Sehr geehrte Damen und Herren,
die Eröffnung der 45. Fastenaktion von MISEREOR findet in diesem Jahr in Mainz statt. Ich möchte die Gelegenheit deshalb wahrnehmen, an die Gründung dieses Werkes durch die deutschen Bischöfe 1958 zu erinnern. Die deutschen Bischöfe haben damals MISEREOR beauftragt, allen Menschen, die sich in Afrika, Asien und Lateinamerika in Not und Elend befinden, unabhängig von ihrer Rasse, Religion und ihres Geschlechts zu helfen. MISEREOR wurde komplementär zu den bestehenden kirchlichen Werken gegründet und erhielt deshalb von den Bischöfen keinen unmittelbaren missionarischen Auftrag zugewiesen, sondern sollte die Not und das Elend in der Welt bekämpfen. „Abenteuer im heiligen Geist“ nannte Kardinal Frings damals diese Idee, die sich in der Folgezeit als segensreich herausgestellt hat.
Dabei möchte ich besonders das große Verdienst der Gründer und der folgenden Hauptgeschäftsführer erwähnen. Prälat Dr. theol. h.c. Dossing hat dabei das grundlegende Verdienst, die damals keineswegs – wie heute – fast selbstverständliche Konzeption „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu entwerfen und durchzusetzen, was gerade heute von den Entwicklungsexperten als eine besonders große Leistung gewürdigt wird. Organisierte Selbsthilfe kann die Situation der Betroffenen verbessern aber auch auf die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen einwirken. MISEREOR baut dabei auf ein Netz von Partnerorganisationen in der Dritten Welt. Im Übrigen ist MISEREOR so etwas wie die „Fachstelle“ für die Entwicklungsarbeit der Kirche in unserem Land.
In der Inlandsarbeit fördert MISEREOR die weltweite Solidarität zugunsten der Armen in der Dritten Welt. Innerhalb der Kirche soll durch die alljährliche Fastenaktion zur Österlichen Bußzeit eine Erneuerung des religiösen Lebens erreicht werden, in der die Option für die Armen im Mittelpunkt steht. In diesem Zusammenhang hat Misereor darüber hinaus eine wichtige pastorale Aufgabe in allen deutschen Pfarrgemeinden zu erfüllen: Es muss die weltkirchliche Dimension des Engagements im Leben der Gemeinde in der Fastenzeit fest verankert werden. Als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz habe ich nach vielen Jahren von Kontakten mit MISEREOR und mit den Partnern sehr hoch zu schätzen gelernt, und bitte die Menschen in unserem Land, die Arbeit von MISEREOR hier in Deutschland und im Süden nachhaltig zu unterstützen.
In zahlreichen Aktionen, ausgehend von der Eröffnung in diesem Bistum, stellt MISEREOR in diesem Jahr die Frage: „Wem gehört die Welt?“ Eine Frage, die die Armen tagtäglich empfinden, wenn sie über kein sauberes Trinkwasser verfügen und deshalb von Krankheit und sogar Tod heimgesucht werden. Bauern auf den Philippinen fragen sich: „Wem gehört die Welt?“, wenn sie nicht mehr – wie vorher – patentfreies Saatgut zum Anbau ihrer täglichen Nahrung erhalten können, weil große Konzerne dieses über Jahrtausende herausgebildete Kulturgut der Armen für sich patentieren lassen. Deshalb ist es wichtig, dass MISEREOR auch in solchen Fragen Gerichte daran erinnert, dass es keine Patente auf die Grundlagen von Lebensmitteln geben darf. Wie ist es mit dem Zugang zur Gesundheitsversorgung bestellt, wenn Menschen in Afrika frühzeitig an Aids sterben, weil sie die notwendigen Medikamente zu für sie erschwinglichen Preisen nicht erhalten können? „Wem gehört die Welt?“ fragen wir uns auf der ganzen Welt aber auch in diesen Tagen, wenn der Frieden einer großen Region erheblich in Gefahr gerät und unabsehbare Folgerungen nach sich ziehen kann. Ich verweise in diesem Zusammenhang nochmals auf die eindeutigen Stellungnahmen, die – allen voran Papst Johannes Paul II. – die Bischöfe gemeinsam veröffentlicht haben und auch an das Friedenswort der deutschen Bischöfe „Gerechter Friede“, das im September 2000 vorgestellt wurde. Wir appellieren gerade heute nochmals an die Politik, sich weiterhin, solange dies nur möglich ist, aktiv nach einer friedlichen Lösung im Irak-Konflikt unermüdlich zu suchen und sich nicht gegeneinander zu verschließen.
Verstärkt stellen wir fest, dass ethische Fragen, dass Fragen des Lebensschutzes, Fragen der Gerechtigkeit und des Friedens unmittelbar auch mit dem Gefälle zwischen Arm und Reich zusammenhängen. Diese Fragen bewegen uns hier in Deutschland, und zu oft fehlt dabei das Bewusstsein, welche Auswirkungen sie auf die Lebenssituation der Menschen in den Armutsregionen der Erde haben. Als Werk der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit muss Misereor sich weiterhin aktiv am Dialog in unserer Gesellschaft beteiligen. Dafür brauchen wir MISEREOR heute wie vor 45 Jahren. Ich bin fest überzeugt, dass MISEREOR dabei Anwalt der Armen im Süden ist und bleibt und so wirksam hilft, die Ursachen von Not und Elend zu bekämpfen. In der direkten Hilfe sollen die Menschen im Süden befähigt werden, mit ihren eigenen Kräften selbstgestaltend ihre Lebensverhältnisse langfristig zu verbessern. Die deutschen Bischöfe haben MISEREOR gegründet, damit es als Brücke zwischen Nord und Süd mehr Gerechtigkeit in diese Welt bringt. Mit der bundesweiten Eröffnung der MISEREOR-Aktion hier in Mainz wollen wir ein Zeichen setzen, dass wir auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten weltkirchliche Verantwortung übernehmen. Ich bitte alle katholischen Mitchristen, insbesondere am 5. Fastensonntag, um eine großherzige Gabe.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz