Impulsvortrag für das Mittelhessische Metall- und Elektro-Unternehmerforum am 5. Oktober 2004 in Wetzlar
Die Konstruktion moderner Wohlfahrtsstaaten, wie beispielsweise in Schweden, Dänemark, den Niederlanden und auch in der Bundesrepublik, wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. Die üblicherweise vorgebrachten Kritikpunkte zielen in erster Linie auf die erheblichen Ineffizienzen, die großen Haushaltsdefizite, die niedrigen Raten wirtschaftlichen Wachstums, die immensen Arbeitslosenzahlen und seit einigen Jahren auch die Bildungssysteme. Sie alle kennen diese Argumente.
Manche Staaten, wie z.B. die Wohlfahrtsstaaten Skandinaviens und die Niederlande, haben wesentliche Strukturveränderungen bereits zu Beginn der 1990er Jahre eingeleitet – wenngleich vor allem. mit Blick auf die Niederlande eine scharfe Kontroverse über die weiteren Schritte zu beobachten ist. Wohl auch unter dem Eindruck der Wiedervereinigung, die die Strukturdefizite vorübergehend kaschierte, hat Deutschland diese europäische Reformphase weitgehend verpasst. Nun aber befindet sich auch unser Land in einem Prozess grundlegender, schon längere Zeit überfälliger Reformen. Doch weil Deutschland erst verspätet das Notwendige zu tun begonnen hat, ist der Handlungsdruck nun umso größer, und mit ihm auch die Anpassungsschwierigkeiten. Der Ausgang der Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg sowie im Saarland, die großen Demonstrationen der vergangenen Wochen gegen die Reformen des Arbeitsmarktes, aber auch zeitgleich erhobene Umfragen machen deutlich, dass viele Menschen in den begonnenen Reformschritten die Gerechtigkeit, so wie sie Gerechtigkeit verstehen, nicht gewahrt sehen. Unabhängig davon, dass manche Reformansätze zu kurzatmig angelegt sind und dass die Arbeitsmarktreform für eine große Zahl von Menschen bittere Einschnitte bringt, muss das Verständnis von Gerechtigkeit, das viele zugrunde legen, kritisch befragt werden. Als sozial ungerecht scheint vielfach in erster Linie das empfunden zu werden, was einmal erworbene Besitzstände schmälert. Es ist wohl nicht zu leugnen, dass eine solche Denkweise den Begriff der sozialen Gerechtigkeit nicht hinreichend ausfüllt.
Sollen grundlegende Reformen gelingen, dann ist es notwendig, Klarheit darüber zu erlangen, was wirklich notwendig ist. Dabei genügt es nicht, sich an ökonomischen Daten und Zusammenhängen zu orientieren. In gleicher Weise brauchen wir auch eine Verständigung über die für die Veränderung erforderlichen Einstellungen und Herangehensweisen. Es muss stärker in den Blick genommen werden als bisher, welche Auswirkungen der Wohlfahrtsstaat auf die Einstellungen der Menschen, den sozialen Zusammenhalt und auf die menschliche Würde hat. Deshalb ist Klarheit darüber zu erlangen, in welchem Verhältnis Solidarität und Eigenverantwortung zueinander stehen müssen. Dieses Verhältnis entscheidet letztlich darüber, ob und inwieweit soziale Gerechtigkeit herrscht.
Lassen Sie mich die verschiedenen Dimensionen von sozialer Gerechtigkeit näher beleuchten; sie lehnen sich an den bedeutenden Sozialethiker Oswald von Nell-Breuning an:
Sozial gerecht ist ein Gemeinwesen, wenn es allen Bürgerinnen und Bürgern hilft beziehungsweise ermöglicht, durch ihr eigenes Handeln ihr Wohl zu erreichen. Sozial gerecht handeln Menschen, wenn sie bereit sind, in das Gemeinwesen all das einzubringen, was um des Gemeinwohls willen notwendig ist, ob es gesetzlich vorgeschrieben ist oder darüber hinausgeht. Soziale Gerechtigkeit ist nichts Statisches. Eine Gesellschaft muss sich vielmehr immer wieder vergewissern, was hier und jetzt gerecht ist.
Zunächst einmal enthält diese Definition wohl das, was die meisten unter sozialer Gerechtigkeit verstehen: Ich spreche von sozialer Gerechtigkeit als Eigenschaft eines Gemeinwesens. Doch geht es in diesem ersten Satz nicht um Leistungen allein des Gemeinwesens. Wesentlich ist, dass die Leistungen des Gemeinwesens an die Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit des Bürgers rückgebunden sind. Die Leistungen des Gemeinwesens unterstützen den Einzelnen und ermöglichen ihm, selbst dafür tätig zu werden, sein Wohl zu erlangen. Weiterhin geht es um das personale Wohl eines jeden Einzelnen, auf das das Gemeinwohl hingeordnet ist.
Die zweite Aussage betrifft das sozial gerechte Handeln des Menschen: Soziale Gerechtigkeit ist nicht nur das Merkmal eines Gemeinwesens, sondern schließt auch das Handeln von Menschen ein. So wie das Gemeinwesen ist auch jeder Einzelne gefordert, nach seinen jeweiligen Möglichkeiten zum Gemeinwohl und dadurch auch zum Wohl der anderen beizutragen – mit anderen Worten: Solidarität zu üben.
Drittens: Soziale Gerechtigkeit ist nichts Statisches. Es ist für das Verständnis von sozialer Gerechtigkeit zentral, dass die Bestimmung dessen, was sozial gerecht ist, niemals abschließend geschehen kann, sondern kontinuierlich und situationsbezogen vorgenommen werden muss. Für das politische Handeln bedeutet dies die Notwendigkeit einer fortlaufenden Analyse der sozialpolitischen Bemühungen und einer dauerhaften Bereitschaft zur Veränderung. Gerade um des angemessenen Verstehens von sozialer Gerechtigkeit, von Solidarität und Subsidiarität willen, darf man sich Reformen des Sozialen nicht verschließen.
Dass Reformen auch mit Einschränkungen für den Einzelnen verbunden sind, darf keinesfalls übersehen werden. Gerade die Kirche erwartet, dass Zumutungen auch zumutbar sind. Entscheidend ist letztlich nicht der Vergleich mit dem Besitzstand, sondern die Sensibilität für Leistungsfähigkeit einerseits und Bedürftigkeit andererseits. Ist unter diesem Blickwinkel wirklich jede Form von Eigenheimförderung unveränderbar, wirklich jeder Selbstbehalt im Gesundheitswesen unzumutbar? Absolut inakzeptabel ist aber gewiss die Tatsache, dass Kinder in vielen Fällen ein Armutsrisiko darstellen.
Damit bin ich bei den grundlegenden Strukturproblemen unseres Sozialstaats, welche der Impulstext vom Dezember 2003 unter dem Titel „Das Soziale neu denken“ benennt, den die deutschen Bischöfe im vorigen Jahr veröffentlicht haben: Zum einen die verfestigte strukturelle Massenarbeitslosigkeit und zum anderen die strukturelle Benachteiligung der Familien, wie sie auch Bundespräsident Prof. Dr. Horst Köhler in seiner Einführungsrede – übrigens mit ausdrücklichem Bezug auf den Impulstext – beschrieben hat. Ich darf auch auf die Erfurter Rede am Tag der Deutschen Einheit vor zwei Tagen (3. Oktober 2004) aufmerksam machen.
Die Konsequenz aus den Strukturproblemen unseres Sozialstaates ist: Keine der großen Säulen des Sozialstaats ist ohne tief greifende Korrekturen weiter tragfähig. Dies ist eine harte Wahrheit, die bei einigen Erschrecken und Befürchtungen hervorgerufen zu haben scheint. Der Sozialstaat genießt in weiten Teilen der Bevölkerung zu recht hohe Wertschätzung und Anerkennung. Dies nicht nur, weil sehr viele von ihm profitieren. Die Menschen wissen, dass für viele von denen, die seine Leistungen in Anspruch nehmen, der Sozialstaat die Voraussetzungen dafür schafft, das Leben eigenverantwortlich selbst gestalten und dabei auch Risiken eingehen zu können. Das muss in Zukunft – auch angesichts der dramatischen Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft steht – gewahrt bleiben. Deshalb haben wir Bischöfe uns zu Wort gemeldet und dazu aufgefordert, das Soziale neu zu denken.
Am Beginn des Impulstextes „Das Soziale neu denken. Für eine langfristig angelegte Reformpolitik“, steht eine Beobachtung: „Die Menschen machen sich Sorgen um die Zukunft unseres Landes: Die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor bedrückend hoch. Die sozialen Sicherungssysteme scheinen in der vorliegenden Form nicht mehr finanzierbar zu sein. Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte steigt immer weiter an.“ Dieser Umstand lässt nur den Schluss zu, dass Reformen in Deutschland notwendig sind. Wir müssen den großen, untereinander verbundenen Herausforderungen des demographischen Wandels, der Aushöhlung von Solidaritätsräumen wie der Familie, der anhaltenden Arbeitslosigkeit, der europäischen Integration und der Globalisierung offensiv begegnen. Das erfordert grundlegende Veränderungen unserer sozialpolitischen Strukturen, insbesondere unserer sozialen Sicherungssysteme und unseres Steuersystems. Es gilt: Wenn wir nichts ändern, keine Reformen wagen, setzen wir den Sozialstaat aufs Spiel. Wenn nichts getan wird, werden im Ergebnis die Schwachen die Leidtragenden sein, weil sie in besonderer Weise auf die Förderung durch den Sozialstaat angewiesen sind. Aus dieser Perspektive sind Reformen eine Frage der Gerechtigkeit und nicht nur aus ökonomischen Gründen notwendig.
Zu den Schwächsten, die in den Blick zu nehmen sind und die die Kirche in besonderer Weise in den Mittelpunkt stellt, zählen die nachfolgenden Generationen, die sich nicht selbst artikulieren können und denen die ungeheuren Schulden öffentlicher Haushalte und ein kollabierendes Sozialsystem zufallen. Aber auch im Blick auf die heute Aktiven gibt es Ungerechtigkeiten, die es zu bekämpfen gilt. Ich habe die schwierige Situation der Familien und die Lage der Langzeitarbeitslosen bereits benannt. Wie sind diese Ungerechtigkeiten mit der Tatsache zu vereinbaren, dass gleichzeitig die Sozialquote in Deutschland nahezu ein Drittel des Bruttosozialproduktes ausmacht? Offensichtlich ist der Sozialstaat mit seinem Finanzierungsaufwand so nicht zukunftsfähig, und trotz seines großen Verteilungsvolumens wird er denen nicht gerecht, die seiner bedürfen.
Dafür, dass diese Fehlstellungen des Sozialstaats entstanden sind und – obwohl zum Teil schon lange bekannt – nicht behoben wurden, sind in erster Linie zwei grundlegende Ungleichgewichte verantwortlich zu machen: Erstens das Ungleichgewicht im politischen Prozess zwischen gut organisierten und daher einflussreichen Interessen einerseits und schwierig oder schlecht organisierbaren, aber in besonderer Weise des Staates bedürfender Interessen andererseits; zweitens das Ungleichgewicht zwischen den aktuellen Problemen und Forderungen einerseits und den absehbaren, möglicherweise schwerer wiegenden Problemen und Forderungen der Zukunft andererseits. Hinzu kommen einige strukturelle Reformbarrieren, die Sie alle kennen: die stark korporatistische Prägung des politischen Systems der Bundesrepublik, die partikularen Interessen zu Dominanz verhilft; außerdem eine Verengung des Verständnisses von Sozialpolitik auf Verteilungspolitik, durch die ausgeblendet wird, dass vor allem Familien-, aber auch Bildungs- und Berufsbildungspolitik zukunftsorientierte Bereiche der Gesellschaftspolitik sind. Weiter können durch die heutige Verfassung unserer föderalen Ordnung Reformentscheidungen relativ leicht blockiert werden. Schließlich fehlt es an Instanzen, die weitergehend den Blick auf das Ganze und auf eine nachhaltige, zukunftsorientierte Politik richten können. Gerade dieser letzte Punkt bedeutet im Zusammenhang mit der Dominanz der Partikularinteressen einen Mangel an Rationalität in der Fortentwicklung des Sozialstaates.
In der Neuen Züricher Zeitung (Ausgabe vom 31. Juli/ 1. August 2004) hat der schwedische Ökonom Nils Karlson über die ethischen Folgen des lange Zeit vollumsorgenden – schwedischen – Wohlfahrtsstaats folgendes ausgeführt: „Der schwedische Wohlfahrtsstaat und die hohe Steuerlast, die notwendigerweise mit ihm einhergeht, haben wahrscheinlich der menschlichen Würde schweren Schaden angetan. Die meisten Schwedinnen und Schweden sind vom Staat äußerst abhängig geworden und haben weder Mittel noch Fähigkeiten, um die Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen.“ Sicher ist dies eine stark zugespitzte Aussage, die nicht leichtfertig übernommen werden darf. Ich führe sie hier dennoch an, weil darin letztlich die Freiheitsfrage zum Ausdruck kommt, die auch mich bewegt: Wie viel Freiheit wollen und sollen die Menschen wahrnehmen und wie viel Freiheit wollen und sollen sie zugunsten von sozialer Sicherheit abgeben?
Diesem Gedanken folgend treten die jüngsten Texte der deutschen Bischöfe für eine Stärkung der Eigenverantwortung ein: Eigenverantwortung nicht im Sinne von Eigenleistung, also höherer Zuzahlungen, höherem Selbstbehalt, sondern Eigenverantwortung in dem Sinne, dass man das eigene Leben stärker selbst in die Hand nimmt. Nicht eine größere Umverteilung – die im Übrigen größtenteils im Bereich der Mittelschicht stattfindet –, sondern ein verstärktes Ernstnehmen der Selbstständigkeit des Menschen ist die Zielrichtung der Texte. Hinsichtlich eines zukunftsfähigen Gesundheitssystems hat die Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz gemeinsam mit der Kommission für caritative Fragen der Deutschen Bischofskonferenz dies bereits im Mai 2003 in ihrer Schrift anhand der Frage formuliert: „Welches Maß an Gesundheitsleistung kann und muss durch die Solidarität aller getragen werden und welches Maß an Gesundheitsförderung können und müssen die Menschen selbst tragen?“. Sie haben dieser Schrift den Titel „Solidarität braucht Eigenverantwortung“ gegeben, den Sie ja auch heute als Titel dieses Unternehmensforums gewählt haben.
Zur Wahrnehmung ihrer Freiheit und damit zu eigenverantwortlichem Handeln müssen die Menschen fähig und befähigt werden. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass Menschen an gesellschaftlichen Prozessen beteiligt werden. Ganz im Sinne des aus der katholischen Soziallehre stammenden Subsidiaritätsprinzips muss es darum gehen, nicht Abhängigkeit, sondern Selbstständigkeit zu fördern. Das heißt: Der Staat darf sich nicht aus der Verantwortung ziehen. Er muss darum bemüht sein, die Eigenverantwortung der Bürger und den Aufbau von neuen Solidaritätsformen zu stärken. Auf dieser Basis muss ein bisher zu einseitiges Verständnis von Sozialpolitik weiterentwickelt werden, das die Nachwuchsförderung stärker in den Blick nimmt und Familienpolitik als elementare Querschnittsaufgabe in der Politik anerkennt. Ähnliches gilt für die Bildungspolitik, zumal ein erschwerter Zugang zu Bildung und Wissen den Zugang zur heutigen Arbeitswelt und damit die Teilhabechancen erheblich beeinträchtigt.
Diese sehr grundlegende Reformpolitik muss von einer Veränderung der Verfahrensweisen und einem Wandel der Mentalitäten begleitet werden. Wir alle müssen dazu beitragen, mentale Blockaden überwinden zu helfen. Wir Bischöfe sprechen deshalb auch von der „Entwicklungspolitik für ein entwickeltes Land“, „wohlweislich“, wie Bundespräsident Köhler hierzu in seiner Einführungsrede konkretisierend gesagt hat, „Entwicklung, nicht Abriss oder Abbau, Entwicklung als Umbau.“ Unser Eintreten für einen tief greifenden Umbau des Sozialstaats entspringt der uns aufgetragenen Sorge um die Armen. Für diejenigen, die der Unterstützung und auch des Schutzes, den der Sozialstaat gewährt, bedürfen, muss der Sozialstaat zukunftsfest gemacht werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedingungen unterliegen einem steten Wandel. Deshalb muss auch das Sozialdenken der Kirche stets weiter entwickelt werden, unter Wahrung der bewährten Prinzipien der Personalität, der Solidarität und der Subsidiarität. Im Zentrum der kirchlichen Aufmerksamkeit muss unverändert eine „Option für die Armen“ stehen, die Sorge um die von aktiver Teilnahme Ausgeschlossenen und an den Rand Gedrängten unserer Gesellschaft. Vor allem sie sind der Grund für die Sorge der Kirche auch um den Sozialstaat, und um ihretwillen müssen wir klar benennen: Wenn sich nichts ändert, wenn alles so bleibt, wie es ist, werden die Schwachen die Leidtragenden sein, weil sie in besonderer Weise auf die Absicherung eines funktionierenden Sozialstaates angewiesen sind. Systeme sozialer Sicherheit, die nicht mehr tragen, werden gerade für jene zum existentiellen Problem, die sie wirklich brauchen. Noch einmal der Impulstext: „Reformen sind notwendig. Deutschland verträgt keinen Stillstand mehr. Sollen Solidarität und Gerechtigkeit angesichts struktureller Massenarbeitslosigkeit und demographischen Wandels wieder hergestellt und gesichert werden, brauchen wir einen Aufbruch, der das Soziale neu denkt.“
Eine Gesellschaft, die das Soziale nicht neu denkt, fügt sich und denjenigen, die auf ihre Hilfeleistung angewiesen sind, schweren Schaden zu. Es wäre dies ein schwerer Verstoß gegen die Pflicht des Gemeinwesens, allen seinen Bürgern ein Leben in Würde zu ermöglichen. Ein nicht weniger sträflicher Verstoß gegen dieses Gebot wäre es aber auch, wenn der Staat durch ein übermäßiges Versorgungsangebot die Freiheit des Einzelnen untergraben und ihm die Verantwortung für sein eigenes Leben entziehen würde. Schon 1991 hat Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika „Centesimus annus“ auf diesen Aspekt hingewiesen: „Der Wohlfahrtsstaat, der direkt eingreift und die Gesellschaft ihrer Verantwortung beraubt, löst den Verlust menschlicher Energie und das Aufblähen der Staatsapparate aus, die mehr von bürokratischer Logik als von dem Bemühen beherrscht werden, den Empfängern zu dienen.“
Das katholische Prinzip der Subsidiarität basiert auf dem Miteinander von Solidarität und Eigenverantwortung. In den letzten Jahrzehnten sind die Gewichte zwischen Solidarität und Eigenverantwortung einseitig zugunsten des Solidaritätsgedankens verschoben worden. Mit dem Impulstext „Das Soziale neu denken“ wollen wir dazu beitragen, Solidarität und Eigenverantwortung neu in Verhältnis zueinander zu bringen. Wenn wir wollen, dass die Solidarität aller weiterhin da einspringen kann, wo sie nötig ist, müssen wir den Sozialstaat so reformieren, dass sie nicht auch dort eingreifen muss, wo sie nicht nötig ist. Es geht darum, die notwendige Solidarität durch die mögliche und notwendige Wahrnehmung von Eigenverantwortung zu sichern. In diesem Sinn: Solidarität braucht Eigenverantwortung.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort!
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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