"Neuen Wein füllt man in neue Schläuche" (Mt 9,17)
Die notwendige Erneuerung der Kirche
I. Die beiden vorausgehenden Besinnungen führen folgerichtig zum heutigen Thema. Jesus hat uns mit seiner Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft "eine ganz neue Lehre mit Vollmacht" (Mk 1,27) gebracht, die wegen ihrer bleibenden Neuheit imstande ist, auch radikale Herausforderungen einer anderen Zeit zu bestehen. Darum ist die Suche nach den jeweiligen "Zeichen der Zeit" (Lk 12,56) und nach ihrer Deutung im Lichte des christlichen Glaubens eine stetige Aufgabe der Kirche und der Christen.
Bei dieser Unterscheidung der Geister kommt es aber darauf an, daß die Sichtweisen und die Instrumente zur Unterscheidung der Zeichen der Zeit tauglich und scharf bleiben. Wenn vor allem der Kirche die Auslegung der Botschaft Jesu hinsichtlich der jeweiligen "Zeichen der Zeit" aufgetragen ist, dann muß sie selber als Gemeinschaft und als Institution genügend in der Lage sein, diese Herausforderung der Unterscheidung mit vollen Kräften auf sich nehmen zu können. Die Kirche muß der explosiven Kraft des Evangeliums Jesu entsprechen, um sie in eine jeweils neue Zukunft vermitteln zu können. Ob die Kirche diese Fähigkeit hat und unter welchen Bedingungen sie diese entfalten kann, steht nun als weitere Frage zur Erörterung an.
Viele Zeitgenossen haben die Antwort für sich bereits gegeben. Sie sehen vor allem in der Institution Kirche geradezu die Verhinderung, daß Jesu Botschaft in dieser Zeit Herz und Sinn der Menschen gewinnen kann. Dieses Urteil, das mitunter sehr hart sein kann, hat nicht wenige bis zum Austritt aus der Kirche gereizt. Es verbindet sich nicht selten freilich auch mit allgemein gesellschaftlichen Trends, so z.B. mit einer skeptischen Einstellung zu fast allen Großinstitutionen unserer Gesellschaft. Man meint, diese wären von Hause aus lahme Tanker, die nicht mehr auf die Zeichen der Zeit reagieren können, weil sie sich viel zu sehr mit sich selbst beschäftigen und immer zu spät kommen.
Lassen wir einmal diese Einstellung vorläufig stehen. Vielleicht kann man von einer grundlegenden Sicht her diese Situation etwas entspannen. Jedenfalls fordert das Evangelium eine hohe Bereitschaft des Christen, die Neuheit des christlichen Glaubens nicht aufs Spiel zu setzen und sie in ihrer einmaligen und unvergleichlichen Explosivität zu bewahren. Aussagen dieser Art scheinen auch zu den zweifellos authentischen Worten Jesu zu gehören. So sind uns z.B. bei allen Synoptikern die Bildworte vom neuen Flicken und vom jungen Wein überliefert. Auch wenn sie in der exegetischen Diskussion und auch in den jüngeren Kommentaren eine merkwürdig geringe Rolle spielen, sind sie höchtst aufschlußreich, gerade auch in ihren verschiedenen Gestalten bei Markus, Matthäus und Lukas. Wir werden später darauf zurückkommen. Jedenfalls werden wir gewarnt, das spannungsvolle Verhältnis nicht zu beachten. Das Alte gehört zum Alten, das Neue zum Neuen. Wie immer die Bildworte orientiert sind, so geht es um eine Stoßrichtung vom Neuen gegen das Alte. Jesus greift ein bestimmtes Geschehen aus dem Alltagsleben auf - hier sind es Klugheitsregeln - und gibt es mit äußerster Prägnanz wieder, um auf diese Weise die Hörer zu einer unverkürzten, vollen Konfrontation mit der Botschaft der anbrechenden Gottesherrschaft zu bewegen. Darum sagt er in einem entfernten Zusammenhang mit der Frage, ob auch die Jünger Jesu fasten sollten: "Niemand setzt ein Stück neuen Stoff auf ein altes Kleid; denn der neue Stoff reißt doch wieder ab, und es ensteht ein noch größerer Riß. Auch füllt man nicht neuen Wein in alte Schläuche. Sonst reißen die Schläuche, der Wein läuft aus und die Schläuche sind unbrauchbar. Neuen Wein füllt man in neue Schläuche, dann bleibt beides erhalten." (Mt 9, 16f; Mk 2, 21f; Lk 5, 36ff)
Vor diesem Hintergrund, dem Jesuwort selbst, fragen wir, wie die Kirche sich heute erneuern muß, damit sie diese unverbrauchbare Ursprünglichkeit und Frische des Evangeliums der Welt wirksam und glaubwürdig vermitteln kann.
Wir fangen nicht unmittelbar bei der Kirche an, obwohl sie zuerst und zunächst gemeint ist. Sie steht nicht in sich und für sich allein, sondern ist stets über sich hinausverwiesen, auf den dreifaltigen Gott und die Nöte des Menschen in aller Welt. Also geht es zuerst um den beständigen Aufbruch der Kirche auf Gott hin.
Unsere heutige Lebenswelt ist durch eine hohe Spezialisierung und Arbeitsteilung gekennzeichnet. Die einzelnen Bereiche haben eine sehr hohe Selbständigkeit erreicht und brauchen so etwas wie "relative Autonomie" in einem hohen Maß. Kein Sachbereich nimmt hin, daß der andere ihm hineinredet. So sind Wirtschaft, Sport, Kultur und Politik eifersüchtig selbständige Bereiche, obwohl es dazwischen allerhand ungereimten Filz gibt. Die Kirche hat in diesem System zunächst höchstens den Platz, für "die letzten Fragen" eine Art von Dienstleistung anzubieten, wenn es einer in unserer Warenwelt verlangt. Aber so ist sie ein Angebot neben anderen.
Dies ist für die Kirche lebensgefährlich. Man kann sie nicht zu irgendeiner Spezialität im modernen Leben domestizieren. Im Gegenteil, sie muß die ständige Einkapselung der einzelnen Lebensbereiche stören und muß die Spur offenhalten zu mehr als nur diesem und jenem, nämlich zum Ganzen der Welt, ja zum ganz Anderen. Sie muß beunruhigen und manchmal auch ärgern, sie gibt sich nicht damit zufrieden, daß wir die Welt über unseren Köpfen schnell abschließen und uns damit zufriedengeben.
Die Kirche darf sich darum bei aller Gleichzeitigkeit mit unserer Gegenwart und in aller Offenheit zu den Möglichkeiten dieser Welt, z.B. den modernen Kommunikationsmitteln, nicht breitbeinig und nur auf die eigenen Interessen gerichtet in unseren Gesellschaften niederlassen und einnisten. Sonst gerät sie in Gefahr, sich nach den Gesetzen der Organisationsbildung ähnlich zu verschließen wie andere Institutionen. Die Kirche ist etwas ganz anderes. Sie ist nicht aus sich selbst erklärbar. Dies zeigen schon viele Bildworte für sie: Sie ist Aufgebot Gottes, Volk Gottes, Haus Gottes, Leib Christi, Tempel des Heiligen Geistes. Darum ist sie trotz ihres hohen Alters und auch ihrer Gegenwart in der Geschichte leicht gebaut, "Zelt Gottes unter den Menschen", sie labt sich nicht an den Fleischtöpfen Ägyptens und darf sich nicht willfährig vielen zivilisatorischen Segnungen ergeben.
Freilich ist damit nicht gemeint, daß die Kirche keinen eigenen Ort und keine Selbständigkeit im Unterschied zu anderen Organisationen hat. Sie darf nicht leichtfüßig überall hin- und hertänzeln, überall sein und nirgends, weil sie überall nippt, aber nirgends wirklich einen ureigenen Auftrag bezeugt und ihm treu ist. Sie muß stets in sich selbst, d.h. aber in dem doppelten Überschwang gründen, von dem die Rede war: Hingabe an Gott und von ihm her Einsatz für die Menschen.
Dies ist nicht leicht. Denn die Rahmenbedingungen des heutigen Lebens, wo eben auch die sichtbare Kirche ihren Platz hat, verleitet und verführt zu einer solchen schwebenden Lebensweise, die sich sehr rasch an wandelbaren Bedürfnissen und Interessen orientiert. So ist es auch folgerichtig, daß die Kirche in ihrer gesellschaftlichen Erscheinung, wo sie mit Bekanntem vergleichbar ist, gleichsam nur an ihrer Außenhaut wahrgenommen und gemessen wird. Dies kommt daher, daß sie immer wieder in allgemein-gesellschaftlich, soziale und politische Zusammenhänge gerückt wird. Sie selbst, in ihrem eigenen Auftrag, interessiert viel weniger und erscheint auch seltener. Das Politische ist mehr und mehr die Klammer, unter die alles versammelt wird. Je weniger man das Leben der Kirche in ihrem Bereich, ja in ihrer Mitte und in ihrem Kern kennt, umso plausibler sind diese Perspektiven.
Ich bin fest überzeugt, daß dies eine ganz ungenügende Sicht von Kirche ist, die auch deswegen so schädlich ist, weil sie die Tiefendimension des Lebens der Kirche ziemlich ausblendet. Als Bischof habe ich die große und seltene Chance, das vielfältige Leben der Kirche in allen Dimensionen von inner her kennenzulernen: die Sorge um schwerstbehinderte Kinder, die vielen verschwiegenen Gespräche in der Beratung und in der Seelsorge, der Einsatz zahlloser Menschen für das Wohl und das Heil bedrängter Menschen in nah und fern, der Dienst für Gott und stellvertretend vor ihm für die Welt in Lobpreis und Anbetung. Wir müssen vielmehr darum kämpfen, auch wenn es oft vergeblich scheint, die Wahrnehmung des Menschen, vor allem der Medien gegen den Strich zu bürsten und unermüdlich Spuren aufzudecken, die das vielschichtige Leben der Kirche wenigstens anzeigen. In einer Zeit, wo auch viele Christen keinen lebendigen Kontakt zur Kirche haben, ist dies eine Überlebensfrage.
Entsprechend muß die Kirche hellhörig, wachsam und selbstkritisch bleiben. Sie muß sich immer wieder fragen, wo ihre Aktivitäten und Sorgen so selbstbezogen werden, daß Vorurteile dieser Art, sie drehe sich nur um die eigene Achse, auf der Hand liegen. Sie muß also immer wieder gegen die eigene Nabelschau ankämpfen. Dies ist nicht so leicht. Nicht selten wird einem der Stempel von außen aufgedrückt. Aber auch notwendige Auseinandersetzungen, wie z.B. die Diskussion um die Schwangerschaftsberatungsstellen, haben uns hier trotz des hohen Rangs dieses Einsatzes auch in dem erwähnten Sinne geschadet. Dies hat Konsequenzen für die Art und Weise, wie die Kirche heute solche unvermeidlichen Auseinandersetzungen führen und entscheiden muß.
Ich bin fest überzeugt, daß die Kirche ein tiefes, geistliches Schwergewicht hat und letztlich aus diesen vielen Kräften lebt. Aber dies wird eben nicht selten bis zur Unkenntlichkeit verstellt - oft genug durch uns selbst. Gerade darum habe ich in letzter Zeit ganz bewußt die absolute Priorität der Gottesfrage in den Vordergrund gestellt. Wir können nur gesunden, wenn wir alles in diese letzte Tiefe zurückverfolgen. Dies ist das Einzige, was Kirche selbst und keine Macht in der Welt sonst unersetzlich bezeugen kann. Deshalb darf sie nicht vor dieser einzigen Aufgabe flüchten und sich in tausenderlei Dinge hineinziehen lassen.
Gerade heute ist Gott keine Selbstverständlichkeit. Dies ist auch die Chance eines Neuanfangs. Gott kann nie selbstverständlich werden. Es ist jedoch ungemein schwer, in diese Zone vorzustoßen. "Über beinahe alles ist mit dem intelligenten Zeitgenossen zu reden, nur nicht über ein metaphysisches Problem. Man spürt allgemein eine Scheu, über derlei zu sprechen, die nicht ganz geheuer ist. Fluchend, blasphemisch, tabuverletzend darf man sich jederzeit auslassen. Aber die ernste Überzeugung stößt ab, und macht verlegen wie eine üble Zote. Die satirische Intelligenz hat hier ihre Schamgrenze." (B. Strauß, Gedankenfluchten, Frankfurt, 1999, S. 21)
Wer tief in sich selbst, d.h. in Gott, wurzelt, ohne es immer hinauszuposaunen, der hat auch eine Chance, weit über sich hinauszugehen. Bäume, die tief gründen, werden weniger entwurzelt, auch wenn sie weit ausgebreitete Zweige haben. Der Christ muß daher heute den Mut haben, mit dem scheuen und unsicheren, ja skeptischen und fast ansprechbar erscheinenden Zeitgenossen über den fernen Gott in das Gespräch zu kommen. Es gibt ihn ja. Wir haben beste Traditionen der Bibel verleugnet, wenn wir immer nur vom offenbaren, vom sonnenklaren Gott reden. Von Anfang bis zum Ende ist er - sonst wäre er nicht Gott - geheimnisvoll, rätselhaft und verborgen, angefangen von dem Wort des Exodus bis zum Schandmal des Kreuzes. Wenn wir nicht immer wieder selbst die Erfahrung des unnahbaren und des fremden Gottes machen, können wir nicht glaubwürdig von Gott reden. Gottesschwund und Gottesfinsternis, Gottesentzug und Gotteskrise bestimmen gewiß tiefer das Klima unserer Zeit, aber sie offenbaren eine unausgelotete Tiefe und eine nicht beantwortete Frage. Dies ist dem Glaubenden nicht fremd, der gerade bei der Erfahrung des unsagbaren nahen und seligen Gottes um die Verborgenheit, das Sichentziehen, das Tasten nach ihm und die endlose Klage weiß. Gerade die Großen des Geistes wissen sehr gut um den schweigenden und prüfenden Gott, den wir in der dunklen Nacht des Glaubens, in der Trockenheit der Wüste und in der Wortlosigkeit des Schweigens suchen. Johannes vom Kreuz und Teresa von Avila, Edith Stein und Simone Weil sind unersetzliche Begleiter aller Gottsucher.
Es ist wie bei Freunden, die man lange nicht gesehen hat. Wenn sie nach langer Zeit wieder aus der Fremde auf uns zukommen, ist das Glück der Begegnung umso größer. Wahrscheinlich haben wir auch eine so geringe Erfahrung mit dem nahen und dem fernen Gott, weil wir uns auch den eigenen Abgründen und den Verlorenheiten unseres Lebens, aus denen wir uns nicht selbst befreien und retten können, so wenig stellen: Schuld und Leid, Krankheit und Tod. Und gerade in solchen Situationen darf unser Glaube auch Leib und Seele, ein ganzheitliches Ringen nicht verschmähen, wenn man in der Klage bis in das Mark erschüttert wird, wo man ganz ähnlich ist verglühter Asche und die Seele bis zum Tode betrübt ist. Wie dünn und brüchig, pseudo-intellektuell und herzlos ist unser Glaube oft geworden. Nie sollten wir den Kampf Jakobs mit Gott vergessen. Erst im Morgengrauen lassen die beiden voneinander, und Jakob erhält auch nur den göttlichen Segen, wenn er ein Mahnmal für immer aus diesem Kampf mitnimmt. Ohne Kampf kein Preis. Warum soll das gerade bei Gott nicht gelten? "Nun fragte Jakob: Nenne mir doch deinen Namen! Jener entgegnete: Was fragst du mich nach meinem Namen? Dann segnete er ihn dort." (Gen 32,30)
Gott kommt uns nur ganz und neu entgegen, wenn wir alles, was uns auf dem Herzen liegt, in unseren Streit mit ihm hineinnehmen. Er ist nicht Gott und kann es für uns auch nicht bleiben, wenn wir ihm nicht alle Fragen stellen, die uns bedrängen und die nur er beantworten kann. Dann kann sogar Vertrauen wachsen mitten in der Angst. "Voll Vertrauen war ich, auch wenn ich sagte: Ich bin so tief gebeugt." (Ps 116, 10)
Ein solches Ringen lebt in jedem Menschen, auch wenn es sich nicht so leicht enthüllt. Wir müssen alles tun, damit die Menschen auf vielen Weisen merken: "Es ist lachhaft, ohne Glauben zu leben" (B. Strauß, Gedankenfluchten, Frankfurt 1999, S. 22)
Es kommt im Glauben immer wieder auf den Einzelnen an. Dies ist kein später Nachklang der heutigen gesellschaftlichen Individualisierung. Der Glaube hat immer schon den Menschen aus der anonymen Gesellschaft oder gar Masse herausgerufen und ihn durch die Glaubensentscheidung zu einer persönlichen Stellungnahme aufgefordert. Wenn wir heute davon ausgehen, daß sich das, was man manchmal etwas oberflächlich "Volkskirche" nennt, radikal wandelt, so beruht dies auf der Erfahrung, daß man heute und in Zukunft viel mehr ein persönlich überzeugter und entschiedener Christ sein muß, um eine aktive Mitgliedschaft auf Dauer überhaupt durchhalten zu können. Dabei will ich keinen Zweifel lassen: Auch früher mußte sich der einzelne Christ in vielen Situationen des Zeugnisses persönlich durchringen. Selbst wenn die Rahmenbedingungen für ein ziemlich homogenes Glaubensbekenntnis günstig waren, war der Einzelne doch immer wieder zum persönlichen Bekenntnis herausgefordert. Heute ist dies noch viel wichtiger, da der Einzelne durch manche Widerstände und Anfechtungen hindurch seinem Glauben treu bleiben muß. Er muß selbst immer wieder Mittel und Wege finden, um - gegen den Strom schwimmend - an seinen Grundüberzeugungen festzuhalten. Der Einzelne muß heute so etwas sein wie ein Partisane Gottes, der durch diese vielfältige Front hindurch sich behauptet.
Natürlich hat die Kirche immer wieder von der Geburt bis in den Tod dem Einzelnen beigestanden und ihn im Glauben ermutigt. So habe ich selbst auch immer wieder das Leitwort verstanden, das ich über meinen bischöflichen Dienst der Heiligen Schrift entnommen habe, nicht zuletzt dem heiligen Paulus: "Stehet fest im Glauben". Dabei geht es nicht nur um ein treues Beharren, sondern um ein aktives Treubleiben, das nur durch Vorwärtsverteidigung, also offensives Zeugnis, und Vertiefung des eigenen Glaubens möglich ist. Diese Befähigung ist in besonderer Weise die erste Aufgabe der Kirche für die Zukunft. Wir haben heute vielleicht doch demgegenüber zu sehr die Pflege der Organisation, das Funktionieren aller Räte und Gremien und die Verteidigung der institutionellen Positionen im Auge. Es wird darauf ankommen, daß wir viel mehr die Glaubensbereitschaft des Einzelnen stärken, damit er in der Situation, in der er lebt und arbeitet, ein aufrechter Zeuge bleiben kann, der seinen Glauben kennt und ihn aufrichtig auch gegen Einwände verteidigen und mitteilen kann.
Dies ist auch darum wichtig, weil das Amt mit allen Einrichtungen und Organisationen der verfassten Kirche längst nicht alle Orte einer Weitergabe des Glaubens erreichen kann. Dies ist kein Mangel, sondern es ist vielmehr die angemessene Struktur. Das Christsein des Einzelnen hat eine höchste Würde und ist schlechterdings unersetzlich. Diese stärkere Betonung des Gemeinsamen Priestertums bedeutet dabei keine Schwächung des Amtes, sondern das Amt ist ja ohnehin nur dazu da, um die Schwestern und Brüder zu stärken. Man muß sich auch fragen, ob manche Initiativen vor allem der Laien im 19. und 20. Jahrhundert, besonders im Zeugnis und im Apostolat, in der Welt relativ selbständig tätig zu sein, wieder an Ansehen gewinnen muß. Historiker und Sozialwissenschaftler haben immer wieder auf eine mächtige Verkirchlichung und Veramtlichung von Verbänden und Vereinen hingewiesen, die die notwendige Flexibilität manchmal auch behinderten. Selbstverständlich ist diese größere Unabhängigkeit und Beweglichkeit nicht dazu da, um zur verfassten Kirche in Gegensatz oder Spannung zu treten.
Wenn hier vom Einzelnen und damit auch z.B. von einer Intensivierung der Individualseelsorge und, wie man heute gerne sagt, der Wegbegleitung die Rede ist, so ist damit die Bildung überzeugter Kleingruppen und Glaubensgemeinschaften nicht ausgeschlossen, sondern mitgemeint. Sie dienen demselben Ziel, nämlich einer lebendigen Regenerierung der Gemeinden und anderer Gemeinschaftsformen des Glaubens.
Wenn diese Betonung des Einzelnen am Ende nicht doch in eine sich verschließende Abkapselung münden soll, dann bedarf es noch eines weiteren Schrittes. Man darf die Gefahr eines solchen Rückzugs in eine Individualität, die sich selbst genießt, und in die wohlige Nestwärme kleiner Gemeinschaften nicht übersehen. So sehr ich die Funktion wahrer Vereinzelung unterstreichen möchte, so sehr muß auch die Gefahr eines Absturzes in falsche Verhaltensformen vor Augen stehen.
Individualität im christlichen Sinne zielt nicht auf das runde Ich allein. Wenn dem Einzelnen eine besondere originelle Fruchtbarkeit und Besonderheit zukommt, so muß er bereit sein, dies immer wieder dem Ganzen zur Verfügung zu stellen. Das Charisma ist zunächst immer gefährdet, daß es seine Besonderheit auf die Spitze treibt. Es muß ja auch seiner unableitbaren Sendung treu bleiben. Dies kann manchmal für Aussenstehende den Anschein des Bornierten und Extravaganten annehmen. In Wirklichkeit muß sich jedoch auch jedes Charisma der Kreuzesnachfolge bewußt bleiben. Es ist das Geheimnis des Weizenkorns, das nur fruchtbar wird, wenn es stirbt. Das Charisma muß bereit sein, seine Tendenz zu Hofierung seiner selbst immer wieder zu durchkreuzen und sich vorbehaltlos und selbstlos dem Dienst am Ganzen zur Verfügung zu stellen. Die christliche Auffassung von Person ist nämlich nicht die Absolutsetzung der Individualität, sondern die Einmaligkeit des Einzelnen ist bereit, durch den Verzicht auf eigene Selbstdarstellung sich in ein Ganzes hingebend einfügen zu lassen. Nur so bleibt das Ganze lebendig. Nur so bleibt es reich. Aber auch nur so erschöpft sich der Einzelne nicht in einer eitlen Selbstgefälligkeit, sondern wird im Durchgang durch Verzicht und Hingabe fruchtbar für andere.
Wir brauchen dieses Wechselspiel einer erhöhten und vertieften Individualität im Glauben und zugleich einer noch größeren Bereitschaft des Sich-Einfügens in eine umfassendere Gemeinschaft. Es darf auch nicht verschwiegen werden, daß dies nicht selten einen strengen Gehorsam verlangt und auch immer wieder in die Kreuzesnachfolge ruft. Denn die großen Heiligen belegen uns in Vergangenheit und Gegenwart, daß man sein Ur-Eigenes, wenn es ein solches gibt, nicht ohne Verzicht und Passion in die Gemeinschaft des Glaubens einbringen kann.
Dieses Lebensgesetz bestimmt alle Gemeinschaftsformen von der Ehe bis in den internationalen Austausch im Raum der Kirche. Es gilt aber vor allem für das Leben der Familie. Gerade in diesem Kontext dürfte die Erneuerung der Familie zu den ersten Prioritäten der Kirche nach der Jahrhundertwende bzw. Jahrtausendwende gehören. Dabei darf man nicht romantisch und nostalgisch früheren Formen bloß nachlaufen. Jede Generation muß auf ihre Weise die Lebensform "Ehe und Familie" als ihr Glück wiederentdecken, bestätigen und nach vorne hin ausfüllen. Dazu sind gerade junge Menschen aufgerufen. Hier muß die Kirche in weit höherem Maße jene Wegbegleitung leisten, von der die Rede war. Unsere Ehevorbereitung ist im allgemeinen zu spät, zu schmal und erfaßt nur wenige. Wir kommen ohnehin meist auch zu spät, wenn wir die Begleitung auf Situationen der Krise oder gar des Scheiterns beschränken. Auch hier haben Familiengruppen und wechselseitige Begleitung ihren guten Sinn.
Dies scheinen mir einige wichtige Akzente beim künftigen Weg der Kirche in das nächste Jahrtausend zu sein. Es gibt viele Themen, die zu diesem Programm einer Erneuerung der Kirche gehören. Sicher werden viele ein Wort vermissen zu den viel besprochenen "heißen Eisen": angefangen von der Gestaltung der menschlichen Sexualität (einschließlich der Homosexualität und neuer Lebensformen) über die Wege zum geistlichen Amt bis zum Verhältnis der Ortskirchen zur Weltkirche. Aber wir kommen nicht zu einer angemessenen Lösung dieser Aufgaben, wenn wir nicht die fundamentale Erneuerung wagen, von der die Rede war. Denn sie ist die Voraussetzung und das Fundament vieler einzelner Reformversuche.
Wahre Reform beginnt im übrigen nie beim anderen oder gar bei Strukturen und Organisationen. Man kann sie zwar von außen ändern, aber wahre Reform braucht zuerst Bekehrung. Christliche Erneuerung gibt es nur, wenn wir uns nicht selber schonen und von der Umkehr ausnehmen, sondern wenn wir uns selber drangeben und verändern lassen. Ohne diese Bereitschaft verliert die Reform auch rasch den Mut, zieht sich zurück bei ersten Rückschlägen und hat keinen genügend langen Atem. Wenn aber Erneuerung aus der Tiefe des umkehrbereiten Herzens geschieht, ist es auch nicht mehr so schwer, Ämter und Strukturen besser anzupassen.
Wir kommen nochmals zurück auf die Überschrift zu dieser Besinnung: "Neuen Wein füllt man in neue Schläuche." Das Wort scheint so evident zu sein. Wenn man aber sieht, wie bereits die einzelnen Evangelisten mit dem Bildwort umgehen, dann wird man sehr nachdenklich. Man weiß darum, daß beides, das Alte und das Neue, verführerisch sein kann.
Lukas hebt geschickt die Anziehungskraft des Alten hervor. Damit ist kein Konservatismus gemeint, der keine Risikobereitschaft zeigt, sondern das Alte ist nicht selten auch das Bewährte, dem der Mensch mehr Zutrauen schenkt. So darf man den Schlußsatz im Lukasevangelium zu unserem Bildwort nicht überschlagen. Dort heißt es: "Und niemand, der alten Wein getrunken hat, will neuen; denn er sagt: Der alte Wein ist besser." Aber natürlich ist dies kein Grund, das herausfordernde Jesus-Wort zu leugnen oder ihm seinen Stachel zu nehmen. Das griechische Wort für "besser" (chrestos) kann man auch übersetzen: "angenehmer, lieblicher, reifer". Die Evangelien muten uns immer wieder eine Auseinandersetzung zwischen dem Neuen und dem Alten zu.
Auch Matthäus hat dem Bildwort Jesu noch etwas hinzugefügt. Man hat sich also immer wieder um den Sinn dieses Wortes gekümmert. Matthäus schließt diese Passage: "Auch füllt man nicht neuen Wein in alte Schläuche, sonst reißen die Schläuche, der Wein läuft aus, und die Schläuche sind unbrauchbar. Neue Wein füllt man in neue Schläuche, dann bleibt beides erhalten." (Mt 9,17) Es gibt, so sagt die Klugheit, schon eine Unverträglichkeit von Neuem und Altem. Aber man möchte auch das, was sich im Alten bewährt hat, nicht einfach verlieren. Dennoch darf man nicht übersehen, daß es hier auch einen betonten Vorzug des Neuen gibt. Vielleicht ist sogar am Ende die Kritik noch sehr viel stärker: Wo das Neue kommt, da erweist sich, daß das Alte überholt sein kann, brüchig und vergänglich ist. Freilich zeigt das Neue in seiner Macht und Verwandlungskraft auch noch etwas anderes: Das Neue ist schließlich nichts anderes als die anbrechende Gottesherrschaft, die mitten unter uns ist, doch nicht aus dieser Welt stammt. Jedenfalls kommt man nicht mit den "alten Schläuchen" aus.
Das Evangelium verlangt den Mut zu "neuen Schläuchen". Es tut gut, wenn wir uns im Zusammenhang eines Zeitenumbruchs aufrufen lassen, die Neuheit des Glaubens zu entdecken und den Mut auch zum Neuen nicht zu verlieren. Die Kirche muß ohnehin immer mit beidem ringen. Auch dies hat uns das Evangelium schon aus einer früheren Zeit aufbewahrt, wenn es uns sagt: "Jeder Schriftgelehrte also, der ein Jünger des Himmelsreichs geworden ist, gleicht einem Hausherrn, der aus seinem reichen Vorrat Neues und Altes hervorbringt." (Mt 13, 52).
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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