der Meinungsbildungsprozess auch ins Gewicht fallen mag. Er muss sich für die Anerkennung besonders gefährdeter Grundwerte, zum Beispiel Leben als höchstes Rechtsgut, einsetzen und darf die sittlichen Grundüberzeugungen nicht schlechterdings dem Einzelnen überlassen, so wenig er über das konkrete Ethos der Bürger befinden kann. Der Staat muss einen Willen zur Förderung und zum Schutz, zur Pflege und zur Stützung der Grundwerte bezeugen. Bestimmte Grundwertentscheidungen sind dem Wechsel der Tageswertungen entzogen. In einer Zeit der Krise der Maßstäbe werden die Sorge für die ethische Kultur der Politik und die Pflege der Grundwerte um so notwendiger. Nicht zuletzt darum ist auch die Rolle des Bundesverfassungsgerichts in unserem Land wichtig, aber es ist nicht der einzige Hüter der Werte.

Die Pflege des ethischen Konsenses in der Gesellschaft ist nicht die ausschließliche, ja auch nicht die vorrangige Aufgabe des Staates. Er teilt sie mit allen Kräften der freien Gesellschaft, wie zum Beispiel Medien, Verbänden, Parteien, Wirtschaft, Gewerkschaften und Kirchen. Die Kirchen haben dabei keine Monopol-Verpflichtung für die Sorge um die Grundwerte. Sie dürfen sich auch nicht in die Rolle des einzigen Garanten der Moralität in der säkularisierten Gesellschaft drängen lassen. Der Auftrag und die Möglichkeit der Kirchen, geistige und moralische Orientierung zu leisten, darf von den anderen gesellschaftlichen Gruppen und vom Staat nicht dazu benutzt werden, sich selbst der Förderung der Grundwerte zu entziehen und die Kirchen zu ethischen Stabilisatoren der Gesellschaft oder gar zu Handlangern des Staates zu degradieren. Sie haben ihren eigenen Auftrag. Die Kirchen dürfen freilich auch nicht gettohaft in ihr eigenes Inneres flüchten, gleichsam in die Nestwärme der Gemeinde. Sie dürfen die säkulare Welt nicht einfach fremden Mächten überlassen. Sie müssen vielmehr eine größere „innere" Nähe gerade auch zur sensiblen und verletzlichen Eigenstruktur des modernen Staates gewinnen. Sie müssen die bleibende Sorge um das „Leben" und „Funktionieren" der Grundwerte mittragen. Wer im Herzen wirklich ja sagt zur Demokratie und zu einer freiheitlich-rechtstaatlichen Struktur, darf gerade hier keine vornehme oder stille „Distanzierung" walten lassen, sondern muss aufmerksam die Konsensbildungen und die Auseinandersetzungen in Staat und Gesellschaft beobachten und verfolgen, mitzugestalten und zu bestimmen suchen.

Daraus ergibt sich keineswegs eine zu große Nähe der Kirchen zu Staat und Gesellschaft. Denn die Kirchen sind gerade auch so kritische Begleiter und Wächter, damit die sittlichen Maßstäbe und die Grundwerte des menschlichen Zusammenlebens nicht unter die Räder kommen. In diesem Sinne wird die Kirche immer wieder die Programme der Parteien und ihr konkretes Verhalten, aber auch die Regierungserklärungen und die Gesetzgebungsvorhaben unter die Lupe nehmen. Maßstäbe dafür sind in besonderer Weise und auch an erster Stelle die Menschenrechte. Ihre Anwendung wird vor allem auch durch die Katholische Soziallehre vermittelt, die auf ihre Weise das wichtigste Vehikel ist, um grundlegende Aussagen über den Menschen und die Strukturen des menschlichen Zusammenlebens von den Kirchen her in das öffentliche Gespräch zu bringen. In der gegenwärtigen Situation ist diese Funktion der katholischen Soziallehre - wie sie Papst Johannes Paul II. auch in der Enzyklika „Centesimus annus" vom 01.05.1991 betont - gar nicht zu überschätzen. Dies gilt nicht zuletzt auch für die Begegnung und das Gespräch mit den Gesellschaften Mittel- und Ost-Europas, die vom Kommunismus befreit sind und von denen viele noch nach neuen Wegen ihres staatlichen und gesellschaftlichen Lebens suchen.

 

V.

Inmitten der gesellschaftlichen Segmentierung der Lebensbereiche, der sozialen Differenzierung und einer hochgradigen Pluralisierung der Werthaltungen muss der christliche Glaube sich zuerst selbst treu bleiben. Wenn er sich an die vielen Moden und Wellen besonders begünstigter Trends anpasst, verliert er sich selbst. Die Chance, dass der Einzelne für sich allein das christliche Ethos in einer überzeugenden Form leben kann, lässt sich nur verwirklichen, wenn die Widerstandskraft und die Fähigkeit zur Selbstständigkeit gut entwickelt sind. Vieles wird also auf die Stärkung personaler Entscheidungsfähigkeit ankommen.

Dennoch kann nicht der Einzelkämpfer das Ideal sein. In einer solchen Situation kommt es noch viel mehr als bisher auf das gemeinsam getragene und gelebte Ethos an. In einer wachsend säkularen Welt und angesichts einer hohen Pluralisierung kann nur die innere Festigkeit einer Gemeinschaft auf die Dauer das Überleben von Glaubensüberzeugungen und Lebensanschauungen gewährleisten, besonders wenn diese nichtkonformistischen Charakter haben. Die Sozialform des christlichen Glaubens - Gruppe, Gemeinschaft, Gemeinde, Verbände, Bistum, Zusammenschlüsse auf der überdiözesanen Ebene je nach Sprache und Kultur, Weltkirche - wird gewiss eine noch größere Bedeutung erhalten. Sie darf jedoch nicht bloß an der strukturellen Organisationsdichte der Institutionen gemessen werden, sondern erhält ihre Qualität durch die Lebendigkeit vielfältiger konkreter Beziehungen, die personal orientiert sind. In dem, was in einem gesunden Sinne „Basisgemeinschaften" genannt werden kann, und in den neueren geistlichen Gemeinschaften, aber auch in den Orden und in wirklich erneuerten Gemeindeformen stehen dafür Hilfen und Anregungen zur Verfügung. In diesen Rahmen lassen sich auch ökumenische Bestrebungen einordnen, die gerade in diesem Zusammenhang eine hohe Bedeutung behalten. In diesem Sinne muss auch eine vertiefte Gestalt „neuer Kirchlichkeit" gefunden werden, die von einem intensiven Zusammenstehen aller lebt.

Einheit der Kirche ist immer Einheit in der Vielfalt und in der Fülle der Gaben. Die Kirche kann der zunehmenden Pluralisierung der Lebensstile nur dann die rechte Antwort entgegenhalten, wenn sie in sich selbst einen großen Reichtum geistlicher Lebensformen und Lebensstile schafft und zulässt, wie es sich heute in der Eigenart vieler Gemeinden mit ihrem je eigenen Gesicht und auch angesichts vieler geistlicher Gemeinschaften bereits abzeichnet. Das Jesuswort im Johannes-Evangelium „Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen" hat auch hier seinen guten Sinn. Allerdings wird dadurch die Sorge um die wirkliche Einheit der Kirche nicht nebensächlicher, sondern viel radikaler und auch schwieriger.

Die Kirche ist von Hause aus die Stätte eines aufrichtigen Dialogs. Dies gilt für die Familie als „Kirche im kleinen", für Gruppen, Verbände, geistliche Gemeinschaften, Gemeinden und alle Ebenen. Dies scheint mir gerade bei der Findung eines neuen Konsenses im Blick auf Wertentscheidungen lebensnotwendig zu sein, wenn diese Zellen kirchlicher Vergemeinschaftung wirklich nicht bloß überleben, sondern ihrem Auftrag gerecht werden wollen. Hier muss auch der Ort sein, wo verschiedene Wertorientierungen einander begegnen, die einzelnen Generationen mit ihren Optionen miteinander im Gespräch bleiben und Menschen unterschiedlicher Wertentscheidung, z.B. im Blick auf Parteien, letzte Gemeinsamkeiten nicht preisgeben. Je abstrakter unsere Gesellschaft wird und solche Auseinandersetzungen kaum mehr leisten kann, um so mehr müssen die lebendigen Substrukturen der Gesellschaft von unten her, regenerativ abgerissene Fäden eines solchen Dialogs knüpfen. Dieses Feld reicht von der Familie bis zu den Akademien. Das Wertbewusstsein ist ja immer wieder im Wandel begriffen. Stets gibt es Akzentverschiebungen und Neuorientierungen, die nicht zuletzt dem ausgleichenden Gespräch zwischen den verschiedenen Generationen und den vielen anderen Gruppierungen des Lebens entstammen und entsprechen. Die Kirche als ein geschichtlich erfahrener Lebensraum, in dem sich immer wieder Altes und Bewährtes mit Neuem und Fremdem verband, hat hier zweifellos eine besondere Chance.

Innerhalb einer solchen Gesamtsicht hat die Kirche gewiss auch die Funktion eines Korrektivs. Wenn in einer Gesellschaft Wertorientierungen radikal in einseitige Richtungen umschlagen, muss sie - auch in Form des Protests und des Streits - um die Integration mit Werten kämpfen, die viele für überholt betrachten. Wir sind heute in vielen Lebensfragen des Einzelnen und der menschlichen Gemeinschaft vor einer solchen Aufgabe. Man denke nur an den Schutz des Lebens, vor allem des ungeborenen Kindes, an die Ordnung der Sexualität innerhalb und außerhalb der Ehe, an Werte wie eheliche Treue, Mut zum Kind, Stärkung von Solidarität und Subsidiarität. Hier geht es nicht um das Verharren auf entgegengesetzten Problemlösungen, sondern um die Verteidigung und die Propagierung echter Werte, die auch künftig dem Menschen das Leben nicht erschweren, sondern erleichtern helfen. Wenn Erklärungen und Stellungnahmen weitgehend sich wie bloße Kritik dessen, was ist, ausnehmen oder so erscheinen mögen, darf die positiv integrierende Funktion solcher Zwischenrufe nicht verkannt werden. Dies ist jeweils ein langer Weg, zumal oft zuerst das Bewusstsein geweckt werden muss für die Würde und die Bedeutung vergessener oder verdrängter Werte.

 

VI.

Die Kirchen pflegen Grundwerte auf verschiedene Weise. Dabei spielt der unbestimmte und vielfältige Begriff „Grundwerte" zunächst keine Rolle. Es kommt auf die Sache an. Die Kirchen haben ihren eigenen Auftrag. Die Kirchen sind nicht an erster Stelle Lieferanten gesellschaftlich notwendiger Grundwerte. Das tägliche Gebet um den Frieden in allen Eucharistiefeiern rund um die Welt ist mehr als alle abstrakten Grundwerte, aber sie werden natürlich durch so etwas konkret realisiert. Darum haben die Kirchen auch ihre eigenen Erfahrungen und ihre eigene Sprache, die sie nicht verleugnen dürfen.

Der Dekalog (Zehn Gebote), aus langer menschlicher Erfahrung und wachsender Glaubenseinsicht geboren, ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie aus der Mitte der Bibel heraus gerade die Religionen, die sich auf sie stützen, auf ihre Weise wirksame „Grundwerte" verkündigt haben. Im Übrigen kann man unter Zuhilfenahme der heutigen exegetischen Erkenntnisse der Dekalog-Forschung in den Zehn Geboten tatsächlich überzeugend die fundamentalen ethischen Maßstäbe des menschlichen Zusammenlebens neu finden. Gerade auch ökumenische Anstrengung lohnt sich hier, wie ein gemeinsamer Text, nämlich „Grundwerte und Gottes Gebot" (1979), der in unserem Land erarbeitet worden ist, zeigen kann. In diesem Licht kann man auch die schöpferische Wiederbelebung der Katechismus-Tradition sehen, die sich z.B. einer Neu-Interpretation des Dekalogs bedient und dabei auch ohne Zwang gegenwärtige Fragestellungen in sich aufnehmen kann.

Die Botschaft des Evangeliums ist notwendigerweise tiefer und reicher als die immer relativ abstrakt bleibenden „Grundwerte" einer Verfassung. Wenn der Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, dann nährt sich der Fundamentalkonsens einer Gesellschaft letztlich von der Konvergenz und dem Gespräch vieler konkreter ethischer Lebensentwürfe. Diese müssen durch ein glaubwürdiges, argumentatives und beredtes Zeugnis in das öffentliche Gespräch und die gesellschaftliche Konsensbildung eingebracht werden.

Darum leisten die Kirchen ihren Dienst für die so genannten „Grundwerte" des freiheitlich-demokratischen Staates am besten, wenn sie ihre spezifische Eigenart und ihre ureigene Sendung mit Entschiedenheit ausüben. Eine Beschränkung auf die Ebene der „Grundwerte" allein käme nicht zum Kern des christlichen Glaubens als Botschaft von der Erlösung und vom Heil. Überall jedoch, wo der Glaube an Gott und die Liebe zum Nächsten verkündigt werden, sittliche Weisung für den Alltag des Lebens geschieht und die Gemeinschaft der Kirche gelebt wird, werden - mindestens indirekt - auch „Grundwerte" gefördert und gepflegt. Die innersten christlichen Wahrheiten, wie sie nicht zuletzt auch in der Bergpredigt zur Aussage kommen, sind zwar ausstrahlungsfähig, in mancher Hinsicht universalisierbar und geben zum Beispiel der Friedenserziehung wichtige Impulse, sie sind selbst aber keineswegs „Grundwerte" im strengen Sinn des Wortes, da sie - dies gilt etwa besonders für das Gebot der Feindesliebe und für das Ideal der Demut - sehr eng an die Annahme und den Vollzug des Glaubens gebunden sind. Je überzeugender das konkrete christliche Ethos in seiner Bestimmtheit und mit all seinen Verschiedenheiten im gesellschaftlichen Raum gelebt und bezeugt wird, um so mehr dient die Kirche dem Erhalt lebenswichtiger Grundwerte in der Gesellschaft. Aber sie erschöpft sich nicht in einer Art Zivil-Religion.

Dieses konkrete christliche Ethos wird dabei auf sehr verschiedene Weise vermittelt: direkt und indirekt, im Zeugnis des Wortes und in der Tat des Lebens, im Symbol und in der Diakonie bzw. Caritas, in der Kirche und in der Gesellschaft. Auch sind Menschen allen Alters und in allen Situationen angesprochen. Dabei darf die argumentative Vermittlung und die Kommunikation in die verschiedenen Lebensräume hinein nicht vergessen werden. Schließlich sind lebendige Vorbilder, die anstecken, unentbehrlich.

Wirkliche „Grundwerte" dürfen nicht direkt und bloß einem partikulären Gruppenethos angehören, sondern müssen der allgemeinen menschlichen Einsicht zugänglich sein und - wie immer ihr letzter Kern begründet ist - eine universal vermittelbare und mit der menschlichen Vernunft vollziehbare Einladung bzw. Verpflichtung für alle darstellen. Insofern eignet dem biblischen und christlichen Ethos trotz aller konkreten Beheimatung im Glauben eine Durchsichtigkeit, in der eine universale Geltung dieses Zeugnisses deutlich wird. In diesem Sinne gibt es gerade auch in der Kirche eine Fülle fließender Übergänge von der Einzigartigkeit des konkret gelebten Ethos über die Spiritualität und das Engagement von Gruppen bis zu ethischen Antworten auf globale Herausforderungen der Menschheit. Das christliche Ethos ist also nicht uniformistisch und abstrakt, wie heute mancher Verfechter des „Pluralismus" argwöhnt. Nochmals muss besonders aufmerksam gemacht werden, wie wichtig die Vermittlungsstufen von innen nach außen sind, also vom Leben der Kirche in die Gesellschaft hinein. Diese Abstufungen werden nicht zuletzt auch durch die Katholische Soziallehre und überhaupt die Sozialethik, aber auch durch die Menschenrechtstraditionen und das Friedensethos sichtbar. Dafür gibt es wiederum als Vorstufen eine Reihe von notwendigen Voraussetzungen des Verständnisses. So haben die Philosophie und darin besonders die Anthropologie eine wichtige Funktion in der Eröffnung der Wege zu zentralen Aussagen. Die Bestimmung des Menschen ist nicht zuletzt auch darum wichtig, weil elementare menschliche Grunderfahrungen heute vielen Menschen fremd geworden sind oder verschüttet wurden. Man denke an das Leiden und das Teilen, an das Dienen und das Danken, aber auch an die Erfahrung des Sterbens.

Unsere Frage nach diesen Grundwerten erschöpft sich nicht einfach in unserem Land. Dies ist auch gar nicht zu erwarten. Denn im Grunde hängt ja die aufgezeigte Krise mit der Situation eng zusammen, die durch den freiheitlichen modernen Staat mit dem gesellschaftlichen Pluralismus entstanden ist. So ist es auch kein Wunder, dass z.B. die nun dem Ende entgegen gehenden Versuche eines Verfassungsentwurfs für die Europäische Union auf dieselben Schwierigkeiten stoßen, wobei über die geistigen, weltanschaulichen, religiösen und ethischen Differenzen hinaus auch erhebliche nationale Interessen und kulturelle Besonderheiten ihre Auswirkungen haben. Man darf gespannt sein, ob es in den kommenden Monaten noch einmal möglich sein wird, die vorgesehne Präambel, die zur Zeit kein Gottesbezug enthält, zu verändern und auch den christlichen Ursprung Europas deutlich zu markieren.

Hier schließt sich wieder der Kreis. Ich habe versucht zu zeigen, wie die Kirche bei der Suche nach gemeinsamen sittlichen Maßstäben des menschlichen Zusammenlebens in den gegenwärtigen Gesellschaften hilfreich sein kann, wobei sie immer im Dialog und im Wettbewerb steht mit anderen Konfessionen und Religionen, Weltanschauungen und Lebensentwürfen. Vieles mag dabei spannungsvoll und widersprüchlich erscheinen. Es gibt in einem solchen Diskurs gewiss auch mit dem Evangelium und der Glaubensüberzeugung unvereinbare Aussagen und Haltungen. Dazu braucht es Auseinandersetzung und Streit. Was aber wahr ist und der Liebe dient, kann für niemand auf die Dauer fremd und ohne Interesse sein. Aus einem solchen Bemühen entstehen und leben Grundwerte.

(c) Karl Kardinal Lehmann

I.

Die Heiligsprechung des Opus Dei-Gründers Josemaría Escrivá de Balaguer am Sonntag, 6. Oktober 2002, ist Anlass, um sich mit seiner spirituellen und kirchlichen Gestalt näher zu befassen. Dies ist bei jedem neuen Seligen und Heiligen notwendig. Im vorliegenden Fall ist es jedoch ganz besonders wichtig. Dies ergibt sich nicht so sehr aus dem Grund, dass der im spanischen Kulturkreis gebürtige und davon bestimmte Prälat schon mehr als 27 Jahre tot ist, sondern ein Hauptgrund dafür ist die Tatsache, dass seine Gestalt auch als Seliger und Heiliger von vornherein überdurchschnittlich geprägt ist durch das Vorverständnis, das jemand zu dem von ihm gegründeten Werk, dem Opus Dei, mitbringt. Obwohl die Auseinander-setzung darüber nachgelassen hat, gibt es bis in die jüngste Zeit hinein sehr dezidierte Darstellungen und auch heftige Diskussionen (Vgl. z.B. P. Hertel, Schleichende Übernahme. Josemaría Escrivá, Sein Opus Dei und die Macht im Vatikan, Oberursel 2002 (Publik forum); ders., „Ich verspreche euch den Himmel", Düsseldorf ²1980; K. Steigleder, Das Opus Dei, Zürich (4. Auflage) 1991; Paulus-Akademie (Hg.), Opus Dei – Stoßtrupp Gottes oder „Heilige Mafia"?, Zürich 1992.).

Diese haben auch vor der Heiligsprechung nicht Halt gemacht. Um so notwendiger scheint es mir zu sein, nun einmal sine ira et studio auf die spirituelle Gestalt des Opus Dei-Gründers zurückzukommen.

Die Stoßrichtung der Kritik wird leicht erkennbar aus dem Klappen-Text des Buches von P. Hertel „Schleichende Übernahme". Dort heißt es, gewiss auch in der Intention der Werbung: „Unglaublich, was immer noch geschehen kann: Die Heiligsprechung von Josemaría Esrivá, Gründer des Opus Dei. Eine Absicht seines Geheimbundes ist es, die Macht in der römisch-katholischen Kirche zu erobern. Das unverschmutzte Opus Dei solle als Werk Gottes die nach dem letzten Konzil verschmutzte Kirche reinigen und zur Tradition zurückführen. Weil der Papst nicht nur vom Hl. Geist inspiriert sei, müsse Opus Dei auch diese Lücke füllen. – Peter Hertel... deckt auf, mit welchen Mitteln die straff organisierte Formation sich in den Kommandozentralen festsetzt. Der Machtzuwachs des Geheimbundes ist rasant, der Verwaltungsapparat des Papstes durchsetzt, die Wahl des nächsten Papstes vom Opus Dei ‚gut‘ vorbereitet. Die aufgedeckten Regelverstöße auf dem kirchlich vorgeschriebenen Weg der Heiligsprechung zeigen auf, mit welchen Finessen Opus Dei arbeitet."

Es wird nicht leicht sein, sich ein in jeder Hinsicht ungeschminktes, möglichst vorurteilsfreies Bild zu machen von einem Heiligen, der wie alle anderen Menschen auch schließlich ein Anrecht hat auf die Wahrung des guten Rufes und die Vermeidung von Vorurteilen oder gar Vorverurteilungen. Ich sehe in der möglichst unbefangenen Darstellung des Lebens und Wirkens, vor allem auch der spirituellen Gestalt Escrivás die einzige Möglichkeit, durch diese Vorurteile und Verzerrungen hindurch zur authentischen Gestalt durchzustoßen. Dies soll in diesem Beitrag versucht werden. Man kann auf die Dauer das spirituelle Profil – die kleine Schrift „Camino" ist in über 40 Sprachen übersetzt und in über vier Millionen Exemplaren verbreitet – nicht einfach übergehen.

II.

Als Voraussetzung zur Erfassung der spirituellen Gestalt mag es gut sein, zuerst die wichtigsten Daten der Biographie von Josemaría Escrivá zu erwähnen. Er hat in der Zeit von 1902 bis zu seinem Tod 1975 eine für Europa und besonders für Spanien schwierige Zeit durchlebt, mit zwei Weltkriegen und dem Spanischen Bürgerkrieg der Jahre 1936 bis 1939. Er ist am 9. Januar 1902 in Barbastro in der spanischen Provinz Aragón als zweites Kind von José Escrivá y Corzán und Maria Dolores Albás Blanc geboren worden. Die Schwester Carmen war um drei Jahre älter. Der Vater besaß einen Tuchladen und eine kleine Schoko-ladenfabrik. Mit zwei Jahren war der Junge so schwer erkrankt, dass die Ärzte ihn bereits aufgegeben hatten. Die Eltern gelobten im Fall seiner Genesung eine Wallfahrt zu dem altehrwürdigen Gnadenbild von Torreciudad. In der Tat wurde das Kind ganz plötzlich und überraschend gesund. Zwischen 1910 und 1915 sterben die drei nach ihm geborenen Schwestern Rosario, Mariá Dolores und Chou im Alter zwischen 9 Monaten und 8 Jahren. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg beginnt er das Gymnasium an einer von Piaristen geleiteten Schule in Barbastro (1912-1915). Zwischen 1915 und 1917 macht der väterliche Betrieb Bankrott. Die Familie zieht weg und übersiedelt nach Logroño.

Um den Jahreswechsel 1917/18 hatte der Fünfzehnjährige ein Erlebnis, das sein Leben entscheidend prägen sollte. Er entdeckt im Schnee die Fußspuren eines Unbeschuhten Karmeliten. Sie wecken in ihm den Wunsch nach einer großherzigen Bereitschaft für Gott.

Es ist das erste Ahnen einer Berufung. Er entschließt sich, Priester zu werden. Er beginnt im Jahr 1918 das Theologiestudium als Externer im Priesterseminar in Logroño. Der Wunsch wurde immer lebendiger, das Leben auf irgendeine Weise großzügig für Gott einzusetzen. Aber er wusste noch nicht, wohin ihn dieser Ruf führen könnte. 1919 wird der sehnlich von ihm selbst erwartete Bruder Santiago geboren. Dieser sollte, wenn Josemaría Priester wird, seinen nun leeren Platz für die Familie ersetzen.

Nach Abschluss der Studiengänge in humanistischer Kultur und Philosophie wechselt er von 1920 bis 1927 zur Fortsetzung des Theologiestudiums an die Päpstliche Universität von Saragossa. Der Weg zum Priestertum und besonders zum Diözesanpriester war nicht selbstverständlich. Lange hatte er überlegt, ob er nicht in den Karmel eintreten sollte. Einige Zeit zog es ihn jedoch zur Architektur hin. Er achtete das Priestertum. „Zu Hause hatte ich gelernt, dass Priestertum zu achten und zu ehren. Aber das war nichts für mich, das war etwas für andere!" (D. M. Helming, Fußspuren im Schnee. Josemaría Escrivá. Gründer des Opus Dei, St. Ottilien 1991, 13.) Deshalb war auch sein Vater ziemlich überrascht und erstaunt. „Eines guten Tages sagte ich meinem Vater, dass ich Priester werden wollte. Es war das einzige Mal, dass ich ihn weinen sah. Er hatte zwar andere Pläne für mich, widersetze sich aber nicht. Er sagte nur: Mein Sohn, überlege dir das gut. Die Priester müssen heilig sein. Es ist sehr hart, kein Zuhause und keine irdische Liebe zu haben. Denke noch einmal darüber nach. Aber ich werde mich nicht widersetzen." ( Ebd., 13f.)

Josemaría war ein hervorragender Student der Theologie. Er wuchs auch in seinem inneren Leben. Täglich besuchte er das Gnadenbild der Mutter Gottes vom Pilar. Viele Nächte verbrachte er still für sich auf einem Balkon mit Sicht auf das Allerheiligste in der Seminar-Kirche. Er fastete oft, schlief auf dem Fußboden und verrichtete andere Werke der Buße, um sich Gott auch im Blick auf seinen Leib ganz verfügbar zu halten.

Wenige Monate vor der Priesterweihe starb plötzlich sein Vater am 17. November 1924. Der beispielhafte Einsatz des Vaters für die Familie hat Escrivá tief geprägt. Die Eltern erzogen den Sohn in großer Freiheit. Er wird später einmal sagen, dass er seinem Vater die Berufung verdankt und dass er jeden Morgen und jeden Abend die Gebete spricht, die er von seiner Mutter gelernt hat. Kaum übertreffbare Worte findet er über die Mütter, die „wirklich heroisch sind, auch wenn sie niemals spektakulär in Erscheinung treten. Sie machen keine Schlagzeilen – wie man so sagt –, aber sie opfern sich immer wieder auf, sie stellen freudig ihre Wünsche und Neigungen zurück, sie verschenken ihre Zeit oder verzichten auf Selbstbehauptung und auf mögliche Erfolge, damit ihre Kinder glücklich sind." ( Ebd., 15.)

III.

Am 28. März 1925 wurde Josemaría zum Priester geweiht und feierte zwei Tage später in der Mutter Gottes-Kapelle der Kathedrale in Saragossa seine Primiz. In dem kleinen Dorf Perdiguera auf dem Lande übernahm er die Vertretung des erkrankten Pfarrers. Er lernte das harte, schwere Leben der kleinen Leute, aber auch des Landpfarrers kennen. Wie in Spanien oft üblich, holte er seine Familie, nämlich Mutter, Schwester und Bruder, nach Saragossa. Sie sollten ihn aber selten sehen. Denn im Jahr 1923 hatte er bereits ein Zusatzstudium der Rechtswissenschaften an der staatlichen Universität von Saragossa begonnen. Im Januar 1927 macht er dort das juristische Abschlussexamen und übersiedelt bald danach nach Madrid, um seine Studien mit dem Doktorrat im Zivilrecht abzuschließen, was dann erst 1939 gelingt. Er hatte dieses Studium mit Billigung seines Vaters im Jahr 1923 begonnen. Der Vater sah darin wohl so etwas wie eine zusätzliche Sicherheit. In Saragossa arbeitet er auch in der Krankenseelsorge. Gleichzeitig hat er eine Dozentur für Römisches Recht und für Kirchenrecht an einer Akademie inne. Außerdem gibt er Privatstunden, um seine Familie unterstützen zu können. Schließlich kümmerte er sich mit einigen Mitstudenten, wie schon in Saragossa, so auch jetzt in Madrid um sozial Schwache und Schwerkranke. Den Waisen- und Straßenkindern erteilte er Katechismus- und Erstkommunionunterricht. Zugleich ist er Seelsorger für die Lehrenden und Lernenden der Hochschule. Josemaría war ein gebildeter, gewandter und trotz seiner durchlöcherten Schuhe ziemlich eleganter junger Mann. Seine Studenten konnten kaum glauben, dass er sich mit dem „Proletariat" abgab. Sie haben ihm nachspioniert – er ging tatsächlich zu den Randsiedlern.

Im Grunde wartete Josemaría jedoch immer noch auf einen Wink des Herrn, um Klarheit über seine Berufung zu finden. Dies sollte sich bald ändern. Am Schutzengelfest (2.10.) des Jahres 1928 beschäftigt er sich während einiger Besinnungstage nochmals mit seinen geistlichen Notizen aus den letzten zehn Jahren. Wie er selbst berichtete, „sah" er dabei plötzlich in seiner vollen Gestalt das, was später „Opus Dei" heißen sollte. Er bleibt später mit Informationen über dieses Ereignis ziemlich zurückhaltend, aber es ist kein Zweifel, dass der 26jährige Priester hier die geistliche Geburt der von ihm gegründeten Gemeinschaft erfahren durfte.

Es ist auch zugleich der „Kern" dieser Botschaft erkennbar: Menschen aus allen Berufen und sozialen Situationen sollen inmitten ihres alltäglichen Tuns nach der Fülle des christlichen Lebens streben. Er sollte diesen Laien den göttlichen Ruf bewusster machen und Wege der Heiligung in der beruflichen Arbeit und in der Erfüllung der gewöhnlichen Aufgaben der Christen weisen. Hier liegt auch das Zentrum seiner Botschaft, die er im Jahr 1966 in einem Interview mit der New York Times folgendermaßen formulierte: „Der Geist des Opus Dei greift die herrliche, jahrhundertelang von vielen Christen vergessene Wirklichkeit auf, dass jede Arbeit, die im Menschlichen lauter und rechtschaffen ist, zu einem göttlichen Tun werden kann. Wenn man Gott dienen will, gibt es keine belanglosen oder zweitrangigen Arbeiten: alle sind von größter Bedeutung. – Um Gott zu lieben und ihm zu dienen, ist es nicht nötig, auffallende Dinge zu tun. Alle Menschen ohne Ausnahme ruft Christus auf, vollkommen zu sein wie ihr himmlischer Vater vollkommen ist (vgl. Mt 5,48). Heiligwerden bedeutet für die überwiegende Mehrzahl der Menschen, ihre eigene Arbeit zu heiligen, sich in dieser Arbeit selbst zu heiligen und die anderen durch die Arbeit zu heiligen, damit sie täglich auf dem Weg ihres Lebens Gott begegnen. – Die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung, die eine immer stärkere Bewertung der Arbeit mit sich bringt, erleichtert offensichtlich den Menschen unserer Zeit das Verständnis für diesen Aspekt der christlichen Botschaft, den die Spiritualität des Opus Dei so sehr hervorhebt. Entscheidend aber ist das Wehen des Heiligen Geistes, der in seinem lebensspendenden Wirken unserer Zeit zum Zeugen einer tiefen Erneuerung im ganzen Christentum hat machen wollen. Liest man die Dekrete des Zweiten Vatikanischen Konzils, so erscheint als ein wichtiger Teil dieser Erneuerung gerade die neue Wertschätzung der gewöhnlichen Arbeit und der Würde der Berufung zu einem christlichen Leben und Arbeiten mitten in der Welt."( Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, Köln 1969, 4. Auflage 1992, 84f. Die in diesem Band gesammelten Interviews aus den Jahren 1966-1968 geben einen ausgezeichneten Einblick in Leben und Werk von Josemaría Escrivá.)

IV.

Offensichtlich konnte der noch erstaunlich junge Priester diese Vision anderen von Anfang an mit äußerster Klarheit vor Augen führen. Sie war auch nicht an eine konkrete historische Situation gebunden, obgleich es immer um die Umsetzung der empfangenen Botschaft vor Ort und in der konkreten Zeit ging. Er war überzeugt, dass es dafür eigentlich nur zweier Mittel bedarf, nämlich das Kreuz und das Evangelium. Nun erfolgt rasch der Ausbau dessen, was er in der Vision gesehen hatte. Bereits im Jahr 1930 wird ihm deutlich, dass zum Opus Dei Frauen gehören sollten. Es wäre aufschlussreich, der Bedeutung und Stellung der Frau näher nachzugehen. Die ersten Berufungen kommen. Das erste Apostolische Werk, die Akademie DYA, wird in Madrid eröffnet. Die ersten wichtigen Schriften erscheinen im Jahr 1934: „Geistliche Betrachtungen" und „Der heilige Rosenkranz", das erste ein Vorläufer des Camino, der Rosenkranz erschien mit über 100 Auflagen in 20 Sprachen.

Während des Bürgerkrieges, der am 18. Juli 1936 ausbricht, bleibt Josemaría Escrivá unter Lebensgefahr in Madrid. Im September 1937 besorgt er sich über den Konsul von Honduras die nötigen Dokumente, um Spanien verlassen zu können. In einem Gewaltmarsch überquert er die Pyrenäen und trifft am 2. Dezember 1937 über Andorra in Frankreich ein. Während des Bürgerkriegs, der am 28. März 1939 endet, lebt er eine Weile in Burgos und nimmt zunächst von dort die Apostolische Arbeit wieder auf. Nach dem Krieg ist er wieder in Madrid. Ein wichtiger Einschnitt ist die Approbation des Opus Dei am 19. März 1941 als „Fromme Vereinigung" (pia unio). Bald darauf gründet er die „Priesterliche Gesellschaft vom Hl. Kreuz", die eng mit dem Opus Dei verbunden ist. Am 22. April stirbt unerwartet seine Mutter. Am 11. Oktober 1943 erhält das Opus Dei die erste Approbation vom Hl. Stuhl. 1944 werden die ersten aus den Opus Dei hervorgegangenen Priester geweiht, darunter auch der spätere Nachfolger von Josemaría Escrivá, der lange Zeit mit ihm zusammenarbeiten sollte: Don Alvaro Del Portillo. Alle drei Neupriester waren Ingenieure. Als 1947 die Säkularinstitute offiziell kirchlich gegründet werden (Vgl. dazu G. Pollak, Der Aufbruch der Säkularinstitute und ihr theologischer Ort, Vallendar 1986.), erhält auch das Opus Dei die Zulassung nach dieser neuen Form geistlichen Lebens. Der Gründer ist nicht glücklich über diese Form, aber sie ist das, was unter den gegebenen Möglichkeiten am ehesten seiner Vision entspricht.

Rasch erfolgt der weitere weltweite Ausbau der Gemeinschaft. Seit 1946 lebt Josemaría Escrivá als Generalpräsident des Opus Dei in Rom. Der Gründer wird öfter vom Papst Pius XII in Privataudienz empfangen. 1948 wird das „Collegium Romanum Sanctae Crucis" als Studienzentrum eröffnet, in dem Tausende aus allen Ländern der Welt ihre geistliche Bildung erhalten. Es ist vor allem für die Priester gedacht. Im Jahr 1950 gewährt Papst Pius XII. dem Opus Dei die endgültige Approbation. 1952 beginnt in Pamplona der Aufbau der Universität von Navarra, die dem Gründer bis ans Lebensende ganz besonders am Herzen liegt. Im Jahr 1953 wird das Bildungszentrum auch für die Frauen des Opus Dei eröffnet (Vgl. dazu Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 129-172.) In dieser Zeit dürfen auch Nicht-Katholiken und Nicht-Christen Mitarbeiter werden. Hatte er im Jahr 1939 das Doktorrat in den Rechtswissenschaften erhalten, so wird er im Jahr 1955 an der Päpstlichen Lateranuniversität das Doktorat in Theologie erhalten. 1960 empfängt der neue Papst, Johannes XXIII., den Generalpräsidenten in Audienz. Während des Zweiten Vatikanischen Konzils wirkt vor allem Don Alvaro Del Portillo als Berater mit (Zum Opus Dei und zum Konzil, vgl. P. Berglar, Opus Dei, Salzburg 1983, 267-278.). Josemaría Escrivá begibt sich in dieser Zeit und danach als Pilger zu vielen europäischen Heiligtümern, übrigens auch nach Guadalupe in Mexiko.

Im Jahr 1975 begeht er in Rom sein Goldenes Priesterjubiläum. Ende Mai führt ihn seine letzte Reise nach Spanien. Wenige Tage nach seiner Rückkehr nach Rom, am 26. Juni, stürzt er in seinem Arbeitszimmer zu Boden und stirbt. Jede Hilfe, die ihm noch zuteil wird, ist vergeblich. Anderthalb Stunden dauerte der Kampf um sein Leben. Sein Leichnam ruht in der Krypta der Kirche Maria vom Frieden im Zentralsitz der Prälatur in Rom.

V.

Bald nach seinem Tod entsteht eine große Wallfahrt zu seinem Grab. Es sind besonders viele junge Menschen. Die Pilger kommen aus allen Erdteilen. Bereits am 12. Mai 1981 wird der Seligsprechungsprozess eröffnet, der 1986 auf der Diözesanebene abgeschlossen und am 17. Mai 1992 durch die feierliche Seligsprechung zu Ende geführt wird.

Im Jahr 1982 gibt Papst Johannes Paul II. der Öffentlichkeit seine Entscheidung bekannt, das Opus Dei als Personalprälatur zu errichten. Mit der Apostolischen Konstitution „Ut sit" vom 28. November kommt die juristische Suche nach einer angemessenen kirchlichen Organisations-Gestalt des Opus Dei an ein Ende. Es ist die rechtliche Form, die Josemaría Escrivá immer gesucht und gewünscht hatte. Die Personalprälatur, angeregt durch das Dekret über Dienst und Leben der Priester des Zweiten Vatikanischen Konzils (PO 10), soll für Weltpriester eine eigene Möglichkeit der Inkardination schaffen, um deren mobilen und flexiblen Einsatz zu ermöglichen. Eine endgültige Regelung erfolgt einerseits im Motu proprio „Ecclesiae Sanctae" und anderseits im Rahmen des neuen Kirchenrechtes (vgl. cc. 294-297 CIC). Damit können auch im Jahr 1983 die Statuten der Prälatur vom Hl. Kreuz und Opus Dei erlassen werden. (Näheres dazu bei A. de Fuenmayor u.a., Die Prälatur Opus Dei. Zur Rechtsgeschichte eines Charismas. Darstellung, Dokumente, Statuten = Münsterischer Kommentar zum CIC, Beiheft 11, Essen 1994 (Übersetzung aus dem Spanischen, wo das Werk 1989 erschienen ist), 4. Auflage, Navarra 1990. In diesem Band sind auch alle wichtigen Dokumente abgedruckt: 513-679. Die Statuten wurden auch eigens herausgegeben: Rom 1982.)

Die Personalprälatur besteht aus Weltpriestern und ist geprägt durch ihren Zweck. Das Personalbistum ist eine Diözese, deren konstitutiver Teil des Gottesvolkes neben dem Territorium durch eine personale Kategorie umschrieben ist (vgl. can. 372 § 2 CIC). Die Personalprälatur ist ein eigenständiger, zweckgebundener, für die Weltgeistlichen bestimmter Inkardinationsverband, den es nur in der lateinischen Rituskirche gibt. Zur Personalprälatur gehören also die in ihm inkardinierten Priester, aber auch die der Prälatur eingegliederten Laien. Alle vereint eine einzige Berufung, ein Geist, ein Ziel, eine Leistung. Das Opus Dei ist bisher die einzige Einrichtung mit dieser Bezeichnung. Sie weicht in ihrer Struktur von der im CIC vorgezeichneten Gestalt ab. Die Diskussion über diese Form einer Gemeinschaft, die weder dem Ordensstand noch dem Säkularinstitut entspricht, geht weiter.

Die Seligsprechung hatte ein großes Echo. So wurde der Ruf nach einer Heiligsprechung immer lauter. In der Tat konnte Johannes Paul II. bald nach der Feier des 100. Geburtstages von Josemaría Escrivá am 6. Oktober 2002 unter großer Anteilnahme die Heiligsprechung vollziehen. (Zur Selig-sprechung vgl. den Bildband: Geh ein in die Freude deines Herrn. Seligsprechung von Josefmaria Escrivá, Gründer des Opus Dei, Köln 1992. )

Viele Veröffentlichungen des Gründers erschienen nach dem Tod und haben in vielen Sprachen sehr hohe Auflagen erreicht. Die wichtigsten Bücher sind: Der Weg (Köln 1983); Die Spur des Sämanns (Köln 1986); Im Feuer der Schmiede (Köln 1987); Christus begegnen (Köln 1981); Freunde Gottes (Köln 1980); Der Kreuzweg (Köln 1981); Der Rosenkranz (Köln 1976 u.ö.). Im Zusammenhang der Heiligsprechung begann auch das Erscheinen der bisher umfangreichsten, auf drei Bände berechneten Biographie von Andrés Vásquez de Prada. (Der Gründer des Opus Dei. Josemaría Escrivá. Eine Biographie. Band 1: Die frühen Jahre (Köln 2002). Dieser Band endet mit dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs 1936. Band 2 soll die Jahre 1936 bis 1945, Band 3 die Jahre 1945 bis 1975 umfassen. Zum 100. Geburtstag und zur Heiligsprechung erschien ein wichtiger Band „Josemaría Escrivá. Profile einer Gründergestalt", herausgegeben vom früheren Prälaten der deutschen Region, César Ortiz, Köln 2002.)

VI.

Mit dieser biographischen Skizze sind zugleich auch die Umrisse der spirituellen Gestalt von Josemaría Escrivá sichtbar geworden. Nach langer Zeit des Wartens ist, so haben wir gesehen, bei der entscheidenden Vision vom 2. Oktober 1928, die Grundintuition mit großer Deutlichkeit erkennbar geworden. Ein Kern liegt in der Aussage, „dass jede Arbeit, die im Menschlichen lauter und rechtschaffen ist, zu einem göttlichen Tun werden kann. Wenn man Gott dienen will, gibt es keine belanglosen oder zweitrangigen Arbeiten: alle sind von größter Bedeutung. – Um Gott zu lieben und ihm zu dienen, ist es nicht nötig, auffallende Dinge zu tun". Es gibt viele Interpretationen, um das damit Gemeinte näher zu entfalten. (Vgl. dazu P. Berglar, Opus Dei, 278ff.; V. Messori, Der „Fall" Opus Dei, Aachen 1995 (italienische Ausgabe: Mailand 1994), C. Ortiz (Hg.), Josemaría Escrivá, 123, 225ff., 253ff., 311ff., 347ff.; D. Le Tourneau, Das Opus Dei, Stein am Rhein 1987, 49ff.; P. Rodgríuez u.a., Das Opus Dei in der Kirche, Paderborn 1997, 107ff., 159ff.; )

Vielleicht ist das Wort von der „neuen Weltverantwortung", das wir auch im Titel benutzen, noch zu künstlich und anspruchsvoll für das Elementare, das in dieser Spiritualität zum Ausdruck kommt. Escrivá geht davon aus, dass der Christ ein unbefangeneres, freilich keineswegs naives Verhältnis zur Welt und zu seiner Arbeit gewinnen muss.

Hier setzt er sich am stärksten von den klassischen Orden ab. Er bestreitet entschieden und grundlegend, dass nur derjenige ein ganz auf Gott gerichtetes Leben führen kann, der auf irgendeine Weise Abstand von der Welt hält, so z.B. durch Klostermauern, Gelübde, Ordenskleid und auch Ordensregeln. Er sah es als falsch an, dass das eigentliche christliche Leben faktisch oft gleichgesetzt worden ist mit der Abgeschiedenheit von der Welt, wie dies ein Ideal vieler Ordensgemeinschaften war. Auch die Weltpriester haben nach Escrivá ihr persönliches religiöses Leben weitgehend in dieser Richtung, wenn auch in abgemilderten Formen, orientiert. Weil der Laien-Christ oft noch stärker Versuchungen und Zerstreuungen ausgesetzt ist, hat man ihm ein Leben nach dem Evangelium gar nicht zugetraut und ihn nicht selten als einen „Christen zweiter Klasse" gesehen, der die bedingungslose Nachfolge Jesu Christi nicht beschreiten könne. Die Laien selbst haben sich nach Escrivá dieser negativen Vorstellung zu lange gebeugt.

Diese Tradition prägte – gewiss mit Ausnahmen – nach Escrivá die ganze katholische Kirche. Es scheint, dass sie im Spanien der 20er und 30er Jahre besonders krasse Formen angenommen hatte. Es liegt also gewiss etwas Revolutionäres darin, wenn Escrivá sich mit solchen Argumenten nicht mehr mit einer ausgedünnten Ordensspiritualität für Laien abfinden möchte. Er traut der Gnade Gottes im Wirken vieler Laienchristen mehr zu. So hat Escrivá ganz grundlegend die Berufung jedes Christen in den Vordergrund gestellt. Wiederum ist hier das Time-Interview vom 15. April 1967 aufschlussreich: „Am ehesten ist das Opus Dei zu verstehen, wenn man sich das Leben der ersten Christen vergegenwärtigt. Sie lebten ihre christliche Berufung mit uneingeschränkter Hingabe; sie suchten ernsthaft jede Vollkommenheit, zu der sie durch die einfache und erhabene Tatsache der Taufe gerufen waren. Äußerlich unterscheiden sie sich nicht von den anderen Leuten. Die Mitglieder des Opus Dei sind normale Menschen, die einer normalen Arbeit nachgehen und in der Welt als das leben, was sie sind: als christliche Staatsbürger, die den Forderungen ihres Glaubens ganz entsprechen wollen." (Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 50. Vgl. auch ebd., 49ff., 77ff., 87ff.) Kann man nicht verstehen, dass dieses Programm, auch wenn es vielleicht manchmal missverständlich umgesetzt wurde, viele Menschen anzog und anzieht?

Die Unbefangenheit dieser Worte kann leicht täuschen. Es handelt sich keineswegs um eine naive Zuwendung zur Welt. Der Gründer war sich vollkommen klar, dass derjenige, der mehr in der Welt lebt, um so tiefer die Wurzeln seiner Existenz in Gott erfahren muss. Nicht zur Abkehr von der Welt ist der Laien-Christ gerufen, sondern zu ihrer verantwortlichen Gestaltung im Sinne des Schöpfers. Immer wieder kommt die Formulierung vor: sich durch seinen Beruf heiligen, seinen Beruf heiligen und die anderen durch den eigenen Beruf heiligen. Im Jahr 1967 formuliert Escrivá diese grundlegende Überzeugung in einer Predigt mit folgenden Worten: „Für euch, Männer und Frauen der Welt, steht jede Flucht vor den ehrbaren Wirklichkeiten des alltäglichen Lebens im Gegensatz zum Willen Gottes... Gott ruft euch auf, ihn gerade in den materiellen, weltlichen Aufgaben des menschlichen Lebens und aus ihnen heraus zu dienen. Im Labor, im Operationssaal eines Krankenhauses, in der Kaserne, auf dem Lehrstuhl einer Universität, in der Fabrik, in der Werkstatt, auf dem Acker, im Haushalt, in diesem ganzen, unendlichen Feld der menschlichen Arbeit wartet Gott Tag für Tag auf uns... Es tut unserer Zeit Not, der Materie und den ganz gewöhnlich erscheinenden Situationen ihren edlen, ursprünglichen Sinn zurückzugeben, sie in den Dienst des Reiches Gottes zu stellen und sie dadurch, dass sie zum Mittel und zur Gelegenheit unserer ständigen Begegnung mit Jesus Christus werden, zu vergeistigen." (Zitiert nach D. M. Helming, Fußspuren im Schnee, 22)

Deshalb hat Escrivá immer auch wieder Leute gesucht und mit ihnen gerungen, die ein intensives weltliches Leben führten und große Aufgaben erfüllen mussten. Er hielt die Einsatzbereitschaft und die Disziplin solcher Menschen für günstige Voraussetzungen, um sich in ähnlichem Maß auch für geistliche Ziele einzusetzen, die die alltäglichen Aufgaben nicht etwa verdrängen, sondern – wie er gerne sagte – „veredeln". Er war überzeugt, dass Menschen, die den beruflichen Anforderungen eher ausweichen und auch wenig Änderungsbereitschaft erkennen lassen, weniger geeignet sind für das Opus Dei. Eine solche Aussage kann im Blick auf die Armen, Schwachen und Bedrängten gewiss zwiespältig werden. Aber die entscheidende Stoßrichtung ist klar. Es kommt nicht in erster Linie darauf an, dass Escrivá die Mächtigen und Einflussreichen aufsuchen und gewinnen wollte, sondern Menschen mit einer hohen Bereitschaft zum Einsatz und auch zur Veränderung. Das ganze menschliche Leben muss in der Kontemplation wurzeln. Immer wieder sagte Escrivá, die Waffe des Opus Dei sei nicht die Arbeit, sondern das Gebet.

Damit hat er manchmal Menschen in der Welt geradezu verblüfft. Prof. Victor García Hoz, Psychologe und später Mitglied von Opus Dei, erzählt uns: „Im Jahre 1941 sagte Don Josemaría einmal zu mir: ‚Gott ruft dich auf dem Weg der Kontemplation.‘ Ich war total verblüfft. Ich war schließlich ein verheirateter Mann mit damals drei Kindern, zu denen noch weitere dazukommen konnten und tatsächlich auch kamen. Außerdem hatte ich hart zu arbeiten, um meine Familie zu ernähren. Dass jemand einem Mann wie mir Kontemplation, geistliche Beschaulichkeit, als ein erreichbares Ziel hinstellte, das war in der damaligen Zeit einfach ungeheuerlich" (Ebd., 21.). Die Welt selbst wird so für den Laien im strengen Sinn zum Ort der Begegnung mit Gott. Jederzeit und an jedem Ort stehen die Wege der Kontemplation allen offen, die arbeiten. „Alles Wesentliche an der christlichen Berufung bleibt unverändert. Doch neu ist die Weise, sie zu verwirklichen. Nachdem anderthalb Jahrtausende lang das Ordensideal vorherrschte, greift das Opus Dei wieder die Art auf, mit der die Christen der ersten Jahrhunderte ihren Glauben lebten. Ein in mancher Hinsicht gewagtes Unternehmen. Kein Wunder, dass es bei aller Zustimmung auch auf Missverständnisse und Skepsis, ja Ablehnung stieß und stößt." (Ebd., 22.)Gerade hier darf man nicht vergessen, dass von den über 80.000 Mitgliedern in fast 100 Ländern nur 2% Priester sind.

VII.

Ich verzichte darauf, diese Aspekte zu vertiefen und weiter zu entfalten. Wenn man jedoch Escrivá verstehen will, muss man immer wieder zu diesem grundlegenden Gedanken zurückkehren. Nur von daher ist es auch verständlich, dass er in relativ kurzer Zeit so viele Menschen ansprach, die mitten im säkularen Leben standen und dennoch Christen sein wollten. Viele haben einen solchen Weg der Heiligung mitten in der Welt gesucht, ihn aber mit den traditionellen Wegen nicht finden können.

Dennoch ist dieser Weg eigentlich nicht etwas Neues. Mit Recht hat der Gründer immer wieder gesagt, dieser Geist des Opus Dei sei „so alt wie das Evangelium – und wie das Evangelium so neu". (Ebd.) Er verweist auf das frühe Christentum. Aber es gibt natürlich auch Akzentuierungen und Vorläufer, die solche Gedanken bereits thematisierten. Man wird hier, wie in allen Lebensprozessen, nicht immer alles mit Zitaten nachweisen können. Escrivá hat sich bestimmt manche Aussagen der Ordensspiritualitäten zu eigen gemacht, z.B. das Benediktinische Ethos des „Ora et labora" („Bete und arbeite"). Dies gilt ganz gewiss auch für das „Gott suchen in allen Dingen" des hl. Ignatius von Loyola und des Jesuitenordens, aber vermutlich auch für die Spiritualität der Theresia von Lisieux, in der das alltägliche Leben eine besondere Form der Heiligung erfährt. Schließlich darf man nicht vergessen, wie zentral „Heiligung" im AT und NT ist, besonders auch in der reformierten Tradition. (Vgl. z.B. J. Zmijewski, Heiligung, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflag, Band IV, Freiburg i.Br. 1995, 1331-1332.)

Bei diesem Vergleich denke ich z.B. an Aussagen der folgenden Art: „Ich versichere euch, wenn ein Christ die unbedeutendste Kleinigkeit des Alltags mit Liebe verrichtet, dann erfüllt sich diese Kleinigkeit mit der Größe Gottes. Das ist der Grund, warum ich immer und immer wieder betone, dass die christliche Berufung darin besteht, aus der Prosa des Alltags epische Dichtung zu machen. Himmel und Erde scheinen sich am Horizont zu vereinigen; aber nein, in euren Herzen ist es, wo sie eins werden, wenn ihr heiligmäßig euren Alltag lebt." (Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 177 (Nr. 116). Besonders hingewiesen sei auf den beinahe klassischen Text „Die Welt leidenschaftlich lieben", ebd., 173-183, eine Ansprache an der Universität von Navarra am 8. Oktober 1967.) Wenn man in die Kleinigkeiten des Alltags Liebe hineinlegt, dann wird man auch die Spuren Gottes darin finden. Alles andere ist für Escrivá „Blechmystik", die letztlich aus eitlen Träumereien und falschen Idealismen besteht. Escrivá scheut sich nicht, unmittelbar die ganz materielle Wirklichkeit als Feld christlicher Bewährung zu sehen und spricht wiederholt von einer „Materialisierung" des christlichen Lebens oder auch von einem „christlichen Materialismus". Wir haben vielleicht heute Schwierigkeiten mit einer solchen Sprache. Aber jeder, der verstehen will, kann diese Sprache deuten und auslegen – was wir ja sonst auch machen.

Ich denke aber auch an die Einschätzung der irdischen Dinge und ihre Autonomie bei Thomas von Aquin, der den Eigenwert der Schöpfungswirklichkeit und das Gutsein der aus den Händen Gottes hervorgegangenen Welt unmissverständlich betont. Man wird aber auch nicht fehlgehen, wenn man an Männer wie Thomas Morus denkt, die ihre Überzeugung aus dem Gewissen mit ihrem Leben besiegelten. Es ist jedoch das Verdienst von Escrivá, dass er mit Entschiedenheit die Ansätze der Tradition aufgreift und daraus wirklich nicht nur eine „Spiritualität für Laien", sondern eine „laikale Spiritualität" schafft. In diesem Sinne ist Escrivá ohne jede Frage ein Vorläufer des Zweiten Vatikanischen Konzils. Viele Aussagen des Konzils über die Berufung zur Heiligkeit in der Kirche und zum Glaubenszeugnis in Kirche und Welt haben hier ihre Wurzeln.

In dieser Grundintuition ist alles andere vorgezeichnet. Deshalb ist es auch nicht notwendig, an dieser Stelle die Konsequenzen sichtbar zu machen. Dies gilt z.B. für die Suche nach einer adäquaten rechtlichen Form, in der die Grundgedanken des Opus Dei angemessen gelebt werden können. „Für einen Lebensweg, der die Heiligung des Laien-Christen im Alltag und durch ihn zum Ziel hatte, für die spezifische Berufung zu etwas Unspezifischem also, gab es in der Kirche noch kein juridisches Modell. Erst das realiter von Menschen in aller Welt gelebte Opus Dei schaffte nach und nach eine innerkirchliche Gegebenheit, welcher schließlich, gemäß den organischen Lebensprinzipien der Kirche die adäquate Rechtsform zuwachsen musste." (P. Berglar, Opus Dei, 11) Diese Einsicht bestimmt auch manche andere Eigenheiten des Opus Dei. So gibt es im Bereich der irdischen, säkularen Probleme eine große innere Freiheit, wie sie der Einzelne im Alltag seines Berufes auch braucht, während die Ausrichtung auf ein transzendentes, übernatürliches Ziel mit großer Gemeinsamkeit verfolgt wird.

VIII.

Ich kehre kurz an den Anfang zurück. Es kam mir darauf an, die spirituelle Grundgestalt des neuen Heiligen darzulegen. Wenn die Kirche einen neuen Heiligen geschenkt bekommt, dann muss sie sich auch fragen, was der Geist Gottes durch einen solchen Zeugen hindurch der Kirche einer Zeit sagen möchte. Wir haben dies vielleicht bisher zu wenig versucht. Dies gilt nicht nur für Josemaría Escrivá, sondern auch für Mutter Teresa, Edith Stein, Adolf Kolping, Maximilian Kolbe, Titus Brandsma und manche andere. Es wäre ein unverzeihliches Versäumnis, wenn wir uns nicht wenigstens mühen würden, das spezifische Zeugnis in dieser Bedeutung für uns heute zu entdecken.

Deshalb habe ich mir auch den Mut genommen, einmal alle üblichen Diskussionen über das Opus Dei zurückzustellen. Ich will dabei nicht leugnen, dass es in der Vergangenheit da und dort bei der Inkulturation eines solchen Werkes in unserer Gesellschaft Probleme und Missverständnisse gegeben hat, die freilich auf mehreren Seiten liegen. Aber die spirituelle Herausforderung, die im Opus Dei liegt, darf nicht einfach mit Rückgriff auf diese Verdächtigungen abgewürgt werden. Leider gehen nicht wenige Veröffentlichungen auf das grundlegende Charisma von Josemaría Escrivá überhaupt nicht ein. (Vgl. R. Hutchison, Die heilige Mafia des Papstes, München 1996; M. del Carmen Tapia, Hinter der Schwelle. Ein Leben im Opus Dei. Der schockierende Bericht einer Frau, Zürich 1993; J. Ropero, Im Bann des Opus Dei. Familien in der Zerreißprobe, Solothurn 1995; zur Auseinandersetzung vgl. auch Opus Dei. Ziele, Anspruch und Einfluss, hrsg., von H. Schützeichel, Düsseldorf 1992, vgl. hier auch die Beiträge von H. St. Puhl; „Katholischer" Fundamentalismus. Häretische Gruppen in der Kirche, hrsg. von W. Beinert, Regensburg 1991. Vgl. auch oben Anm. 1)

Es scheint mir gerade darum ein Gebot der Stunde zu sein, mit Sorgfalt und Fairness das Profil des neuen Heiligen genauer zu betrachten. Wenn das Opus Dei selbst in der Verwirklichung des Werkes etwas falsch gemacht hat oder machen sollte, dann muss man es zuerst gewiss an der Bibel, besonders aber an der Gestalt des Gründers und seiner Vision messen. Alles andere wäre nicht seriös. Darum macht man es sich zu einfach, wenn man versucht, das Opus Dei als eine Sekte oder gar so etwas wie eine Mafia abzustempeln.

Die Kirche kann es sich heute nicht leisten, Charismen, die in ihr entstanden und aufgeblüht sind, zu verachten. Sie kann sich auch nicht leisten, Bewegungen dieser Art gegeneinander auszuspielen. Ich bin fest überzeugt, dass wir angesichts der großen Herausforderung des christlichen Glaubens heute alle Kräfte bündeln müssen, um bei aller Ausformung im Einzelnen aus der Mitte des Glaubens heraus ein gemeinsames Zeugnis vor der Welt ablegen zu können. Dies ist gerade auch wichtig in der Stoßrichtung dessen, was Josemaría Escrivá im Blick auf eine „laikale Spiritualität" wollte. Die Kirche muss die Laien befähigen, inmitten ihrer säkularen Tätigkeit authentische Zeugen des Evangeliums zu sein. Es ist gar nicht möglich, dass der Arm der verfassten Kirche überall hinreicht. Es braucht die Selbstständigkeit aller Christen je an ihrem Ort, um dem Evangelium in allen Feldern unseres Lebens einen Weg zu bahnen und Raum zur Entfaltung zu geben. Davon wird in hohem Maß die Zukunft der Kirche abhängen.

Ich will evtl. vorhandene Probleme nicht verdrängen oder gar verdecken. Aber sie können wirklich nur gelöst werden, wenn wir uns der zündenden Idee im Leben und Wirken des heiligen Josemaría Escrivá stellen. So möchte ich mit einer wichtigen Aussage des neuen Heiligen schließen: „Es versteht sich von selbst, dass sich diese Vorstellungen von einem heiligmäßig gelebten Alltag kaum verwirklichen lassen, wenn man nicht im Besitz jener vollen Freiheit ist, die dem Menschen – auch nach der Lehre der Kirche – aufgrund seiner Würde als Ebenbild Gottes zusteht. Die persönliche Freiheit – wenn ich von Freiheit spreche, meine ich natürlich immer eine verantwortungsbewusste Freiheit – besitzt eine wesenhafte Bedeutung für das christliche Leben. – Versteht also meine Worte als das, was sie sind: als Aufforderung, tagtäglich und nicht nur in besonderen Notsituationen eure Rechte auszuüben, ehrlich eure staatsbürgerlichen Pflichten in Politik, Wirtschaft, Universität und Beruf zu erfüllen und mutig die Folgen eurer persönlichen Entscheidungen sowie die Bürde der euch zustehenden Autonomie auf euch zu nehmen. Diese christliche Laienmentalität wird euch dazu befähigen, jede Form von Intoleranz und Fanatismus zu meiden; oder positiv ausgedrückt: sie wird euch helfen, in Frieden mit all euren Mitbürgern zusammenzuleben und das friedliche Zusammenleben in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu fördern." (Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 178 (Nr. 117).)

So kommt es in erster Linie darauf an, endlich einmal den heiligen Josemaría Escrivá selbst zu Wort kommen zu lassen. Dies sollte mein Beitrag sein, sich dieser oft verkannten Gestalt neu zu nähern und sie besser zu verstehen. Die Heiligsprechung vom 6. Oktober 2002 könnte dabei eine wichtige, ja entscheidende Hilfe sein.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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