Statement von Bischof Prof. Dr. Dr. Karl Lehmann Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz,
bei der Pressekonferenz zur Veröffentlichung des Schreibens von Papst Johannes Paul II. vom 3. Juni 1999 und der Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zur künftigen Schwangerschaftskonfliktberatung in Bonn, Hotel Bristol:
Der Brief von Papst Johannes Paul II. vom 3. Juni 1999 bedeutet das vorläufige Ende eines längeren gemeinsamen Suchens der Deutschen Bischofskonferenz und des Apostolischen Stuhls. Das Ringen ist ein Ausdruck dafür, daß wir nicht ruhen, die Frage nach einem wirksameren Lebensschutz für das ungeborene Kind und der Hilfe für die schwangere Mutter immer wieder neu auf die Tagesordnung zu setzen. Dies sind keine engstirnigen Kirchenprobleme, sondern es ist der auch in mehreren Verfassungsgerichtsurteilen festgestellte Auftrag zur Verringerung der Abtreibungszahlen und zur Rettung ungeborener Kinder, zur Zeit jährlich circa 5000. Wer diese Kinder preisgibt, muß sich dem Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung stellen.
Wie immer man auch die einzelnen Schritte des Papstes beurteilt, so besteht kein Zweifel, daß Papst Johannes Paul II. mit größtem Nachdruck von der Kirche ein Höchstmaß an Entschiedenheit und Klarheit in ihrem Eintreten für das Lebensrecht des ungeborenen Kindes verlangt. Der Mann, der vor fast 80 Jahren in der Nähe der Konzentrationslager Ausschwitz und Birkenau geboren und aufgewachsen ist, bezeugt von Jugend auf eine hohe ethische Sensibilität für den Anfang der Gefährdung menschlichen Lebens, der dann verschiedene Auswüchse allmählich entspringen.
In diesen Tagen seit der indiskreten Vorveröffentlichung des Papstbriefes und voreiliger Szenarien haben sich viele bemüßigt gefühlt, sich ohne jede Kenntnis des Briefes zu äußern. Ich bitte herzlich darum, oft geäußerte Vor-Urteile nun auch mit dem wirklichen Inhalt zu konfrontieren. Die Dinge sehen dann anders aus, auch wenn Fragen und Probleme bleiben.
Der Papst hat mit keiner Silbe die deutschen Bischöfe zum „Ausstieg" aus der gesetzlichen Schwangerschaftskonfliktberatung aufgefordert. Es kann weit und breit keine Rede davon sein, daß nun keine Scheine mehr ausgestellt werden dürfen. Wenn der Papst dies erwarten würde, hätte er uns dies auch in aller Klarheit mitgeteilt.
Wir sind von vielen Seiten immer wieder zur Revolte gegen den Papst aufgefordert worden, dem wir uns nicht beugen dürften. Dies ist schon deshalb keine Lösung, weil wir dem Papst bei der Frühjahrsvollversammlung 1998 versprochen haben, intensiv seinen Bedenken nachzugehen, und weil wir bei der Frühjahrsvollversammlung 1999 unsere intensiven Ausarbeitungen bewußt dem Papst zur Beurteilung übermittelt haben und in diesem Sinne nur vorläufige Beschlüsse gefaßt haben. Wir konnten in den vergangenen Jahren frank und frei unsere Erfahrungen und Meinungen vor dem Papst selbst zum Ausdruck bringen. Ein katholischer Bischof darf und muß auch dem Papst gegenüber seine in der Erfahrung gewonnenen und durch eine Gewissensprüfung gefestigten Einsichten darlegen - und dies auch durchaus beharrlich -, aber es kann keine grundsätzlich illoyale Konfliktstrategie geben. Wir haben mehr miteinander gerungen, als den allermeisten bekannt und bewußt ist.
Dabei gibt es gewiß einige Vorkommnisse, die wir uns künftig besser wünschen: Ich finde es enttäuschend, daß das vor der Entscheidung immer wieder nicht nur von mir persönlich, sondern auch von den anderen Organen der Deutschen Bischofskonferenz erbetene Sachgespräch nicht zustande kam - wie immer man dies erklären muß. So können wir auch nicht erkennen, wie intensiv man sich mit den Ergebnissen der im Frühjahr 1998 eingesetzten Arbeitsgruppe auseinandergesetzt hat, die von der Deutschen Bischofskonferenz übernommen wurden. Dies betrifft vor allem die Grundlagenfragen nach dem Beratungskonzept und dem Sinn der Aufhebung der Strafandrohung für die Frau. Wir sind näher beisammen, als der Eindruck nahelegt, der durch diese Irritation entstehen konnte.
Diese Fragen dürfen aber nicht die grundlegende Gemeinsamkeit verdunkeln, die auch von der Sache her jede Frontstellung verbietet: Wir suchen mit dem Oberhaupt der Kirche nach den besten Wegen, um die Zahl der Abtreibungen zu verringern. Wir sind mit ihm entsetzt, daß es trotz vieler Bemühungen in unserem Land so viele Tötungen von ungeborenen Kindern gibt, deren Recht auf Leben und Leben selbst total zerstört werden. Wir werden mit dem Papst zusammen nicht aufhören, diese Schande anzuprangern, vor allem aber unseren Beitrag zur Hilfe für die ungewollt schwangeren Frauen zu leisten, die sehr oft von ihrer Umgebung unter einen unmenschlichen Druck gesetzt werden.
Unter dieser Voraussetzung hat der Papst uns aufgefordert, mit unseren eigenen Kräften nach einer noch besseren Lösung zu suchen. Es darf nicht übersehen werden, daß er unseren neu geschaffenen und ausgearbeiteten Beratungs- und Hilfeplan grundsätzlich und weitgehend bejaht hat. Dies war das Hauptziel der eindeutigen Mehrheit der Deutschen Bischofskonferenz bei unseren Beschlüssen in diesem Frühjahr in Lingen. Dies ist ein nicht zu verkennender Erfolg, der bisher zu wenig gewürdigt worden ist. Der Papst sagt deutlich, daß dies gegenüber der bisherigen Praxis ein besserer Vorschlag ist, und anerkennt klar die Vorzüge. Es ist sein Recht und seine Pflicht, auf weiterhin bestehende Mängel und Grenzen hinzuweisen, die wir übrigens selbst in den Gesprächen und Verlautbarungen immer wieder eingeräumt haben. Der Papst selbst hat die Variante I dieses neuen Modells, der nicht wenige Bischöfe zuneigten, als angemessenste Lösung gewählt. Die Bischöfe waren mit ihrer Meinnungsbildung über diese konkrete Auswahl zwischen den drei verschiedenen Varianten des Hilfeplans freilich noch nicht am Ende. In Lingen ging es vorwiegend um die Grundsatz-entscheidung zu einem solchen Plan im Sinne eines neuen Angebotes für eine gemeinsame Lösung.
Der verlangte Zusatz „Diese Bescheinigung kann nicht zur Durchführung straffreier Abtreibungen verwendet werden" hat uns weniger in der Sache gestört. Wir selbst hatten ja schon formuliert: „Die Aushändigung dieses Beratungs- und Hilfeplans bedeutet keinerlei Akzeptanz eines Schwangerschaftsabbruchs." Der Papst wollte noch fordernder und noch deutlicher sprechen. Durch den Zusatz „Diese Bescheinigung kann nicht zur Durchführung straffreier Abtreibungen verwendet werden" wird die Dringlichkeit eines Einsatzes für das Leben auch sprachlich bis zum äußersten gesteigert. Der Weg unserer bisherigen Äußerungen bis zu dieser Aussage ist nicht so weit, wie man vielleicht annehmen möchte. Darum konnten wir dem Zusatz zustimmen.
Vor allem muß nun deutlich gesehen werden, daß wir auch mit diesem Zusatz in der gesetzlichen Schwangerenkonfliktberatung bleiben wollen und bleiben können. Der Apostolische Stuhl teilt diese Einschätzung. Der Verbleib und die größtmögliche Eindeutigkeit im Einsatz zugunsten des ungeborenen Lebens war ja das Hauptziel, das eine große Mehrheit der Bischöfe über Jahre hinweg immer wieder angestrebt hatte. Dieses Ziel haben wir erreicht.
Mit der sehr hohen Einmütigkeit, mit der wir unsere „Erklärung" beschlossen haben, haben wir auch weitgehend die Bitte des Heiligen Vaters realisiert, die Einheit in der Bischofskonferenz wieder zu stärken, die für uns selbst freilich nie so fundamental gefährdet war, wie es von außen erscheinen konnte. Daraus erklärt sich auch die sehr sachliche und objektive Atmosphäre unserer Beratungen in Würzburg-Himmelspforten.
Wir sind uns bewußt, daß der Zusatz „Diese Bescheinigung kann nicht zur Durchführung straffreier Abtreibungen verwendet werden" Unbehagen, ja auch Unverständnis verursachen kann. In der Beratungssituation kann er in einzelnen Fällen Probleme hervorrufen, die eigens bewältigt werden müssen.
Für den staatlichen Rechtsbereich bedeutet der Zusatz nicht, daß eine solche Bescheinigung das Schwangerschaftskonfliktgesetz einfach unterläuft, gar „aushebelt" oder einzelne Bestimmungen in einem rechtlichen Sinne außer Kraft zu setzen versucht. Wir wollen mit aller Klarheit feststellen, daß es eine moralische Unmöglichkeit ist, den zum Lebenserhalt bestimmten Beratungsnachweis zugleich im Zusammenhang einer Abtreibung zu benutzen. Die Kirche ist der Überzeugung, daß sie eine solche letzte, ethisch orientierte Zuspitzung im Sinne einer wirksamen Aufforderung vornehmen darf und muß.
Das Schwangerschaftskonfliktgesetz erklärt in § 3: „Die Ratsuchenden sollen zwischen Beratungsstellen unterschiedlicher weltanschaulicher Ausrichtung auswählen können." Gerade inmitten der weltanschaulichen Pluralität muß die Kirche ihre Grundüberzeugungen in Wort und Tat mit einem klaren Profil bezeugen. Dieser Einsatz für den Lebensschutz deckt sich mindestens im Zielbereich mit dem Auftrag, den auch der Staat von der Verfassung her hat. Außerdem entspricht es der Stellung der Kirche in unserem Land, das ihr verfassungsmäßig eingeräumte Selbstbestimmungsrecht innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes wahrzunehmen. Dieser Handlungsspielraum umfaßt auch den ganzen Bereich der kirchlichen Caritas, einschließlich der Fachverbände, und damit auch die Beratung schwangerer Frauen. Hier müssen sich Staat und Kirche in ihrer jeweiligen Zuständigkeit und Eigenständigkeit respektieren. Dies gilt auch für besonders zugespitzte Formulierungen, die im Grunde jedoch nur das bisher schon Gesagte bestätigen. Dies muß zumal möglich sein in einer Zeit, in der das gesellschaftliche Bewußtsein hinsichtlich des notwendigen Lebensschutzes zunehmend geschwächt ist (vgl. z.B. Abtreibungsstatistik, Verfassungsgerichtsurteile, Spätabtreibungen, RU 486).
Wir bitten die staatlichen Instanzen um ihr Verständnis. Kann jemand dem kirchlichen Beratungswesen und den katholischen Beratungsstellen die Anerkennung im Rahmen der gesetzlichen Schwangerschaftskonfliktberatung verwehren, obschon der kirchliche Beratungsnachweis alle gesetzlich vorgeschriebenen Merkmale aufweist? Es wäre ein Widerspruch, wollte man sich ausgerechnet von einem Beratungsträger, der wie die Katholische Kirche das grundgesetzlich verankerte fundamentale Verbot der Abtreibung („Rechtswidrigkeit") unzweideutig bezeugt, durch Mißachtung seiner hoch anerkannten Beratungsstellen distanzieren.
Der Gesetzgeber muß auch selbst seine Verantwortung dahingehend überdenken, daß er nämlich das Beratungskonzept als Erfüllung seiner Schutzaufgabe versteht und daß dieses Konzept doch zugleich auch die Tür zur Abtreibung öffnet. Das Verfassungsgerichtsurteil vom 28. Mai 1993 und das Schwangerschaftskonfliktberatungsgesetz vom 21. August 1995 verlangen vom Staat ohnehin die ständige Überprüfung, ob auf diesem Weg die Aufgabe erfüllt werden kann, die Abtreibungszahlen zu senken.
Im äußersten Fall werden die Bischöfe bei einer ihrer Meinung nach nicht gesetzeskonformen Benachteiligung der katholischen Beratungsstellen überlegen, ob sie dann nicht den Rechtsweg beschreiten müssen.
Wie soll es weitergehen?
Wir werden nach einigen rechtlichen, administrativen und finanziellen Überprüfungen möglichst bald den neuen Beratungsnachweis mit aufgezeigten Hilfszusagen einführen, voraussichtlich zum 1. Oktober 1999. Der Papst erwartet eine praktische Umsetzung auf jeden Fall bis zum Ende des Jahres.
Wir bitten darum, die Auseinandersetzung über den Papstbrief und die Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz mit dem Blick auf gemeinsame Ziele zu führen, d.h. die Förderung der Lebenschancen für die ungeborenen Kinder und ein erhöhtes Angebot an Hilfen für die schwangeren Frauen.
Wir werden mit den verantwortlichen staatlichen Instanzen Kontakte aufnehmen und den neuen Beratungs- und Hilfeplan besprechen.
Die Kirche wird immer eine beständige Sensibilität bewahren nicht nur in der Frage des Lebensschutzes, sondern auch in der Frage, ob der jeweils gewählte Weg und die Mittel dafür optimal geeignet sind.
Wir wollen alle diese Fragen schon in diesen Tagen vor allem auch mit den Beraterinnen und den Trägern der Beratungsstellen besprechen.
Unsere Frage ist nicht das Problem einer angeblich rückständigen Kirche. Wir haben den Mut, uns mit dem unzureichenden Schutz für das Leben der ungeborenen Kinder nicht abzufinden. Wenn dies „typisch katholisch" erscheint, betrachten wir dies eher als eine Auszeichnung. Wir wissen, daß zwar viele mit uns wegen dieser Verlautbarungen und Entscheidungen hadern, aber wir erhalten auch viel Zustimmung innerhalb und außerhalb der Kirche.
Der Lebensschutz ist eine ganz vordringliche gesellschaftliche Grundaufgabe, denn Leben ist das höchste irdische Gut. Ein altes jüdisches und auch sonst verbreitetes Sprichwort sagt: „Wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt." In diesem Sinne verstehen wir unsere Entscheidung als eine Zukunftsaufgabe ersten Ranges, die nicht nur Gesellschaft und Staat, sondern auch die Beratungsstellen anderer Träger herausfordert.
© Bischof Karl Lehmann, Mainz
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz