„SOZIALE GERECHTIGKEIT“

Zur Anatomie eines Grundwortes

Datum:
Samstag, 9. Oktober 2004

Zur Anatomie eines Grundwortes

Gastkommentar für die Mainzer AZ am Samstag, 9. Oktober 2004

„Soziale Gerechtigkeit“ ist heute in der Diskussion um die Gestaltung der sozialen Sicherheit für die Menschen in Gegenwart und Zukunft vielleicht das am meisten gebrauchte Wort geworden. Wer will schließlich nicht sozial oder gar gerecht sein oder dafür sorgen, dass die Welt es immer mehr wird?

Aber es ist oft so, dass die Selbstverständlichkeit, die freilich auch große Begriffe rasch zu Schlagwörtern verkommen lassen kann, gar nicht so begründet ist. Unter den klassischen Arten der Gerechtigkeit kommt sie nicht vor. Die päpstlichen Sozialenzykliken des 20. Jahrhunderts gehen ausführlich darauf ein. Andere halten gleichwohl so etwas wie soziale Gerechtigkeit für eine Illusion und für eine bedenkliche Ausuferung des modernen Sozialstaates. Im Grunde sind jedoch seit dem 18./19. Jahrhundert eine Reihe von sich verschärfenden Problemen der so genannten „Sozialen Frage“ gemeint: Arbeitslosigkeit, Schutzlosigkeit bei Krankheit und Alter, mangelnde Bildung oder Ausbildung, sogar Hunger und Verelendung. Dabei geht es nicht nur um Barmherzigkeit im Sinne der christlichen Nächstenliebe oder irgendeiner Humanität, sondern Gerechtigkeit bedeutet das Zuteilen von Gütern, auf die man Anspruch hat, und die man den Betreffenden schuldet. Dies ist eine „harte“ Forderung, die am Ende nicht vom Belieben der Menschen abhängt.

Wir haben von Zuteilung gesprochen. Dabei geht es um Rechte und Pflichten, Güter und Lasten. Häufig denkt man bei der Gerechtigkeit nur an solche Verteilungsfragen. Es gibt Grundrechte des Menschen, bei denen gewiss jedem wegen der gleichen Würde der menschlichen Person dieselben unveräußerlichen Rechte zukommen. Hier muss es Gleichheit geben. Mit „sozialer Gerechtigkeit“ meint man oft eine Umverteilung vorhandener Güter, ja sogar eine Tendenz zu einer Gleichverteilung. Dabei weiß jeder, dass Gerechtigkeit sich durchaus auch nach konkreten Bedürfnissen richtet. So sollen auch natürliche und soziale Nachteile ausgeglichen werden. Soziale Gerechtigkeit soll dem Wohlergehen aller dienen. In erster Linie ist damit gewiss die elementare Existenzsicherung gemeint, die zur Würde des Menschen gehört.

An dieser Stelle ist es jedoch gut, auf die klassische Lehre von der Gerechtigkeit zu achten. Man beginnt dort nicht bei der Verteilung, sondern bei der Wechselseitigkeit bzw. beim Tausch. Man muss erst erarbeiten, was man verteilen will – eine offenbar keineswegs mehr selbstverständliche Binsenweisheit. Wie diese Wechselseitigkeit im Geben und Nehmen funktioniert, sieht man etwa gut an der Verantwortung der Generationen füreinander und wechselseitig.

Man denke auch an die Hilfsbedürftigkeit der Neugeborenen. Sie helfen jedoch später an ihrer Stelle. Dies setzt voraus, dass jeder zu seiner Zeit etwas zu geben hat und – auf welche Weise immer – zum Gelingen des gemeinsamen Lebens beitragen kann und will. Wenn jemand sich in einer besonderen Notlage befindet, soll durchaus die Gemeinschaft für ihn einspringen. Das ist in der Regel aber nur für den Übergang möglich und nötig.

 

Es wäre gut, wenn wir dies bei unserer Rede von sozialer Gerechtigkeit bedenken, damit es keine Kampfparole – von welcher Seite auch immer – wird oder bleibt. Der heilige Thomas von Aquin sagte einmal: „Auf zweifache Weise wird die Gerechtigkeit verdorben: durch die falsche Klugheit des Weisen und die Gewalttat dessen, der Macht hat.“

 

(c) Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz