"Seht, ich mache alles neu." (Apk 21, 5) Glaube und Kirche vor der Jahrtausendwende

Adventspredigten von Bischof Lehmann am 2. Advent, 5. Dezember 1999 im Mainzer Dom:

Datum:
Sonntag, 5. Dezember 1999

Adventspredigten von Bischof Lehmann am 2. Advent, 5. Dezember 1999 im Mainzer Dom:

"Warum könnt Ihr die Zeichen der Zeit nicht deuten?" (Lk 12, 56) | 
Die große Herausforderung der Gegenwart

I. Erkennen und Prüfen der Zeichen der Zeit als christliche Grundaufgabe

In unserem ersten Gang haben wir uns zu vergewissern versucht, daß der christliche Glaube, auch wenn er nun auf 2000 Jahre zurückblickt, wie kaum eine andere Religion in der Lage ist, die Frohbotschaft Jesu Christi durch den alle Grenzen immer wieder durchbrechenden Geist Gottes vielen Epochen, Kulturen und Sprachen zugänglich zu machen. Der christliche Glaube ist darum immer wieder neu zu vergegenwärtigen, auch wenn er derselbe bleibt. Er ist in besonderer Weise zukunftsfähig, und zwar nicht durch eine zuerst vom Menschen her versuchte Anpassungsstrategie, sondern von innen heraus.

Diese bleibende Neuheit des christlichen Glaubens muß freilich immer wieder gefunden werden. Dies ist nur möglich, wenn man sich den jeweiligen Herausforderungen stellt. Man möchte wissen, welche Stunde geschlagen hat. So kommt es darauf an, die Zeit anzusagen und darin die entscheidenden Herausforderungen zu entdecken und zu formulieren. Die Menschen haben immer nach Signalen und erkennbaren Merkmalen dafür gesucht. Sie haben Ausschau gehalten nach Anzeichen für die Nähe oder Ferne von Glück und Heil, Katastrophen und Unheil. Dabei war immer auch deutlich, daß es sich um Zeiten gewichtiger Entscheidungen handelt und daß man zum folgerichtigen Handeln kommen muß, solange noch Zeit ist. Die Dringlichkeit der Aufgaben hatte so immer auch Anteil an der eschatologischen Struktur der Geschichte: Was ist am meisten geboten in unserer Zeit? Und wieviel Zeit haben wir noch dazu?

Man hat sich dabei an verschiedenen "Zeichen" orientiert. Es waren besonders schreckliche Ereignisse der Geschichte, große Krankheiten und Naturkatastrophen, Sonnenfinsternis und Meteoritenfall, die den Weg wiesen. Ihre Wiederkehr war ein weiteres wichtiges Zeichen. Aber auch die Natur wurde von ihrem Schöpfer her durchsichtig auf das, was Gott in der konkreten Situation vom Menschen erwartete.

Darum haben wir schon im Neuen Testament Hinweise auf so etwas wie "Zeichen der Zeit". Jesus spricht zu einer großen Menschenmasse und möchte sie zu einer entschiedenen Umkehr aus dem Glauben führen: "Außerdem sagte Jesus zu den Leuten: Sobald ihr im Westen Wolken aufsteigen seht, sagt ihr: Es gibt Regen. Und es kommt so. Und wenn der Südwind weht, dann sagt ihr: Es wird heiß. Und es trifft ein. Ihr Heuchler! Das Aussehen der Erde und des Himmels könnt ihr deuten, warum könnt Ihr dann die Zeichen dieser Zeit nicht deuten? Warum findet ihr nicht schon von selbst das rechte Urteil?" (Lk 12, 54ff)

Das II. Vatikanische Konzil hat im Rückgriff auf diese Aussagen und andere Anregungen gefragt, wie man diese "Zeichen der Zeit" erkennen und vor allem sie beurteilen könne. Es ist nicht zufällig, daß gerade die Einführung zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute diese Frage stellt. Sie will ja betont der Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen nachgehen. So heißt es: "Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben." (GS, Art. 4; vgl. auch Art 11) "Laien und Priester sollen gemeinsam, wenn auch jeweils aufgrund ihrer Erfahrung und Kompetenz diese Zeichen der Zeit verstehen." (vgl. PO, Art 9 und AA, Art. 14)

Dies ist freilich leichter gesagt als getan, denn zwei Dinge stehen von Anfang an fest: Die "Zeichen der Zeit" sind nicht eindeutig und bleiben damit in ihrer wirklichen Bedeutung schwer interpretierbar. Darum ist es auch - zweitens - konsequent, daß man die Antwort des Glaubens auf die "Zeichen der Zeit" nicht als ohnmächtige Anpassung an das, was ist, verstehen darf, sondern es braucht eine "Unterscheidung der Geister", um zu einigermaßen klaren Kriterien zu kommen.

Wir wählen einige solche Situationen aus, die heute in besonderer Weise solche "Zeichen der Zeit" sein können. Darauf wollen wir nochmals auf die grundlegende Bedeutung der Zeichen der Zeit zurückkommen.

 

II. Kleine Auswahl heute auffälliger "Zeichen der Zeit"

Es gibt viele Zeichen der Zeit. Der Streit darüber, was wichtig ist, ist unvermeidlich. Es war nicht zuletzt Papst Johannes XXIII. selbst, der den Mut hatte, drei wichtige solcher Zeichen exemplarisch aufzugreifen: die Armut vieler Völker und ihre Entwicklung, die gleiche Würde der Frau und die Verteidigung und Durchsetzung der Menschenrechte. Man kann dies anreichern und aktualisieren, aber sicher sind es auch heute noch elementare Herausforderungen.

Ich möchte ebenfalls vier Herausforderungen für Gegenwart und Zukunft darstellen und wenigstens im Sinne einer kleiner Skizze zu erhellen versuchen, was damit jeweils gemeint ist.

 

1. Der flexibilisierte Mensch und die Personmitte

Der Mensch ist heute in viele Zwänge und Wandlungen hineingestellt. Ja oft geht es nicht um ihn, wie meist vorgegeben wird, sondern er soll bestimmten Erwartungen und Bedürfnissen entsprechen. Man möchte den Menschen haben, wie man ihn braucht. Wir sprechen z.B. von flexiblen Arbeitszeiten und sollen ihnen möglichst entsprechen. Von vielen Menschen in der Arbeit wird verlangt, daß sie offen für kurzfristige Veränderungen sind und ständig Risiken eingehen. Man sieht weniger die bekannten geraden Linien einer beruflichen Laufbahn, wie in früheren Zeiten, sondern eher kurzfristige Arbeitsverhältnisse. Klassische Einstellungen und Tugenden treten eher zurück, wie z.B. Treue und gegenseitige Verpflichtung, Verfolgung langfristiger Ziele. Man spricht vom "flexiblen Menschen", der hier immer wieder nötig wird und stets wieder umgestaltet werden soll. Unsere Gesellschaft denkt im Rahmen ökonomischer Prioritäten in immer kürzeren Abständen. Wie können aber Institutionen, die selber ständig zerbrechen, Loyalitäten über den Tag hinaus einfordern? Was ist von bleibendem Wert, wenn wir in einer so ungeduldigen Gesellschaft leben?

Vielleicht können wir wenigstens die Richtung einer Antwort suchen: Wir können nicht einfach die Rahmenbedingungen unseres Lebens allein ändern. Aber wir können ein Stück gegensteuern, wenn wir die Gefahren erkennen. Die Folgen eines so auf Kurzfristigkeit und auf Elastizität hin angelegten Lebens gefährdet die Bindungen des Menschen, wo wir auf Langfristigkeit, Verläßlichkeit und stetige Entwicklung angewiesen sind. Wenn wir diese Tugenden nicht verteidigen und retten, verlieren wir viele Orte, die uns Halt geben im ziellosen Dahintreiben des Lebens. Deshalb müssen wir jene Orte verteidigen, wie z.B. Ehe und Familie, langjährige Freundschaften, das Vertrautsein mit einer Heimat.

Dies bedeutet nicht Unbeweglichkeit und Fixiertsein auf herkömmliche Bindungen allein. Aber das Pflegen solcher von Verläßlichkeit geprägter Beziehungen kann uns im Widerstand gegen eine Welt, die alles - auch den Menschen - funktional betrachtet und auflöst, beständiger und d.h. widerstandsfähiger machen. Dies ist m.E. notwendig, um dem Menschen auf Dauer Freude am Leben und Erfüllung seines Daseins zu ermöglichen. Es bedeutet vor allem aber, daß die Personwürde die Mitte des menschlichen Lebens ist. Wo aber ist sie begründet? Ich habe die feste Überzeugung, daß die Menschenwürde auf Dauer und in jedem einzelnen Fall - gegen alle Versuche jedweder Manipulation - nur gerettet werden kann, wenn die Personmitte des Menschen nicht instrumentalisiert und funktionalisiert wird, sondern wenn man ihr eine unangreifbare Absolutheit zuerkennt, die in keinen irdischen Dienst gestellt werden kann. Der Mensch darf nicht Mittel zum Zweck werden. Dies ist am Ende nur gewährleistet, wenn wir den Menschen als Ebenbild Gottes anerkennen.

 

2. Anfang und Ende des menschlichen Lebens

Der Anfang und das Ende des Lebens werden immer mehr im Mittelpunkt menschlichen Denkens und Forschens, menschlicher Interessen und menschlicher Sorge stehen. Wir spüren große Chancen, wenn es darum gehen kann, Mängel des Menschen vor oder nach der Geburt zu mindern oder gar zu beseitigen. Wer wäre nicht dankbar, wenn wir den Menschen herabwürdigende, elende Alterskrankheiten in den Griff bekommen könnten? Es gibt so viele Lasten und Bürden, die man gerne den Menschen ersparen möchte. Man denke an die Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik, die freilich auch in ihrer Zweideutigkeit nicht verkannt werden dürfen. Man glaubt dadurch, jeder Minderung unseres physischen Lebens und den Lebensmöglichkeiten überhaupt entrinnen zu können, denn im Notfall kann man ja z.B. durch Abtreibung das Eintreten solcher Lasten verhindern. Hier bildet sich eine Mentalität heraus, die nur allzu gerne wiederum - wir müssten ja durch unsere eigene Geschichte gewarnt sein - Lebenswertes und Lebensunwertes voneinander unterscheidet und sich zum Richter über Tod und Leben aufspielt.

Vieles ist verführerisch. Hinzukommt, daß man offenbar den Forschertrieb, der etwas ausprobieren kann, nach aller Erfahrung wenig hindern kann, von solchen Manipulationen abzulassen. Wenn wir hier nicht schon am Anfang aller Versuche radikale Verbote setzen, z.B. etwa bei Eingriffen in der menschlichen Keimbahn, dann werden wir später bei den weiteren Folgen nicht mehr Herr. So darf man gewiß auch nicht über Hunderttausende getöteter Embryonen und Foeten hinwegsteigen, um einen guten Zweck zu verfolgen.

Zum Respekt vor den Menschen gehört nicht nur die Wahrung einer abstrakten Menschenwürde, die es ja auch so nicht gibt. Wir fallen nicht auseinander in Geist und Materie, so daß der Geist zu achten ist, die Materie aber schrankenlos zu bearbeitender "Stoff" ist. Gerade beim Menschen darf dies nicht in einen Dualismus ausarten. Denn der Leib und alle leiblichen Dinge sind gewiß in abgestufter Form konkreter, oft auch symbolischer Ausdruck des Geistes. Wenn man beide Dimensionen bis zur Unkenntlichkeit auseinandertrennt, wird man selber irgendwie schizophren und hat auch vielleicht weniger Hemmungen, über das "Materielle" des Menschen zu verfügen, gleich ob es Experimente mit Behinderten oder auch Auswüchse einer an sich durchaus vertretbaren Transplantationsmedizin sind.

Man sieht an diesem Beispiel, daß man neu Abstufungen des Zulässigen erfinden muß. Eine Schwarz-Weiß-Malerei macht es sich zu leicht, weil sie hilfreiche Fortschritte verwirft oder aber einen Umgang mit Gottes Kreatur zuläßt, der nicht zu rechtfertigen ist. Unsere Einstellungen betreffen Mensch und Tier mit den jeweiligen Auswirkungen, die man nur allzu leicht z.B. an Tiertransporten unerträglicher Art und an unnötigen Tierexperimenten sieht, die auch die Hemmungen lockern im Verhältnis zum Menschen, wie man an den Menschenzüchtungen und am industriellen Mord an Menschen in unserem Jahrhundert sehen kann. Jedenfalls ist hier immer wieder den Anfängen zu wehren, so daß man im Zweifelsfall einer grundsätzlichen Skepsis den Vorrang lassen darf.

 

3. Die Würde der Frau

Die Situation und die Würde der Frau sind und bleiben ein großes Thema. Es besteht kein Zweifel, daß sich die Gesellschaft und auch die Kirchen - niemand kann sich hier ausnehmen - in Geschichte und Gegenwart viel versündigt haben am anderen Geschlecht. Hier geht es nicht nur um falsche Bilder der Geschlechter, wenn man z.B. jahrtausendelang von einer mehrfachen, biologischen, ethischen und menschlichen Unterordnung bzw. Inferiorität der Frau sprach. Dies ist im übrigen nicht - wie man oft meint - ein Kirchenproblem, sondern das falsche Weltbild des Griechen Aristoteles hatte Auswirkungen bis in die Philosophie und Biologie des 19. Jahrhunderts. Aber auch in der Praxis gibt es vom Hexenwahn bis zur Behandlung von Müttern unehelicher Kinder ein gerütteltes Maß Schuld. Niemand kann leugnen, wie viel Uneinsichtigkeit hier gesiegt hat, wo es doch gerade auch in der Bibel für den Christenmenschen nicht wenige Aufforderungen und Winke zur Höherschätzung der Frau gab und gibt.

Man darf jedoch nicht mit ähnlich unwirksamen Waffen von der anderen Seite her antworten. Es ist keine Hilfe, wenn die Frau einfach mit dem Mann verglichen und gleichgesetzt wird. Kein Zweifel: Beide haben dieselbe Würde, sind als Menschen ohne Abstriche ebenbürtig und bilden nur zusammen als Mann und Frau den einen und ganzen Menschen. Aber gleiche Würde muß nicht die gleiche Ausprägung des Menschseins bedeuten. Man soll der Frau nichts vorenthalten, was ihr menschlich zusteht. Die Emanzipation der Frau gelingt nicht, wenn man sie zu einem Mann-Weib macht. Man kommt der Frau wahrscheinlich näher und wird ihr gerechter, wenn man alles als eine eigene und unverwechselbare Ausgabe des einen und ganzen Menschseins versteht.

Ich weiß wohl, daß diese Rede vielfach mißbraucht worden ist und heute noch gefährlich sein kann. Jeder Unterschied ist oft benutzt worden, um die Andersheit unterzubewerten, anstatt darin eine gleichrangige Bereicherung zu sehen. Aber auf die Dauer ist die Zweiheit von Mann und Frau in der Einheit des Menschseins ein besserer Ausgangspunkt als eine abstrakte Gleichheit, die den Zauber des Andersseins ignoriert.

Dies ist noch ein weiter Weg. Aber es gibt heute auch in der Anthropologie der Geschlechter manche Wege in diese Richtung, jedenfalls mehr als es vor zwanzig bis dreißig Jahren der Fall war. Beherzigt man dies, dann wird m.E. die Stellung der Frau besser. Sie erscheint in ihrer Eigenheit. Vielleicht kann man so langfristig auch manche Entscheidungen der Kirche wieder besser verstehen, aber es gibt in der Zwischenzeit noch übergenug zu tun, um der Frau die volle Ehre und Würde zurückzugeben, und dies nicht nur als Mutter und/oder Jungfrau. Wir müssen uns z.B. viel mehr kümmern um das Ringen und um Hilfen für die Frauen, die täglich Familie und Beruf miteinander zusammenbringen müssen.

 

4. Das ambivalente Gesicht der Arbeit

Schon auf den ersten Seiten der Bibel hat die Arbeit ein zweischneidiges Gesicht. Sie adelt und krönt den Menschen, wenn er in der Arbeit seine Fähigkeiten und sein Können anerkennt. Wir spüren heute vielleicht sogar mehr, wie sehr zum Sinn des Lebens die Erfüllung des Menschseins auch in der Arbeit gehört. Erst der Mangel an Arbeitsplätzen und die Folgen für die Arbeitslosen offenbaren auch den menschlichen Rang der Arbeit. Zugleich zeigt das Gesicht und die menschliche Erscheinung aber auch, daß die Arbeit den Menschen auszehrt und ausmergelt. Die Arbeit ist immer auch ein Stück Fron, selbst wenn es nicht mehr die Knechtsherrschaft durch die Arbeit geben sollte. Diese Doppeldeutigkeit der Arbeit ist schon von Anfang an gegeben. Aber gerade wenn es so ist, dann können wir auch ein gelasseneres Verhältnis zu ihr gewinnen. Sie allein ist es nicht, die den Wert eines Menschen bestimmt. Wir haben keinen Respekt mehr vor dem Ideal der Stachanow-Arbeiter. Vielmehr ist Arbeit unser gemeinsames Los, Möglichkeit zur Sinnerfüllung, aber auch Möglichkeit der Selbstzerstörung, und zwar im Übermaß und im Untermaß. Darum müßte es leichter sein, die Arbeit auch zu teilen. Wir könnten so auch besser der Blick bekommen dafür, daß Arbeit nicht nur Erwerbsarbeit ist, sondern daß in unserer Gesellschaft eine neue Verantwortung entsteht für ein Unmaß von Arbeit, das nicht dem Erwerb dient, von dem wir aber alle auch leben: die Arbeit der Mütter in den Familien nicht weniger als viele Ehrenämter.

Hier können wir konkrete Solidarität einüben. Hier können wir manchen falschen Rangordnungen zum Ausgleich verhelfen, denn weder Arbeitslosigkeit noch volle Beschäftigung sagen schon alles aus über den Menschen.

Besonders die westliche Tradition des Christentums hat viel dazu beigetragen, der Arbeit den rechten Platz und genügende Anerkennung zu verschaffen. Das "Ora et labora" (Bete und arbeite)der frühen Benediktiner erinnert uns daran. Erst wenn wir die Arbeit nicht verkürzen und wenn wir sie nicht verachten, kommen wir zu dem Gleichmaß und dem Gleichmut, mit dem man sie betrachten muß: etwas Mittleres im Menschen, das uns gerade deshalb befähigen sollte, ihre Wandlungen zu bewältigen und sie in aller Nüchternheit zu betrachten.

 

III. Unterscheidung als beständige Aufgabe

Es gibt noch viele Beispiele für mehr oder weniger bekannte "Zeichen der Zeit". Ich denke an die Erziehung zu Frieden und Versöhnung, an die immerwährende Aufgabe der Hilfe zur Entwicklung der Völker in der Dritten Welt. Dazu gehören auch "Schlagworte", die ja immer ein Stück weit Bezeichnungen für zentrale Aufgaben sind, wie z.B. "Globalisierung". Hinter diesen Stichworten verbergen sich Trends, die eine große Suggestivkraft haben, in denen man aber zuerst künftig Förderliches und Problematisches unterscheiden muß. Manches kann auch als ein "Zeichen der Zeit" erscheinen, das einfach neu bedacht werden muß: Eine Gestalt des Lebens entpuppt sich auf neue Weise. Das "Zeichen der Zeit" ist dann eher schon so etwas wie ein Paradigma, ein Muster des Lebens, das verschiedene Modelle in sich enthält.

Hat man sich früher eher begeistert an der Suche nach "Zeichen der Zeit" beteiligt, so wollen heute viele die tatsächlich nicht selten inflationär verbrauchte und mißbrauchte Rede von den "Zeichen der Zeit" kaum mehr hören. Dennoch ist die damit verbundene Aufgabe unverzichtbar. Sie gehört zum zentralen Vermächtnis des II. Vatikanischen Konzils. Wir müssen nochmals neu damit beginnen.

Die Vermittlung zwischen den herausfordernden Zeichen und der Antwort des Glaubens bleibt schwierig. Die Signale der Zeit sind oft aufdringlich und laut. Sie drohen mit ihren schrillen Tönen alles andere niederzuschreien. Hinweise auf Gott und sein Wort sind jedoch leicht zu übersehen. Meist sind es unauffällige, mühsam zu entdeckende Spuren. Das Spurenlesen im Acker der Zeit will also gelernt und immer wieder neu eingeübt sein. Der diagnostische Blick und die Gabe der Unterscheidung müssen sich auf neue Weise ergänzen, ohne daß es zu einer Identität kommen kann. Es bleibt die vielschichtige und nie ganz auflösbare Spannung: Die Zeichen der Zeit können auch, manchmal neue Spuren des Heils enthalten. Aber es ist nicht zwangsläufig so. Deshalb ist dieses Spurenlesen eine zwar undankbare, aber lebenswichtige Aufgabe der Kirche. Man muß sich tief hineinbeugen in den Staub einer Zeit, aber in dieser spannenden Gegenwart gibt es auch rasch Pfade, die sich freilich bisweilen auch als Holz-, Ab- und Irrwege erweisen. Später sieht man dies nur allzu leicht. Jetzt aber kann man die Karte unserer Zeit nur auf diese Weise vermessen.

Die Kirche muß dazu imstande sein, diese Spuren lesen, wahrnehmen und aufnehmen zu können. Sonst ist sie der damit verbundenen Aufgabe und auch den damit gegebenen Risiken nicht gewachsen. Darum sprechen wir das nächste Mal notwendig von der Erneuerung der Kirche: "Neuen Wein füllt man in neue Schläuche." (Mt 9, 17)

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz