Statement bei der Einweihung und Segnung der Malteser Migranten Medizin – Praxis

beim Festakt am Donnerstag, 21. Dez. 2006, in Darmstadt, Marienhospital

Datum:
Donnerstag, 21. Dezember 2006

beim Festakt am Donnerstag, 21. Dez. 2006, in Darmstadt, Marienhospital

Wir wissen heute besser als früher, dass wir trotz des Wohlstandes nicht nur Arme in der Ferne, sondern auch mitten unter uns haben. Die Sorge, dass unsere Gesellschaft sich immer mehr spaltet, ist kein Schreckgespenst mehr. Es gibt auch bei uns hungernde Kinder. Die Suppenküchen und die so genannten „Tafeln“ in vielen Großstädten zeugen von der gestiegenen Not. Davor wollen wir gerade auch an Weihnachten nicht die Augen verschließen.

Es gibt unter den Menschen, die unserer Aufmerksamkeit bedürfen, aber auch solche, die in ganz besonderer Weise in Vergessenheit zu geraten drohen. Wir haben bis jetzt kein gutes Wort in unserer Sprache für sie. Gewöhnlich sagen wir „Illegale“. Dies gilt auch für andere Sprachen (vgl. z.B. „clandestini“, „sans-papiers“). Es sind Menschen, die ohne Aufenthaltsrecht und Duldung in unserem Land leben. Es ist kein Randthema in unserer Gesellschaft. In praktisch allen Ländern der Erde ist der mehr oder weniger rechtlose Aufenthalt von Zuwanderern eine fest etablierte Erscheinungsform der Migrationen. Die Deutsche Bischofskonferenz, die schon seit 1995 immer wieder auf dieses Phänomen hingewiesen hat, hat 2001 in der Handreichung der Kommission für Migrationsfragen „Leben in der Illegalität in Deutschland – eine humanitäre und pastorale Herausforderung“ (Die deutschen Bischöfe, Kommission für Migrationsfragen 25, Bonn 2001) die Existenz von 500.000 bis eine Million solcher Menschen geschätzt, denn selbstverständlich kann es darüber keine Statistik geben.

Diese Personen halten sich aus unterschiedlichen Gründen bei uns auf. Manche kommen zu ihren rechtmäßig in Deutschland lebenden Familienangehörigen, haben aber selbst kein Nachzugsrecht. Andere sind Opfer von Menschenhandel geworden, was besonders für den „Frauenhandel“ gilt. Wieder andere sind politische Flüchtlinge, die z.B. keinen Asylantrag stellen, weil sie meinen, nicht anerkannt zu werden. Solche, die eine begrenzte Duldung haben, tauchen manchmal aus Angst vor Abschiebung ab. Viele kommen auch zu uns, um durch Arbeit auf dem großen Schattenarbeitsmarkt das wirtschaftliche Überleben ihrer Familie in der Heimat zu sichern. Viele sehen in ihren Heimatländern keine Chance auf ein gesichertes Aufenthaltsrecht in ihrer Heimat und ziehen dauerhaft ungesicherten Lebensverhältnissen in ihrem Heimatland die Illegalität vor.

Wir können uns einen solchen rechtswidrigen Aufenthalt in seinen konkreten täglichen Auswirkungen kaum vorstellen. Durch die faktische Rechtslosigkeit sind Menschen ohne Aufenthaltsrecht und ohne Duldung vielen Bedrohungen, Belästigungen, Erpressungen und Ausbeutungen aller Art ausgeliefert. Wenn Rechtsansprüche bestehen, lassen sie sich nur sehr schwer durchsetzen. Menschen in diesem Status fürchten dabei auch immer eine Ausweisung. Das größte Problem ist die nackte Existenzsicherung, d.h. Arbeit zu finden, die auch tatsächlich nach den erbrachten Leistungen entlohnt wird. Im Blick auf Arbeitslohn und zu bestreitende Miete gibt es viele Gefahren der Ausbeutung.

Menschen in der „Illegalität“ führen eine merkwürdige Existenz. Eigentlich existieren sie für uns überhaupt nicht. Sie zählen nicht. Wenn sie auffallen, befinden sie sich in der Gefahr von Ausweisung und Abschiebung. Wir wissen, dass es sie gibt, aber wir tun so, als ob es sie nicht gäbe. Dies ist eine Fiktion, die nicht nur das Elend der „Illegalen“ wiederspiegelt, sondern auch unser gespaltenes Bewusstsein anzeigt. Deshalb ist es zu begrüßen, dass sich im Lauf der letzten Jahre die Sensibilität für diese Not verbessert hat. Es gibt manche Initiativen, die man z.B. im Internet unter dem Stichwort „Illegalität“ finden kann.

Die Kirche hatte sich immer schon für diese Menschen eingesetzt. Denn sie haben sich nicht selten aus ihrem Schattenleben herausgewagt und sind in den kirchlichen Gemeinden aufgetaucht. Dort glaubten, sie ein stückweit Aufnahme finden zu können. Dies gilt besonders in Notsituationen. Die Kirche musste auch vom Evangelium her über die Einsatzbereitschaft einzelner Pfarrgemeinden hinaus die humanitäre und pastorale Herausforderung annehmen. Schließlich sind die Armen im Sinne der Bibel die ersten Adressaten der Botschaft vom ganzheitlichen Heil des Menschen, das auch die konkreten Lebensbedingungen einschließt. Seelsorge meint in diesem Sinne das Heil und Wohl des Menschen in seiner leiblichen und seelischen Existenz. „Deshalb sind auch Menschen, die ein Leben in der Illegalität führen, vom Auftrag der Kirche nicht ausgenommen. Sie sind nicht ‚draußen’, sondern stellen den Innenbereich christlicher Gottesbeziehung dar. Jesus Christus identifiziert sich mit ausgegrenzten und vergessenen Menschen so weit, dass er sagen kann: ‚Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.’ (Mt 25,40) Die Kirche kann es sich deshalb nicht nehmen lassen, für die Achtung der Menschenwürde aller Menschen einzutreten und diese gerade in gefährdeten Situationen anzumahnen. Gleichzeitig müht sie sich darum, den Menschen das Heil in seiner ganzheitlichen Vollendung zu verkünden und zu vermitteln. Sie geht damit über eine reine Menschenrechtspolitik hinaus.“ (Leben in der Illegalität in Deutschland, 10)

Vor diesem Hintergrund entstand im Jahr 2004 das Katholische Forum Leben in der Illegalität mit dem Sitz in Berlin. Es handelt sich dabei vor allem um eine koordinierende Organisation, die auch vom Deutschen Caritasverband, dem Malteserorden und dem Flüchtlingsdienst der Jesuiten unterstützt wird. Durch entsprechende Veranstaltungen mit Experten versucht das Forum auch, die Gesellschaft an diese Aufgabe zu erinnern und Hilfestellungen anzumahnen. Diese Ziele können nur erreicht werden, wenn verschiedene Träger kirchlicher Arbeit ihre Kräfte bündeln und die vielfältigen Handlungskonzepte und Aktivitäten im kirchlichen Raum miteinander verbinden. Dies ist auch der Grund, warum die deutschen Bischöfe durch die Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz und ihrem Vorsitzenden, Weihbischof Dr. Josef Voß (Münster), eng mit diesen Initiativen verbunden sind.

Anstöße zu dieser Aktivität ergeben sich nicht nur von den fundamentalen Aufforderungen der Bibel her. Auch unser Grundgesetz erinnert uns an diese grundsätzliche Aufgabe: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Art. 1, Abs. 1 GG) Schon früh haben auch die Päpste darauf hingewiesen: „Der Status der Ungesetzlichkeit rechtfertigt keine Abstriche bei der Würde des Migranten, der mit unveräußerlichen Rechten versehen ist, die weder verletzt noch unbeachtet gelassen werden dürfen.“ (Papst Johannes Paul II., Botschaft zum Welttag der Migranten 1995, Nr. 2). Wir haben auch ökumenisch auf diese Not hingewiesen (vgl. das Gemeinsame Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht „... und der Fremdling, der in deinen Toren ist“, Bonn/Hannover 1997, Nr. 64 ff.).

Zu den fundamentalen Herausforderungen gehören, wie schon erwähnt, die Existenzsicherung, vor allem das Finden von Arbeit, der Schulbesuch der Kinder und nicht zuletzt die prekäre Lage, wenn die Illegalen krank sind. Dabei spielen die Situation von Schwangerschaft und Geburt eine zusätzliche und wichtige Rolle. So hat die Handreichung der Kommission für Migrationsfragen im Jahr 2001 für diesen Bereich bereits folgendes zusammenfassend formuliert: „Ein weiteres Problem liegt bei der Gesundheitsfürsorge. Dies betrifft insbesondere stationäre Aufenthalte und die Behandlung von vor allem lebensbedrohlichen und oft auch ansteckenden Krankheiten. Besonders schwierig ist auch die Situation bei Schwangerschaft bzw. der Geburt eines Kindes. Illegalität ist oft der Anlass für eine heimliche Abtreibung. Ärztliche Kontrolluntersuchungen werden häufig aus Kostengründen unterlassen, nicht selten wird aus Angst davor, entdeckt zu werden, eine Hausgeburt vorgenommen ohne Beteiligung von Ärzten oder Hebammen.“ (S. 9)

Vor diesem Hintergrund hat der Malteser Hilfsdienst in den letzten Jahren eine neue Initiative geschaffen, nämlich „Malteser Migranten Medizin“, also Hilfe für Menschen ohne Krankenversicherung, ganz besonders für Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus. Es geht dabei vor allem um die Hilfe eines Arztes, der die Erstuntersuchung und vor allem auch Notfallversorgung bei plötzlicher Erkrankung, Verletzung oder auch einer Schwangerschaft übernimmt. Da viele Patienten dieser Art keine Praxis oder ein Krankenhaus aufsuchen wollen oder können, erhalten diese Menschen auch Hilfe unter Wahrung der Anonymität. Vernetzungen und Kooperationen mit Kirchen, Verbänden und Vereinen, ermöglichen weiterführende Hilfen, wobei es vor allem um die Vermittlung an Fach- und Beratungsstellen geht.

Es gehört zu den herausragenden Zeichen der Hilfe für Bedürftige, dass in den letzten Jahren und Jahrzehnten für solche Situationen Träger der Hilfe gefunden werden konnten. In diesem Fall ist es der Malteser Hilfsdienst, der zunächst einmal nach Diözesen geordnet ist. Die „Malteser“ haben bereits in mehreren Bistümern eine Anlaufstelle für diese „Malteser Migranten Medizin“ geschaffen. Ich bin allen Beteiligten von ganzem Herzen dankbar, dass dies nun auch im Bistum Mainz Wirklichkeit geworden ist. Ich danke dem Malteser Hilfsdienst der Diözese Mainz, ganz besonders dem Leiter Herrn Dr. Michael C. de Frênes und dem Diözesangeschäftsführer, Herrn Markus Schips für die Verwirklichung dieser Initiative. Nicht minder möchte ich aber auch den Schwestern der Göttlichen Vorsehung, ganz besonders der Provinzoberin, Sr. M. Liberata Ricker, danken, denn die Schwestern haben das Marienhospital in Darmstadt nicht nur als Anlaufstelle zur Verfügung gestellt, sondern sie stellen auch für die Erstversorgung die medizinischen Einrichtungen dieses Hauses zur Verfügung. Ich bin dankbar, dass sich erstaunlich viele Ärzte für diesen Dienst zur Verfügung gestellt haben. Dies ist eine wichtige Perspektive für das Arztbild in unserer Gesellschaft, das manchmal aus den Fugen geraten ist. Zugleich bedanke ich mich bei vielen Menschen, die vor allem ehrenamtlich mithelfen wollen. Nicht zuletzt darum habe ich auch deshalb die Schirmherrschaft für diese Aktion im Bistum Mainz unternommen. Ich freue mich, dass in nächster Zeit offenbar noch viele andere Diözesen hinzukommen. Zugleich danke ich den „Botschaftern“ der Malteser Migranten Medizin. Im Bistum Mainz besonders dem aus Bingen stammenden Dr. Peter Frey, Leiter des ZDF-Hauptstadtstudios in Berlin.

Ich freue mich, dass wir wenige Tage vor Weihnachten das Wirken dieser Initiative öffentlich bekannt machen dürfen. In den Texten der Adventszeit ist immer wieder davon die Rede, dass das Volk aus dem Dunkel kommt und oft lange im Dunkel wandert. Im Anschluss an die Bibel hat deshalb einmal Bert Brecht formuliert: „Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Wenigstens an einer Stelle wollen wir diese Dunkelheit gerade auch von Weihnachten her aufhellen und lichten. Schließlich ist die Tiefe und die Bedeutung der Würde des Menschen – über unsere allgemeinen Argumente hinaus – sehr gut im Geheimnis von Weihnachten, der Menschwerdung Gottes begründet. Aber schließlich hat auch das, was wir hier gründen, etwas mit der Weihnachtsgeschichte zu tun. Denn es ist nach dem Evangelium das junge Paar unterwegs: „Als sie dort (in Betlehem) waren, kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.“ (Lk 2,6 f.) Schließlich wird diese Heimatlosigkeit auch in der Familie Jesu bezeugt durch die Flucht nach Ägypten. „Steh auf – sagt ein Engel des Herrn dem Josef im Traum, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten; dort bleibe bis ich dir etwas anderes auftrage; denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten. Da stand Josef in der Nacht auf und floh mit dem Kind und dessen Mutter nach Ägypten. Dort blieb er bis zum Tod des Herodes.“ (Mt 2,13 ff.)

Es ist also ein eindrucksvolles Zeichen, wenn wir unmittelbar vor Weihnachten mit einem herzlichen Vergelt´s Gott an alle Beteiligten die „Malteser Migranten Medizin“ in Darmstadt einweihen und besonders für die Menschen, die hier Hilfe suchen, den Segen Gottes erbitten.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz