Sonntagspflicht einmal anders

Beitrag des Kardinals für die Juli-Ausgabe der Kirchenzeitung

Datum:
Sonntag, 11. Juli 2004

Beitrag des Kardinals für die Juli-Ausgabe der Kirchenzeitung

Es gehört in den letzten Jahren und auch Jahrzehnten zu einem wichtigen Auftrag der Kirchen, für die Wahrung der Würde und des Ranges der Sonn- und Feiertage einzutreten. Immer wieder müssen Angriffe auf die Unverletzlichkeit des Sonntags vor allem für eine Öffnung der Ladenzeiten abgewehrt werden. Erst vor kurzem hat das Bundesverfassungsgericht hier in seinem Urteil vom 9. Juni nochmals Klarheit geschaffen.

Es ist aber auch überaus deutlich, dass Gebote und Verbote allein, so hilfreich sie in ihrer allgemeinen Verbindlichkeit sind, noch nicht den Sonntag wirklich retten. Es muss auch eine hohe Bereitschaft dazukommen, Sonn- und Feiertage als eigene Zeiten mit besonderer Zielsetzung zu nützen. Diese hängt ganz gewiss von der Freiheit des Einzelnen ab, wie er die Sonn- und Feiertage in seinem Leben versteht. Auf jeden Fall gehören Erholung und Besinnung dazu, die sich im Gottesdienst vollendet. Aber auch das Freiwerden von den Alltagszwängen und das Freiwerden für die Menschen in Ehe und Familie sowie in der Nähe gehören dazu. Sonn- und Feiertage gewähren dafür die sonst immer knapper werdende Zeit. Es ist selbstverständlich, dass dabei auch das ganze Spektrum der Kultur mit gemeint ist.

Natürlich gab es immer schon berechtigte Ausnahmefälle, wie auch das Verhalten Jesu zum Sabbat gegenüber einer rigoristischen Gesetzlichkeit zeigt (vgl. Mk 2,27f). Eine besondere Dringlichkeit ergab sich auch bei chemisch-technischen Arbeitsprozessen, die nicht unterbrochen werden dürfen. Aber es ist nicht zu verkennen, dass die amtlichen Erlaubnisse zur Sonntagsarbeit in letzter Zeit in einer problematischen Weise erweitert worden sind.

Es gibt aber auch ein Verhalten am Sonntag, das nicht von Normen und Gesetzen erreicht werden kann. Darüber kann zunächst nur der Einzelne Rechenschaft ablegen. In letzter Zeit – so scheint mir – gibt es jedoch eine zusätzliche Häufung von Terminabsprachen vor allem in der Politik am Sonntag. Gemeint sind nicht Wahlkampfzeiten und einzelne Parteitage. Vielmehr scheint die Zeit zur Beratung ordentlicher Regierungsaufgaben und für Absprachen zwischen den Parteien regelrecht zu fehlen, sodass man immer mehr den Sonntag in Anspruch nimmt. Vielleicht ist dieser Missbrauch des Sonntags nur zeitbedingt und gleicht sich wieder aus.

In Wirklichkeit ist nämlich gerade dieser Missbrauch des Sonntags für die Politiker höchst schädlich. Ein Beruf, der ohnehin von Druck, Stress und Hektik gekennzeichnet ist, braucht noch dringender Ruhezeiten und wenigstens kleine Oasen der Besinnung. Bei dieser Überforderung verwundert es auch niemand, dass Freundschaften und Partnerschaften, besonders Ehen und Familien darunter noch mehr leiden und auch beschädigt werden. Aber auch der Politik selbst würde ein stärkeres Nachdenkenkönnen ganz gewiss nur gut tun.

Vor diesen Gefahren ist niemand sicher. Deshalb wird auch kein Stein auf andere geworfen. Auch die Kirche muss sich immer wieder Rechenschaft geben, ob sie trotz des Eintretens für Besinnung, Gottesdienst und Gespräch füreinander am Sonntag genügend dafür Raum gibt. Jedenfalls ist hier eine Grundforderung des jüdisch-christlichen Ethos angesprochen, die eine große humanisierende und durchaus rational einsehbare Wirkung hatte und hat, die für alle gilt: „Achte auf den Sabbat: Halte ihn heilig, wie es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht hat.“ (Dt 5,12)

© Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz