Solidarität und Eigenverantwortung

Vortrag bei der Stiftung Tumorforschung Kopf-Hals am 27. Oktober 2012 in Wiesbaden

Datum:
Samstag, 27. Oktober 2012

Vortrag bei der Stiftung Tumorforschung Kopf-Hals am 27. Oktober 2012 in Wiesbaden

I. Notwendigkeit eines neuen Aufbruchs

Die großen Sympathien und Hoffnungen, die die Menschen in unserem Land haben, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele auch tiefergehende Sorgen plagen: Die Menschen machen sich Sorgen um ihre Zukunft. Sie haben Angst davor, arbeitslos zu werden, sie befürchten, dass ihnen die sozialen Systeme eines Tages keine Sicherheit mehr bieten, und sie spüren die Belastung, die die Verschuldung der öffentlichen Haushalte auch für sie persönlich bedeutet. Immer mehr Menschen sehen, dass angesichts des demographischen Wandels, der Veränderung bisheriger Formen der Solidarität, die insbesondere in der Familie geübt wurden, und einer strukturellen Arbeitslosigkeit, Reformen des sozialstaatlichen Arrangements dringend notwendig sind. Dabei steht wahrscheinlich weniger die zweifellos auch gegebene Gefahr im Vordergrund, in die Armut abzurutschen, sondern die Angst greift um sich, den Arbeitsplatz und andere Sicherheiten des Lebens zu verlieren. Die Menschen spüren: Wenn wir es nicht wagen, die nur begonnenen Reformen weiterzuführen, setzen wir den Sozialstaat aufs Spiel. Wenn nichts getan wird, werden im Ergebnis die Schwachen die Leidtragenden sein, weil sie in besonderer Weise auf die Absicherung durch den Sozialstaat angewiesen sind. Weitere Reformen sind so nicht vorrangig aus ökonomischen Gründen notwendig, sondern sie sind eine Frage der Gerechtigkeit. Ich denke hier an die prekären Arbeitsverhältnisse, die in verschiedenen Ausprägungen jeden vierten Arbeitsplatz kennzeichnen.

Es fällt gewiss auf, dass der Begriff der sozialen Gerechtigkeit außerordentlich stark geschichtlich wandelbaren Bedingungen ausgesetzt ist. „Soziale Gerechtigkeit meint damit jene Gerechtigkeitsverantwortung, die wegen der geschichtlichen und gesellschaftlichen Wandelbarkeit der sozialen Verhältnisse nie abschließend eingelöst ist." Dies hat auch naheliegende Konsequenzen für den Gebrauch des Begriffs der sozialen Gerechtigkeit. O. Höffe macht darauf aufmerksam, dass der unspezifische Sinn kaum mehr sagt, als dass es um gesellschaftliche Belange geht. In einem präziseren Sinn nähert sich der Begriff der sozialen Gerechtigkeit dem Gehalt der „Sozialen Frage" an, wobei darin besonders die bekannten Probleme und Nöte gebündelt sind, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Zusammenleben der Menschen bestimmen: Arbeitslosigkeit, Schutzlosigkeit bei Krankheit und Alter, mangelnde Bildung oder Ausbildung, sogar Hunger und Verelendung, sei es in den größer gewordenen Städten, aber auch in Teilen der Landbevölkerung. In diesem Kontext gewinnt der Begriff der sozialen Gerechtigkeit auch eine größere Nähe zum neueren Begriff der „Option für die Armen" , die wiederum in doppelter Ausrichtung zu verstehen ist: einerseits geradezu anwaltschaftliches Eintreten für jene, die ihre Interessen nicht selbst vertreten können, aber auch Engagement für gesellschaftliche Strukturen, die allen eine eigenständige Beteiligung am gesellschaftlichen Prozess möglich machen.

Es ist freilich auch eine Frage der Gerechtigkeit, wie Reformen stattfinden: Sie müssen dem Gemeinwohl dienen und nicht nur dem Interesse derjenigen Gruppen, die sich am besten artikulieren können. Sie müssen auch eine langfristige Perspektive einnehmen und nicht nur im Hier und Jetzt kurzfristigen politischen Interessenlagen verhaftet sein. Dass Reformen solcher Art in den letzten Jahren weniger möglich waren, lässt bei vielen Skepsis aufkommen, ob das politische System in Deutschland zu einer Reform des Sozialstaats in dem genannten Sinn in der Lage sein wird. Wir haben deshalb von Seiten der Deutschen Bischofskonferenz vor einigen Jahren mit dem Impulstext „Das Soziale neu denken" versucht, die Reformbarrieren zu identifizieren und einige Konkretisierungen zu benennen, mit denen das politische System befähigt werden könnte, den Sozialstaat auf Dauer zu bewahren und ihn angesichts neuer Herausforderungen beständig und auf eine langfristig tragfähige Weise zu erneuern. Zu diesen Reformbarrieren gehören die stark korporatistische Prägung des politischen Systems der Bundesrepublik, die partikularen Interessen zur Dominanz verhilft, und eine Verengung des Verständnisses von Sozialpolitik auf Verteilungspolitik, wodurch ausgeblendet wird, dass vor allem Familien-, aber auch Bildungs- und Berufsbildungspolitik zukunftsorientierte und auch produktivitätsförderliche Bereiche der Gesellschaftspolitik sind. Zu den Reformbarrieren gehören weiterhin die Entwicklung unseres Föderalismus, durch die Reformentscheidungen leicht blockiert werden können, und ein Mangel an Institutionen, die den Blick auf das Ganze und auf eine nachhaltige, zukunftsorientierte Politik richten. Gerade dieser letzte Punkt bedeutet im Zusammenhang mit der Dominanz der Partikularinteressen einen Mangel an Rationalität in der Fortentwicklung des Sozialstaates.

Um die strukturelle Blockade langfristigerer Reformpolitik zu überwinden, wird wohl ein ganzes Bündel von Maßnahmen notwendig sein. Doch entscheidend ist, dass man sich der Grundausrichtung aller Reformbemühungen vergewissert. Auf der Grundlage eines christlichen und humanen Menschenbildes, das den Menschen ins Zentrum allen politischen Handelns stellt und insbesondere die Wirtschafts- und Sozialpolitik daran misst, inwieweit sie letztlich der Wohlfahrt und den Entfaltungsmöglichkeiten der Menschen zugute kommt, sind Subsidiarität und Solidarität die entscheidenden Leitbilder für eine Reform des Sozialstaates. Dabei wird es immer notwendig sein, Menschen, die der Hilfe bedürfen, auch Unterstützung zukommen zu lassen. Ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips muss es dabei aber darum gehen, nicht Abhängigkeit, sondern Selbstständigkeit zu fördern. Der Staat darf sich gewiss nicht aus der Verantwortung ziehen, wenn er die Freiheit der Menschen und seine Beschränktheiten ernst nimmt. Er muss jedoch darum bemüht sein, die Eigenverantwortung der Bürger und auch den Aufbau von neuen Solidaritätsformen zu stärken. Kern einer soliden Reformpolitik muss ein „Subsidiaritäts-Check" sein: Der gesamte Sozialstaatskomplex müsste nach den Kriterien des Subsidiaritätsprinzips auf notwendige Reformen hin durchforstet werden.

II. Zum Beispiel Gesundheit
Was dies bedeuten kann, möchte ich nun am Beispiel des Gesundheitssystems ein wenig ausleuchten. Ich kann dabei nicht auf die aktuelle Diskussion eingehen. Dafür bin ich auch nicht kompetent. Es geht mir um das Grundsätzliche. Ich möchte dabei mit einem Zitat beginnen: „Es ist nicht zu verkennen, dass für die Höhe der Beiträge [in der Gesetzlichen Krankenversicherung] einmal eine Grenze gegeben ist, die aus volkswirtschaftlichen und psychologischen Gründen nicht überschritten werden sollte. So scheint mir, bleibt nur der Weg, durch eine Entlastung der Krankenversicherung von Bagatellfällen einerseits die Kassen in die Lage zu versetzen, bei lang andauernden und schweren Krankheiten wirksam zu helfen, andererseits die Beitragsbelastung in vernünftigen Grenzen zu halten. Das könnte durch eine Selbstbeteiligung der Versicherten ermöglicht werden." Diese Worte stammen aus dem Jahr 1958 von Arbeitsminister Theodor Blank, der darauf hinwies, dass eine umfassende Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland erforderlich sei. Doch Theodor Blank widerfuhr das gleiche Schicksal wie vielen seiner Nachfolger: Die Reformbedürftigkeit des Bismarckschen Sozialversicherungssystems war zwar allgemein bekannt, aber eine umfassende Neuordnung blieb aus, meist konnten nur einzelne Reformziele umgesetzt werden.

Der entscheidende Unterschied zwischen Blank und seinen späteren Amtskollegen ist, dass es zu Zeiten Blanks weder Massenarbeitslosigkeit noch Wirtschaftsrezession, geschweige denn zu konsolidierende Bundeshaushalte gab. Die aktuelle Reformbedürftigkeit des Gesundheitssystems, und das bedeutet vor allem der Gesetzlichen Krankenversicherungen, ist heute noch einmal ungleich größer als vor gut einem halben Jahrhundert. Gleichzeitig wird die Krise von Seiten der Kräfte, die gelegentlich - wenn auch fälschlich - als neoliberal bezeichnet werden, polemisch überzeichnet. Sie sprechen vom Sozialstaat als einem „Auslaufmodell", fordern seinen Abbau und die Aufkündigung der Solidarität. Dies verunsichert und verängstigt die Bevölkerung, zumal sie angesichts steigender Flexibilität und Mobilität in der Arbeitswelt oder drohender Arbeitslosigkeit umso mehr der Sicherheit und Rückendeckung bedarf, die ein Instrument wie die Gesetzliche Krankenversicherung gewährleistet.

Zunächst stehen wir vor der Tatsache, dass die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen permanent steigt und weiter steigen wird. Dies hat mehrere Ursachen, u.a.: eine allgemeine Steigerung der Ansprüche an Gesundheitsleistungen in wohlhabenden Gesellschaften, die Ausweitung des medizinisch Möglichen, die sich schon bald dramatisch verschärfende demographische Schieflage. Außerdem schwindet gleichzeitig die Finanzierungsbasis zusehends. Auch dies hat mehrere Ursachen: die durch die demographische Entwicklung abnehmenden Beitragszahler, der sinkende Anteil der für die Beitragszahlung relevanten Erwerbseinkommen an allen Einkommen sowie politische Entscheidungen, die die Mittel der Gesetzlichen Krankenversicherung anderweitig genutzt haben. Diese externen Reformanlässe werden durch systemimmanente Schwierigkeiten noch verstärkt: die zuweilen übermächtigen Interessenvertretungen, der Vorwurf der Vernachlässigung größerer Einsparpotenziale, eine mangelhafte Qualitätssicherung, aber auch eine zuweilen übertriebene Anspruchshaltung eines Teils der Versicherten.

All dies stellt uns vor die Notwendigkeit, mit knappen Ressourcen sparsam umzugehen. Dies fordert natürlich eine möglichst hohe Effizienz des Systems. Doch das allein wird nicht ausreichen. Man wird nicht umhinkommen, eine Grundfrage unserer sozialen Sicherung neu zu stellen: Die soziale Sicherung dient dazu, dass die Gemeinschaft solche Risiken trägt, die vom Einzelnen nicht getragen werden können. Die Solidarität aller tritt dann ein, wenn der Einzelne überfordert ist. Ein jeder hat sich dann an dieser Solidarität im Rahmen seiner Möglichkeiten zu beteiligen. Ein jeder hat seinerseits aber auch diese Solidarität nicht über das notwendige Maß hinaus in Anspruch zu nehmen. Nun werden hier Appelle allein nicht ausreichen. Es muss darum gehen, das Gesundheitssystem so zu verändern, dass die Anreize zum Wohl aller richtig gesetzt werden. Es ist grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, dass jeder Gesundheitsleistungen nach seinen Bedürfnissen in Anspruch nimmt. Und damit wird es wohl auch so sein, dass wir alle in Zukunft - wenn wir noch mehr medizinische Hilfen in Anspruch nehmen und älter werden wollen - einen größeren Teil unseres Einkommens für Gesundheitsleistungen einsetzen werden. Die entscheidende Frage der sozialen Sicherung wird dann aber hinsichtlich des Gesundheitssystems lauten müssen: Welches Maß an Gesundheitsleistungen kann und muss durch die Solidarität aller getragen werden und welches Maß an Gesundheitsförderung können und müssen die Menschen selbst tragen?

III. Solidarität braucht Eigenverantwortung
Diese Frage verlangt nach Beurteilungsparametern. Nimmt man die Prinzipien der Solidarität, der Subsidiarität oder der Gerechtigkeit, wie sie die kirchliche Soziallehre, aber nicht nur sie, ausführlich bedacht hat, ernst, dann wird man angesichts der Ausgestaltung unseres Sozialstaates, der bisher vorwiegend immer noch unter dem Gesichtspunkt der Verteilung finanzieller Ressourcen gesehen wird, wohl stärker ein Gewicht auf die Eigenverantwortung legen müssen. Schon 1991 hat Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika „Centesimus annus" in Richtung eines überdehnten Wohlfahrtsstaates festgestellt: „Der Wohlfahrtsstaat, der direkt eingreift und die Gesellschaft ihrer Verantwortung beraubt, löst den Verlust an menschlicher Energie und das Aufblähen der Staatsapparate aus, die mehr von bürokratischer Logik als von dem Bemühen beherrscht werden, den Empfängern zu dienen."

Die Soziale Marktwirtschaft ist im Lauf der Jahrzehnte in unserem Land gewiss vielfach überlagert worden durch Entwicklungen, die Prinzipien wie Eigeninitiative, Selbstverantwortung, Leistungsbereitschaft und Mut zum Wettbewerb auszuhöhlen drohten. Diese Diagnose ist auch bei Vertretern verschiedener Tendenzen ziemlich konsensfähig: Das Einwirken des Staates und seine Ansprüche sind mehr und mehr gewachsen. Schon der demographische Wandel zwingt uns zu mehr Eigenverantwortung in der sozialen Sicherung. Wir brauchen an den Rändern mehr Eigenbeteiligung, um die Grundrisiken für möglichst alle Menschen abdecken zu können, denn diese können die allermeisten nicht selber tragen. Dennoch bleibt richtig: Es braucht mehr Hilfe zur Selbsthilfe.

Das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft beinhaltet die Grundsätze von Selbstverantwortung und Subsidiarität. Der Staat hilft dem Einzelnen, wenn dieser aus eigener Kraft nicht in der Lage ist. Umgekehrt heißt dies jedoch auch, dass die sozialpolitische Unterstützung bei einem steigenden allgemeinen Wohlstand nicht stetig wachsen kann, sondern eher begrenzt werden muss. Der Staat soll wirtschaftliches und gesellschaftliches Handeln nicht behindern, sondern die freie Entfaltung des Einzelnen gewährleisten. Er soll nicht die Produktion lenken, sondern die Rahmenbedingungen setzen, die die Freiheit des Marktes erst ermöglichen. Es muss eine Offenheit für verschiedene, alternative Gestaltungsmöglichkeiten geben. Die Soziale Marktwirtschaft gründet sich auf souverän handelnde Menschen, deren freie Entscheidungen - bei aller Prägung auch durch die Situation - am Ende doch in der Eigenverantwortlichkeit begründet sind.

Bei aller notwendigen Subsidiarität bleibt aber auch die Solidarität gerade heute ein wichtiges Kriterium ethisch verantworteten Handelns. Dies betonten z.B. die katholische und evangelische Kirche in ihrem schon erwähnten gemeinsamen „Wirtschafts- und Sozialwort" von 1997: „So wenig es [...] angeht, den Sozialstaat als Garanten für die Bewältigung aller persönlichen Wechselfälle des Lebens misszuverstehen, so wenig wäre es mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar, die staatlichen Aufgaben bei der sozialen Sicherung zu vernachlässigen. ... Der Sozialstaat ist und bleibt verpflichtet, jedem Menschen in Deutschland ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen."

Was so grundsätzlich von der Sozialen Marktwirtschaft gesagt werden kann, gilt auch für das Gesundheitssystem: Den Menschen muss wieder mehr Eigenverantwortung zugemutet, aber auch zugetraut werden. Dies gilt für die Notwendigkeit von Prävention, für die Art der Mitwirkung und Mitbestimmung an der Leistungserbringung oder auch für den Zuschnitt des durch die Krankenkassen bezahlten Leistungsspektrums. Gerade hieran entzündet sich viel Streit. Angesichts knapper werdender Ressourcen und insbesondere neuer, durch die medizinische Entwicklung ermöglichter, kostenintensiver Leistungen stellt sich durchaus auch die Frage nach der Definition des Leistungsumfangs der Gesetzlichen Krankenversicherung. Dabei muss verhindert werden, dass es zu einer bloß faktischen und nicht begründeten Rationierung von Leistungen kommt. Es muss nämlich auf jeden Fall sicher bleiben: Großrisiken, wie beispielsweise lebensbedrohliche, chronische oder finanziell vom Patienten nicht zu bewältigende Risiken müssen weiter abgesichert werden - nicht aber unbedingt die vielen kleinen Erkrankungen. Man denke auch an die Mengen ungebrauchter Medikamente, die auf unseren Müllhalden landen.

Vielfach stößt die Forderung nach mehr Eigenverantwortung auf Unmut. Dies ist nur zu verständlich, da Eigenverantwortung bisher nahezu ausschließlich den Charakter einer systementlastenden Kostenbeteiligung hatte. Doch entscheidend für die Akzeptanz steigender Solidarbeiträge oder höherer Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen sind die Gewähr eines effizient arbeitenden Systems, die Zuversicht, dass eine solidarische Absicherung gewährleistet wird und die Hoffnung, dass diese zusätzliche Verpflichtung langfristig zur Stabilisierung der Beiträge und des Systems beiträgt. Eigenverantwortung umfasst weit mehr als nur die finanzielle Beteiligung. Entsprechend schließt die Eigenverantwortung die Gesundheitsverantwortung jedes Menschen ein. Deshalb muss es um eine Akzentverschiebung von der Krankheitsbewältigung zur Gesundheitsförderung gehen, die unweigerlich mit einer aktiveren Rolle des Patienten im Behandlungsgeschehen verbunden ist. Meines Erachtens ist die Mitwirkung des Patienten durch Einsatzbereitschaft in der Behandlung und eine verantwortliche Lebensführung notwendig, Mitsprache- und Mitbestimmungsmöglichkeiten sind auszubauen und zugleich zu ermöglichen und einzufordern. Die Intensivierung der im deutschen Gesundheitswesen lange vernachlässigten Prävention ist im Hinblick auf den demographischen Wandel und die steigenden Ausgaben im Gesundheitssystem unumgänglich. Die Verringerung der Erkrankungswahrscheinlichkeit und die Senkung der Krankheitsrisiken zählen zu den wesentlichen Einsparpotenzialen.

So bedeutet Eigenverantwortung nicht ein Auflösen der Solidarität, sondern im Gegenteil: Wenn wir wollen, dass die Solidarität aller da weiter einspringen kann, wo sie nötig ist, müssen wir das Gesundheitssystem so reformieren, dass sie da nicht aktiviert werden muss, wo sie nicht nötig ist. Deshalb haben wir einigen Orientierungen für ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem, die wir in der Deutschen Bischofskonferenz entwickelt haben, den Titel „Solidarität braucht Eigenverantwortung" gegeben. Dieser Text soll eine Ermutigung für alle sein, die Reformen des Gesundheitssystems angehen wollen, Reformen, die die Solidarität durch ein Mehr an Eigenverantwortung sichern.

Nun wäre es ein Missverständnis, wenn man zu dem Schluss käme, hier würde die Reform des Gesundheitssystems ausschließlich von den Versicherten Zugeständnisse einfordern. Auch Versicherungen und Leistungserbringer, seien es Ärzte, Krankenhäuser oder Arzneimittelhersteller, werden ihren Beitrag leisten - auch wenn man dabei durchaus die Unterschiede innerhalb der genannten Gruppen wahrzunehmen hat, etwa zwischen solchen Unternehmen, die viel Geld für Forschung ausgeben, und solchen, die sich diese Investition sparen und weitgehend Generica herstellen. Bei dem notwendigen Beitrag aller war mir aber wichtig, auf die notwendige Grundperspektive hinzuweisen, die Reformen erst möglich macht.

IV. Lebendiger Austausch der Gaben
An dieser Stelle möchte ich einen Versuch unternehmen, vor allem den Begriff der „Sozialen Gerechtigkeit" von der Neuinterpretation einer klassischen Bestimmung her zu erhellen. Dabei schließe ich mich zahlreichen Untersuchungen von O. Höffe an, die mir hier besonders erhellend zu sein scheinen. Höffe greift dabei auf das Rechtsdenken des Aristoteles zurück. Spricht man von Gerechtigkeit, denkt man sehr oft gerade heute an Verteilungsfragen. Man erwartet besonders von sozialer Gerechtigkeit eine Gleichverteilung oder wenigstens eine Verteilung nach den sogenannten Bedürfnissen. „Die zu verteilenden Mittel müssen aber erst erarbeitet und im Falle einer Arbeitsteilung wechselseitig getauscht werden. Wegen dieser Binsenweisheit empfiehlt sich der erwähnte Paradigmenwechsel. Man beginnt nicht bei der Verteilung, sondern bei der Wechselseitigkeit oder dem Tausch - vorausgesetzt, dass man ... keinen nur ökonomischen Tauschbegriff verwendet." Außer Geldwaren und Dienstleistungen gibt es im Tausch auch ideelle Vorteile: Macht, Sicherheit, gesellschaftliche Anerkennung. Mit Recht verweist Höffe auf die Forschungen des französischen Soziologen und Ethnologen Marcel Mauss, der gezeigt hat, dass der Austausch gerade in archaischen Gesellschaften ein gleichzeitig ökonomisches, juristisches, moralisches, ästhetisches, religiöses und gesellschaftliches Phänomen ist. Das Wort Tauschgerechtigkeit verliert also rasch seine ausschließlich anmutende Verbindung zum ökonomisch verstandenen Tausch, wenn man an diese ganze Weite des lebendigen Austausches, einschließlich des Geschenkaustausches denkt. Der Tausch setzt eine elementare Wechselseitigkeit der Subjekte bzw. Partner voraus. Jeder hat ein grundlegendes Interesse am Austausch. Dabei wird auch vorausgesetzt, dass die meisten Partner auch ein Angebot erbringen können. Im Kern heißt dies, dass jeder Mensch auf seine Weise und in seinen Dimensionen etwas anbieten kann, zumal wenn er von der Gesellschaft in schwierigen Situationen unterstützt wird. Im Tausch herrscht eine strenge Äquivalenz. Dies ergibt sich auch aus jedem sozialen Netzwerk.

Die soziale Gerechtigkeit scheint mir so zuerst wichtig zu sein im Bereich der fundamentalen Lebensmöglichkeiten, die von der nackten Existenz bis zu einem menschenwürdigen Leben reichen. Wenn ein Mitglied einer Gemeinschaft an einem grundsätzlichen Mangel hinsichtlich dieser elementaren Lebensmöglichkeiten leidet, dann ist die Gemeinschaft verpflichtet, ihm wenigstens im Sinne eines minimalen menschenwürdigen Lebens Hilfe zu leisten. Dies ist vor allem notwendig, um die Teilhabe eines jeden Menschen an der Entwicklung des menschlichen Lebens sicherzustellen. Durch die gemeinsame Menschennatur und die Gottebenbildlichkeit bzw. Menschenwürde, die jedem zu eigen sind, gibt es hier die Notwendigkeit, nicht nur den Menschen zu einem Existenzminimum zu verhelfen, sondern auch dafür zu sorgen, „dass möglichst viele Menschen tatsächlich in der Lage sind, ihre jeweiligen Begabungen sowohl zu erkennen, als auch sie auszubilden und schließlich produktiv für sich selbst und andere einsetzen zu können". Deshalb ist die Chancengerechtigkeit wichtig.

In dieser Grundhaltung ist jede Form von Solidarität begründet. Sie kann aber gerade im Horizont des wechselseitigen Gebens und Nehmens nie eine Einbahnstraße sein, sondern setzt immer schon bei der Partnerseite die Bereitschaft zum Geben voraus. Darum ist eine ausgleichende Teilgabe von Lebensmöglichkeiten zunächst auch immer auf die Wiederherstellung der eigenen Fähigkeiten gerichtet. Es ist eine Form der temporären Leihe von Kräften, so wie z.B. die Sozialhilfe ursprünglich eine Art Überbrückungsmöglichkeit ist. Man kann dafür auch das heute viel gebrauchte Wort von der „Eigenverantwortung" verwenden. An sich würde das Wort „Verantwortung" schon genügen. Aber die Solidarität, die jemand selbst von anderen her erfährt, setzt voraus und hat zur Konsequenz, dass der von ihr Begünstigte auch seinerseits zu einem konkret verantwortlichen Mitgestalten der Gemeinschaft bereit ist. Wenigstens in einem Minimum sollte erkennbar sein, dass dieses grundsätzliche Engagement überhaupt existiert. Sonst müsste man ja eher davon sprechen, dass jemand die Gemeinschaft rücksichtslos und schamlos ausnützt und so durchaus auch zu einem „Schmarotzer" werden kann. Selbstverständlich ist dies niemals gegeben, wenn einer von Natur oder durch ein erlittenes Geschick schwach ist. Dann bedarf er der solidarischen Unterstützung. Dies wird vielleicht besonders deutlich an chronisch Kranken, an alten Menschen mit ihren Grenzen und nicht zuletzt an behinderten Menschen, die bestimmte Leistungen nicht erbringen können. Hier ist es ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit, andere, die an einer solchen Schwäche leiden, an den eigenen Lebensmöglichkeiten teilhaben zu lassen und die Mängel im Rahmen und nach den Möglichkeiten einer Gemeinschaft zum Ausgleich zu bringen. Diese Verantwortung setzt aber voraus, dass auch der Empfänger zu einer - und sei es noch so minimalen - Gegenleistung bereit ist. Der behinderte Mensch kann z.B. wenn er imstande ist, in einer Behindertenwerkstatt zu seinem Lebensunterhalt beitragen. Der Arbeitslose sollte nicht zögern, eine weniger attraktive Arbeit anzunehmen und auch vielleicht längere Entfernungen zu akzeptieren, wenn ihm ein Angebot gemacht wird. Es gibt gewiss noch viele Austauschmöglichkeiten im ideellen Bereich.

„Solidarität braucht Eigenverantwortung" sollte - um den Blick abschließend noch einmal über das Gesundheitssystem hinaus zu weiten - auch die Perspektive für die anstehenden Reformen insgesamt sein. Ich konnte zwar in diesem Beitrag zur Krise unseres Gesundheitssystems und zu seiner Sanierung nicht viel im Detail beitragen. Aber es kommt entscheidend darauf an, mit welcher Einstellung, in welchem Geist und mit welchen Zielsetzungen man an unsere Aufgaben herangeht. Unübersehbar wichtig sind die Grundhaltungen, aus denen heraus Normen vorgeschlagen und Entscheidungen getroffen werden. Dies ist auch wichtig für die nötigen Konsequenzen. Wenn die Menschen sehen, dass der Staat ihnen die Freiheit lässt und auch zutraut, wo sie eigenständig handeln können, es zu tun, sie aber da, wo sie überfordert wären, nicht im Stich lässt, sondern sie unterstützt und stärkt, dann ist mir auch um die Reformbereitschaft und die konkreten Reformen nicht bange.

V. Das christliche Menschenbild in den heutigen Konflikten
Am Ende sollen noch einige inhaltliche Richtpunkte stehen. Die tragende Mitte stellt dabei für mich das christliche Menschenbild dar. Man könnte es von drei Dimensionen her begründen.

· Fundament ist unsere Überzeugung, dass die Würde eines jeden Menschen unabhängig von seiner physischen oder psychischen Verfassung, seiner Religion oder Weltanschauung, seiner Rasse oder sozialen Herkunft von Gott selbst begründet ist. Die Überzeugung, dass jeder Mensch Geschöpf und Bild Gottes ist, verleiht ihm von vornherein eine unantastbare Menschenwürde, wie sie als oberstes Prinzip in vielen Verfassungen und in mancher Charta der Menschenrechte verbürgt wird. Kein anderer Mensch kann über diese Menschenwürde verfügen, denn sie hängt nicht von der Anerkennung durch Menschen ab, sondern ist vor allen unseren Unterscheidungen in Arm und Reich, Gesund und Krank, Rasse und Klasse von Gott selbst gegeben. Sie ist nicht käuflich und nicht veräußerbar.

· Dieses Fundament wird respektiert und entfaltet in der Art und Weise, wie wir den Kranken sehen. So heißt es in den Leitlinien einer Krankenhausgesellschaft: „Die uns zugesagte, liebende Nähe unseres Gottes lässt uns im Kranken den hilfsbedürftigen Nächsten sehen und in ihm das Antlitz Gottes entdecken. So können wir den Menschen, für die wir arbeiten, angemessen und zuversichtlich gegenübertreten." Diese Würde des Menschen muss man immer wieder suchen und wahren. Es müsste freilich ausführlicher davon die Rede sein, dass diese Würde ganz besonders für den Anfang und für das Ende des Lebens gilt.

· Ein drittes Element ist die ganzheitliche menschliche Sorge um die Kranken. Der Einzelne ist mehr als die Summe seiner medizinischen Daten und Befunde. Er bringt seine Geschichte und seine Überzeugungen, sein Schicksal und sein Leben mit. Wir sollten versuchen, diese gesamtmenschlichen Faktoren im Sinne einer Hilfe zur Gesundung und Heilung zu berücksichtigen. Wir wissen aber auch, dass selbst bei eingeschränkter Gesundheit ein sinnerfülltes und menschenwürdiges Leben möglich ist, und sollten Menschen, die mit solchen Einschränkungen und vielleicht sogar Behinderungen leben müssen, dabei begleiten und ihnen Hilfe anbieten. Wir wollen auch Menschen, die ihren irdischen Weg beenden müssen, nicht allein lassen, sondern ihnen bis hinein in ein würdiges Sterben beistehen und ihnen die Hoffnung des Glaubens stärken oder vermitteln, dass nämlich mit dem Tod nicht alles aus ist.

Dieses Menschenbild gibt dem Handeln im christlichen Geist seine Richtung. Wir verstehen das Leiden des Patienten nicht nur als „Defekt", sondern sehen die mit dem Leiden verbundene Not. Es geht nicht um bloße Reparatur, sondern um Heilung in einem den ganzen Menschen umfassenden Sinn. Auch wenn es schematisierende und quantifizierende Abrechnungsmuster („Fallpauschalen") und andere Systeme der medizinischen und bürokratischen Erfassung von Erkrankungen und erkrankten Menschen gibt, so darf niemand bloß ein „Fall" bleiben. Es liegt nicht nur ein „Blinddarm" im Bett, sondern ein ganzer Mensch. Hier scheint mir für die Zukunft die größte Gefährdung zu liegen. Die verschiedenen Entgeltsysteme dürfen nicht das konkrete Antlitz des einzelnen Menschen mit seiner Herkunft und seiner Geschichte verwischen.

Auch wenn wir großes Verständnis für ökonomische Aspekte haben, so wollen wir uns nicht dem Diktat allein wirtschaftlicher Kriterien beugen. Es darf nicht geschehen, dass die Behandlung nur auf das „medizinisch Notwendige" eingeschränkt wird. Hier habe ich eine gewisse Sorge vor einem Wettbewerb, den ich nicht wegen der Konkurrenz fürchte, sondern deswegen, weil sich derjenige durchsetzen könnte, der den Menschen nicht ganzheitlich sieht, sondern als „Fall" mit bestimmten „Defekten" klassifiziert. Hier verläuft eine sehr schmale Grenze, die zu Gratwanderungen führen kann: Notwendige ökonomische Einschränkungen („Budgetdeckelungen", Personalreduzierungen, Verweildauer usw.) dürfen ein humanes Maß nicht unterschreiten. Bürokratische Erfordernisse müssen immer wieder auf ihre Notwendigkeit hin überprüft werden. Sie dürfen nicht so überhand nehmen, dass menschliche Begegnung, Zeit für ein Gespräch usw. zu kurz kommen oder gar ein schlechtes Gewissen verursachen.

Das Gesundheitswesen, besonders im Krankenhaus, ist im hohen Maß verletzlich und anfällig. Es sind sehr viele Komponenten und Faktoren, die aufeinander abgestimmt werden müssen. Dafür braucht es Klugheit und Erfahrung, Geduld und Augenmaß. Es ist z.B. nicht unmöglich, sondern durchaus wünschenswert, dass die angebotenen Sozialdienste und das ärztliche Handeln in Krankenhäusern überprüft und als Qualitätskriterium anerkannt werden, so dass auch in diesem Bereich mehr Wettbewerb entsteht. Aber der Markt regelt nicht alles, wie manche auch für den Gesundheitsbereich annehmen wollen. Es ist für mich nicht einsichtig, wie man auf der einen Seite dieses Marktsegment im Krankenhaus ausbauen möchte, auf der anderen Seite jedoch mitten in der sogenannten Sozialen Marktwirtschaft eine rigorose Planung und Begrenzung z.B. von Leistungen vorschreibt, die im Grunde jeden echten Wettbewerb ruinieren und eher einer verordneten Planwirtschaft ähnlich sind.

Es gibt Zielkonflikte, an deren Auswirkungen heute niemand vorbeikommt. Die Arbeitslosenquote ist auf Dauer schwer zu senken. Die Folgen der demographischen Entwicklung bringen viele Probleme für die Sicherheit der Sozialversicherungssysteme, gerade auch der Krankenkassen. Der Beitrag vieler Menschen zum Sozial- und Gesundheitswesen entfällt oder wird geringer. Dies steht in Gegensatz zur steigenden Lebenserwartung, zum medizinischen Fortschritt und zur teuren Technik. Es geht ja immer mehr um die Einsicht, dass unsere Mittel angesichts der vorhandenen Möglichkeiten begrenzt sind. Wir haben nicht einfach eine Kostenexplosion, sondern mehr noch eine Leistungsexplosion. Es ist sehr schwierig, dieses insgesamt ambivalente, fast widersprüchliche Phänomen und „System" zu reformieren. Viele Reformen der letzten Jahre haben m.E. diese Zielkonflikte, die niemand wegdiskutieren kann, nicht aufgelöst, sondern manchmal sogar neue geschaffen. Ich denke an die Begrenzung des Budgets (Deckelung), die Trennung von Behandlungsformen, die Trennung von Zuständigkeiten, die Verlagerung von Verantwortungsbereichen und an viele Einzelvorschriften.

Über 30 Jahre erlebe ich, wie sich dies in Krankenhäusern auswirkt. Es irritiert mich, immer wieder sehen zu müssen, dass diese Zielkonflikte unter Menschen und Berufsgruppen, die zum größten Teil schon ein hohes Engagement mitbringen, Spannungen und Auseinandersetzungen schaffen, die die Atmosphäre eines Krankenhauses und vieles andere negativ beeinträchtigen. Dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass unsere Krankenhäuser viele innere Kräfte haben, die sie zum produktiven Verarbeiten dieser Konflikte einsetzen können. Hier sollten wir weniger klagen, sondern uns gemeinsam bemühen, die zweifellos vorhandenen schöpferischen Reserven zu mobilisieren. Aber bei dieser Beruhigung darf es nicht bleiben.

Freilich, eines quält mich dabei immer mehr: Die täglichen Auseinandersetzungen und ständig wechselnden Strategien in der Gesundheitspolitik nehmen uns ein Stück weit den Atem, um innovative Wege zu suchen und zu finden, die einerseits tatsächlich vorhandene Mängel beseitigen und andererseits auch auf eine überzeugende Weise neuen Nöten der Menschen, die krank sind, kreativ begegnen. Deshalb begrüße ich es, wenn es gerade in der Zusammenarbeit mit den Kassen möglich ist, Experimente gezielter Art durchzuführen, wie z.B. die integrierte Versorgung älterer Menschen durch mehrere Institutionen.

Überhaupt scheint mir die Idee eines sozialen Netzwerks - wie schon angedeutet - hier eine besondere Bedeutung zu erlangen. Nicht zufällig wird auch in der Bibel das Bild vom Netz in diesem Zusammenhang verwendet.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Im Original sind eine Reihe von Fußnoten enthalten
Es gilt das gesprochene Wort

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz