Staunen vor dem Leben als bleibender Imperativ
I.
Die Lebenswissenschaften lassen uns teilnehmen an den geradezu dramatischen Veränderungen des Embryos in seiner frühesten Zeit, an der Anlage aller lebenswichtigen Systeme und der bald einsetzenden Ausbildung der Organe. In einer immer wieder erstaunlichen Weise sind von Anfang an die späteren Entwicklungen eines Menschen genetisch angelegt. Es darf hier aber nicht auf einen bloßen Automatismus der Entwicklung geschlossen werden. Bei aller Eigenentwicklung, die auch durch die schon frühe Selbststeuerung des Embryos in der Entwicklung ihren Ausdruck findet, ist die Aufnahme in den Mutterschoß ein entscheidendes Ereignis, das für die Zukunft erst weiteres Leben ermöglicht. Diese Abhängigkeit von der Mutter darf aber nicht verdecken, dass der Embryo bereits ein individuelles menschliches Lebewesen ist, das ein eigenes Recht auf seine Existenz hat und darum auch Achtung vor ihm verlangt.
Diese Ansicht ist umstritten, jedenfalls wenn man genauer nach dem Beginn und vor allem der Schutzwürdigkeit und -bedürftigkeit des menschlichen Lebens fragt. Es ist nicht so leicht zu entscheiden, ob dies schon von Anfang an, d.h. von der Verschmelzung von Eizelle und Samen, gegeben ist. Man kann die Antwort nicht ausschließlich von den so genannten „Fakten“ her ableiten. Sie bedürfen auf jeden Fall immer schon der Interpretation und unterliegen auch stets einer wenigstens impliziten Deutung. Es hätte aber auch wenig Sinn, über die feststellbaren Tatsachen hinaus und ohne Rücksicht auf sie zu ethischen oder religiösen Folgerungen zu kommen. Es bedarf ständig des Diskurses zwischen den Lebenswissenschaften und der anthropologisch-ethischen Reflexion, zu der schließlich auch die religiöse Sicht gehört.
Ich bin der festen Überzeugung, dass der Embryo von Anfang an Mensch ist. Ich habe an anderer Stelle diese Überzeugung auch im Rückgriff auf eine umfassende Literatur begründet, die hier nicht wiederholt zu werden braucht. Dabei gehe ich von der Überzeugung aus, dass das Kontinuums-, Identitäts- und Potenzialitätsargument zwar durchaus auf ernstzunehmende Einwände stößt, schließlich aber doch zu Gunsten der eben zum Ausdruck gebrachten These spricht, dass der Embryo von Anfang an Mensch ist.
Diese Überzeugung wird aus sehr unterschiedlichen Motiven und mit recht verschiedenen Argumenten bestritten. Sie reichen von der Annahme einer abgestuften Entwicklung, die auch die Schutzbedürftigkeit des Embryo graduell bestimmt, bis zu dezidierten Überzeugungen, dass nur die Nidation aus dem menschlichen Lebewesen, dessen Existenz man nicht bestreitet, einen zukunftsfähigen Menschen macht. Erst recht überrascht dieses Argument, wenn man dem „Invitro“ gezeugten Embryo in dieser Situation, die für sich allein betrachtet wird, keine künftige Lebenschance zuspricht, sodass rückwirkend auch der Anspruch auf die Menschenwürde fraglich erscheint.
Die Auseinandersetzung mit solchen Anschauungen ist von größter Bedeutung. Sie muss primär auf dem wissenschaftlichen Sektor im Sinne des oben erwähnten Diskurses stattfinden. Hier kann keine Seite der anderen einfach diktieren. Es ist jedoch auch kein Geheimnis, dass alle Positionen in diesem Bereich auch mitbestimmt sind von stark politisch orientierten Überzeugungen hinsichtlich der Zulassung mancher bioethischer Experimente, die wiederum mit einem bestimmten Forschungsinteresse und auch wirtschaftlichen Erwartungen zusammenhängen. Wie sehr hier grundlegende Differenzen die Meinung auf allen Ebenen bestimmen, zeigen exemplarisch die unterschiedlichen Ergebnisse z.B. der Enquête-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages (14. Wahlperiode) und des Nationalen Ethikrates.
II.
Ich möchte in diesem Beitrag einen anderen Zugang zur Problematik versuchen, der bisher weniger erörtert wurde. Die Forschung offenbart ja in ungeahnter Weise das Wunder des Lebens. Daran muss jede Reflexion anknüpfen. Denn das Erstaunen vor diesem Wunder des Lebens muss differenziert werden. Es gibt ja verschiedene Zugangsweisen zur Wirklichkeit. Wir reden mit Recht von der Pluralität der Erkenntniswege. Dabei zeigt sich auch, dass die Wissenschaft nicht der einzige Zugang zur Wirklichkeit ist. Der Pluralismus der Zugänge bringt auch eine Relativierung von Überzeugungen und Wahrheiten mit sich. Dies ergibt eine ambivalente Mischung. „Wer viele ‚Wahrheiten‘ ausprobiert hat, wird bescheidener, tolerant, pluralistisch (...). Der Pluralismus ist allerdings auch eine problematische Herausforderung; in seinem Schatten nistet ein Relativismus, der nicht zu akzeptieren ist. Menschenwürde und Menschenrechte sind nicht relativierbar.“ Umso wichtiger ist es, die jeweiligen Zugangsweisen und Annäherungen in ihrer eigenen Ausrichtung, Form und Struktur zu akzeptieren.
Dies dürfte eigentlich nicht so neu sein. Schon von der frühen Phänomenologie her wissen wir, wie sich der Erkenntnisakt auf sein „Objekt“ bezieht, und dass sich Noema und Noesis gegenseitig bedingen. Dies hat verschiedene Erkenntnisse an den Tag gebracht, die heute unersetzlich sind. So braucht man zur Annäherung an den Bereich des Göttlichen und eines Gottes das Heilige, in dem Gott wohnt. Ohne die Erfahrung des „fascinosum“ und des „tremendum“ im Sinne der neueren Phänomenologie der Religion gibt es auch kaum einen Zugang zu dem Gott, vor dem man die Knie beugt, und zu dem man betet.
In diesem Zusammenhang scheint es mir eine echte Frage zu sein, wie wir uns dem Leben annähern und gerade zum anfänglichen Wesen des menschlichen Lebens einen authentischen Zugang gewinnen. Das ist nicht schlechthin die einzige Annäherung. Aber es darf auch nicht einfach übergangen oder ganz verdrängt werden. Diese Frageweise ist für das Verständnis des menschlichen Embryo von besonderer Bedeutung. Was klein und unscheinbar ist – am Anfang nur der Bruchteil eines Millimeters –, kann offenbar rasch dazu verleiten, den Embryo nur aus der Perspektive der menschlichen Absichten und Ziele zu verstehen. Die Kleinheit und Abhängigkeit vom menschlichen Tun und Unterlassen suggeriert in besonderer Weise die verführerische Haltung, auch über den Embryo zu verfügen. Es ist dann kein weiter Weg, verbrauchend – und damit vernichtend – über anderes menschliches Leben herrschen zu wollen, auch und gerade, wenn es so winzig ist.
Es ist entscheidend, wie man der Wirklichkeit begegnet. Die Lebenswissenschaften haben uns in den letzten Jahrzehnten faszinierende Einblicke geschenkt in die Entwicklung eines menschlichen Embryos. Durch die Möglichkeiten einer hochentwickelten Technik können wir auf eine filmische Reise durch den menschlichen Körper mitgehen. Nicht zufällig heißt der Film-Titel z.B. des schwedischen Fotografen Lennart Nilsson „Faszination Liebe“ oder ähnlich ein Buch von Rainer Jonas „Der wunderbare Weg ins Leben“ . Dies gilt nicht nur für die gesamte Entwicklung von der Empfängnis bis zur Geburt, sondern besonders auch in den ersten Stunden und Tagen des menschlichen Embryos. Wir können erkennen, was für eine riskante Reise die mit dem bloßen Auge nicht erkennbare Eizelle von der Befruchtung bis zur Einnistung überstehen muss. Es gibt unendlich viele Gefährdungen, aber gerade dadurch ist es auch ein Wunderwerk, wie sich das ungeborene Leben in den geglückten Fällen durchsetzt. Wie kann aus einer einzigen Eizelle ein solch differenziertes Lebewesen wie ein Mensch entstehen? Von Anfang an suchen plötzlich bestimmte Zellen zueinander den Kontakt, um sich zu verbinden, aber auch ihre je eigene Aufgabe zu übernehmen.
Hier ist bereits unsere Sprache verräterisch. Wie gehen wir auf die Wirklichkeit zu, die sich uns erschließt, wenn wir diese wunderbare Welt des vorgeburtlichen Lebens als „Zellhaufen“ bezeichnen oder nur vom „Material“ und „Rohstoff Embryo“ sprechen? Kein Wunder, dass gelegentlich Forscher erklären, wenn man sie auf die Rechte und Würde eines Embryos anspricht, sie wüssten überhaupt nicht, wovon man rede. Oder gibt es langsam – auch durch bestimmte Einstellungen, Gewohnheiten und Routine – Verhaltensweisen, die dieses Abenteuer der Entstehung des menschlichen Lebens zurückdrängen oder gar vergessen lassen? Oder wie kommt man sonst zur Rede vom bloßen „Zellhaufen“?
Hier muss man zurückkehren zum Staunen des Menschen vor dem Wunder des Lebens. Dies ist ein uraltes Thema, das neu Aufmerksamkeit verdient. Zu grundlegender philosophischer Bedeutung gelangt der Begriff des Staunens durch die von Platon und Aristoteles getroffene Aussage, das Staunen sei der Anfang der Philosophie schlechthin. Dabei gibt es schon zu Beginn der Reflexion darüber recht verschiedene Nuancen. Das Staunen wird nämlich einerseits als Ausdruck einer Unwissenheit verstanden. Es kann jedoch zunächst einmal durch die intellektuelle Neugierde den Erkenntnisprozess initiieren. Das Staunen hat also eine wirklich erschließende Kraft und hat dadurch auch eine rationale Komponente, die durchaus etwas mit Einsicht zu tun hat. Aber es ist kein Zweifel, dass durch diese Erkenntnis das Staunen auch aufgehoben wird. Dies scheint stärker die aristotelische Linie zu sein, während die platonische Tradition im Staunen nicht nur den Ursprung des Denkens, sondern letztlich auch das Ziel der Philosophie sieht, insofern die Schau der höchsten Idee mit Staunen verbunden ist. Das stoische Denken hat das Staunen eher aus dem Denken eliminieren wollen, denn es gilt als Ausdruck einer unkontrollierten Leidenschaft („pathos“), sodass die Freiheit vom Staunen als eigentliche Weisheit gilt. Die mit Blick auf die Unerschütterlichkeit und Leidenschaftslosigkeit des Weisen verlangte Staunenslosigkeit soll den Menschen, vor allem aber seine Seele, vor jeder Unfreiheit bewahren. Berühmt ist die Wendung des Dichters Horaz: „Nichts anstaunen: Nur dies im Grunde, dies allein kann Menschen glücklich machen und erhalten.“ Das Staunen ist so ein beeinträchtigender Affekt, der eher zu meiden ist.
Es lässt sich jedoch nicht verkennen, dass dieses Verständnis des Staunens eine weithin wirksame Nachgeschichte hat. Aber dies ist nicht die einzige Komponente. Augustinus, der durchaus diese Tradition kennt, weiß auch um das Verwundern, das den Menschen angesichts der Größe und Macht z.B. des Gedächtnisses ergreift, und er weiß um die Bewunderung, mit der die Menschen die Natur betrachten. Das Staunen mündet in die Bewunderung der unergründlichen Weisheit Gottes, die dem bloßen Erkennen der Welt gegenübergestellt wird. In dieser Linie gehört das Staunen auch für die großen mittelalterlichen Lehrer zu den Haltungen, die der göttlichen Majestät und Herrlichkeit in sich selbst und in ihrem Wirken zugeordnet und angemessen sind. In diesem Sinne kann z.B. das Staunen eine Vorstufe des Glaubens sein. So entsteht das Staunen nicht allein aus der Unkenntnis über die Ursachen, sondern auch dann, wenn die Ursache über die Erkenntnis und das Fassungsvermögen des Menschen hinausgeht. Das Staunen wird so auch das Kennzeichen für etwas Neues, das entdeckt wird. Es ist jedoch leicht erkennbar, dass viele Stränge des neuzeitlichen Denkens dahin führen, die Bewunderung als „Tochter der Unwissenheit“ zu bezeichnen. Doch gilt das Staunen im Sinne der klassischen griechischen Tradition immer noch als Ursprung und Ziel des philosophischen Denkens. Auf die einzelnen Unterscheidungen zwischen Staunen, Bewunderung und Verwunderung braucht hier nicht ausführlicher eingegangen zu werden.
Es ist nicht zu übersehen, dass das Denken im 20. Jahrhundert in mancher Hinsicht hier eine Änderung des Ranges des Staunens mit sich bringt. Für E. Husserl ist das Staunen noch weitgehend eine Vorstufe zur „Theoria eigentlicher Wissenschaft“ und eine „Abwandlung der Neugier“. M. Scheler unterscheidet die Verwunderung von Erschrecken und Verblüffen. Diese Verwunderung kann durch den gewohntesten Gegenstand hervorgerufen werden. M. Heidegger hat bereits in „Sein und Zeit“ das Staunen grundlegend von der Neugierde abgegrenzt. „Die Neugier hat nichts zu tun mit dem bewundernden Betrachten des Seienden, dem ‚thaumazein‘, ihr liegt nicht daran, durch Verwunderung in das Nichtverstehen gebracht zu werden, sondern sie besorgt ein Wissen, aber lediglich um gewusst zu haben.“ Nicht wenige Philosophen wie E. Bloch, E. Fink, J. Pieper und W. Weischedel sowie K. Jaspers haben die Deutung des Staunens für die Frage nach Ursprung und Wesen des Denkens kräftig hervorgehoben. Nach H. Arendt erfährt das „erschütterte Staunen angesichts des Wunders des Seins“, das zunächst sprachlos macht, eine Klärung durch das Denken, jedoch ist – nun gewiss in anderer Weise – Ende und Ziel des Philosophierens ein begrifflich und philosophisch geklärtes Staunen, das der wahren „Theoria“ entspricht. Für E. Lévinas ist schließlich die Sprache eine Möglichkeit, zuvor absolut Fremdes zu erfahren, in diesem Sinne „reine Erkenntnis“ oder, wie er formuliert, „Trauma des Staunens“.
Denker, die sich eher an der klassischen Philosophie orientieren, haben in ihren Reflexionen stärker auf die bleibende Bedeutung des Staunens geachtet. Dies kann man z.B. besonders auch im Werk Josef Piepers erkennen. Es ist auch nicht zufällig, dass das Staunen dicht bei der Suche nach Wahrheit liegt, und sich Dichten und Denken im Staunen besonders nahe kommen.
III.
Je mehr die Wissenschaft die einzige Zugangsweise zur Welt zu werden scheint, um so mehr ist das Staunen als eigener und unableitbarer Zugang zur Wirklichkeit eine elementare Herausforderung. Dies wird bei fast allen Philosophen offenkundig, die ein „neues Denken“ versuchen. Dies wird z.B. anschaulich beim späten Wittgenstein, der immer stärker die Überzeugung vertritt, die moderne, besonders auch technisch-wissenschaftliche Lebensweise entfremde den Menschen immer mehr von sich selbst. Er erkenne nicht mehr die „Bedeutsamkeit“ der Dinge und verfehle ihre Tiefendimension. Darum ist der heutige Mensch in Wahrheit primitiv, „wenn er glaubt, die Erklärung der Wissenschaft könne das Staunen heben“. Im Gegenteil: „Zum Staunen muss der Mensch – und vielleicht Völker – aufwachen. Die Wissenschaft ist ein Mittel, um ihn wieder einzuschläfern.“ So kann es zur Aussage kommen: „Die Wissenschaft: Bereicherung und Verarmung. Die eine Methode drängt alle anderen beiseite. Mit dieser verglichen scheinen sie alle ärmlich, höchstens Vorstufen. Du musst zu den Quellen niedersteigen, um sie alle nebeneinander zu sehen, die vernachlässigten und die bevorzugten.“
Dies erinnert nicht nur an E. Husserls „Krisis“ und die Gedanken von H. Jonas´ späterem Denken, sondern auch an die Spätwerke von H. Arendt und M. Heidegger. Auch bei E. Bloch finden sich schon früh „Spuren“ dafür. Auch der späte Habermas ist nicht weit weg. Schließlich sei aus jüngster Zeit noch Ernst Tugendhat genannt, der sich lange Zeit mit klassischer und angelsächsischer Ethik und Sprachanalyse beschäftigt hat. Er beschließt sein Buch „Egozentriziät und Mystik“ mit einem Kapitel, dessen Titel lautet: Staunen. Er bezieht sich dabei ausführlich auf Wittgenstein. Dabei geht es vor allem um die Aussage, „wie erstaunlich, dass wir darüber staunen können, dass es etwas (oder: die Welt) gibt.“ Das Staunen hilft am meisten, die Egozentrizität des heutigen Menschen im Bezug zu anderen und angesichts der Welt zu relativieren. Dieses Zurücktreten vor dem „Ich“ bezeichnet Tugendhat auch als Mystik.
Das Staunen gewinnt die Bejahung der Welt und die Dankbarkeit dafür, dass sie ist („das Wunder der Wunder“), zurück, wie es besonders beim Denken und Dichten geschieht. Der spätere Heidegger hat in einer Vorlesung „Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte ‚Probleme‘ der ‚Logik‘“ durch das Staunen wohl von den Denkern des 20. Jahrhunderts die Frage am ausführlichsten behandelt. Das Gewöhnlichste wird aus dem Jahr 1937/38 im richtigen Verstehen dessen, was ist, zum Ungewöhnlichsten.
Nun bleibt zu fragen: Gilt dies nicht ganz besonders für das unscheinbare und unauffällige Geheimnis des Lebens? Für Leben, das sich selbst bewegt? Für Leben, das in der Selbstverständlichkeit des Hervortretens aus seinem verborgenen Urgrund wirkt? Für Leben, das so winzig und ohnmächtig ist, dass wir es übersehen, es leicht unseren Zwecken unterordnen und so eher verstecken?
Die heutigen Philosophen, die das Staunen bedenken, haben den Weg der Neuzeit bedacht und schon durchschritten. Sie stehen nicht abseits, sondern rufen neu zu einer gemeinsamen Mitte. Sie sind keine Neo-Romantiker.
IV.
Was bisher über das Staunen gesagt worden ist, trifft nach meiner Überzeugung in ganz besonderer Weise auf den Umgang mit dem Leben und besonders mit dem menschlichen Leben zu. Die neuen Ergebnisse der Forschung über das vorgeburtliche Leben, einschließlich der Möglichkeiten von Visualisierung und fotografischer Reproduktion, verstärken diese Einsicht.
Die Faszination vor dem Wunder des Lebens ist nicht nur eine emotionale Angelegenheit oder eine erste Überraschung für den, der noch nichts oder nicht viel weiß. Man lässt das Staunen nicht einfach hinter sich, wenn man Erkenntnisfortschritte macht. Es muss den Forscher bei aller Eigengesetzlichkeit seines Vorgehens wenigstens indirekt begleiten und so gegenwärtig bleiben. Die Einsicht in das Wunderwerk der Natur stärkt die Rechte des Embryos, dem wir mit guten Gründen auch Personalität zuerkennen.
Dies hat zur Konsequenz, dass uns alle Wege der Erkenntnis und der Forschung offen stehen, aber sie dürfen nicht zur bewussten Tötung eines Embryos führen. Die Würde des personalen Wesens des Menschen besteht gerade darin, dass er niemals in seiner ganzen Existenz für andere Ziele verzweckt und instrumentalisiert werden darf. Daran kann auch ein freilich oft noch wenig begründetes Heilungsversprechen gewiss sehr belastender Krankheiten für die Zukunft nichts ändern. Die Forschungsfreiheit muss von sich aus erkennen, dass ihr hier Grenzen gesetzt sind, die nicht willkürlich von außen gezogen werden. Im Übrigen müssen alternative Forschungswege, die nicht zu solchen Konflikten führen, viel grundlegender vom Staat und der Industrie gefördert werden. Dies gilt z.B. für die durchaus Erfolg versprechende Forschung an Stammzellen erwachsener Menschen.
Diese Position ist keine katholische oder christliche Sonderlehre. Man kann sie gewiss auch nicht einfach von den immer interpretationsbedürftigen Ergebnissen empirischer Wissenschaften ableiten. Es gibt jedoch für die vorgetragene Position gerade durch neuere Einsichten viele gute stützende Argumente. Auch wer einer anderen Meinung zuneigt, sollte fair die Gründe für diesen Vertrauensvorschuss zugunsten des Lebensrechtes wenigstens als plausibel anerkennen. Das Embryonenschutzgesetz aus dem Jahr 1990, das damals einstimmig vom Bundestag verabschiedet worden ist, ist ein guter Beleg dafür, dass diese Überzeugungen durchaus verbindliche Werte repräsentieren, die für alle gültig sind. Deshalb dürfen wir sie nicht aushöhlen. Schon gar nicht durch letzen Endes enttäuschende und unhaltbare Kompromisse.
Gegen Ende dieser Überlegungen soll eine Reflexion stehen, die nur angedeutet, aber hier nicht genügend ausgearbeitet werden kann. Die verschiedenen Konzeptionen über die Wertung des moralischen Status des Embryos entstammen wohl auch verschiedenen Denkweisen und Perspektiven menschlicher Erkenntnis. Dabei darf man es sich nicht zu einfach machen und alles nur auf die Differenz zwischen natur- und humanwissenschaftlichen Methoden und geisteswissenschaftlichen Zugängen zu einer Sache zurückführen. Es gibt zweifellos auch „Mentalitäten“, die sich im Umgang mit einer Wirklichkeit ausbilden. Der Embryologe kann sich bei seiner heutigen Spezialisierung im hohen Maß auf das ihm vorliegende biologische „Material“ beschränken. Die Arbeitsteilung und die Spezialisierung verlangen sogar eine solche Aszese. Eine solche habituell gewordene Umgangsweise und Sicht kann aber auch nicht unwichtige Dimensionen in der Erkenntnis einer Sache verdecken. Man weiß immer mehr von immer weniger. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen ist diese Forschung auch wiederum so faszinierend, weil sie tatsächlich zu immer mehr Entdeckungen vordringt.
Den Human- und Naturwissenschaften wird nichts von ihrer Größe und ihren Erfolgen genommen, wenn man sie auf diese Grenzen hinweist. Ich habe fünf bis sechs eindrucksvolle, umfangreiche deutsche und internationale Handbücher der Embryologie und der Humangenetik gründlich angesehen, aus denen ich für das Thema viel gelernt habe. Ich habe auch aus vielen Gesprächen mit Naturwissenschaftlern gelernt. Ich kann dabei durchaus verstehen, dass kaum einer die Frage verfolgt, wer und was das ist, das er in seiner Forschung untersucht, bearbeitet und manipuliert. Aber kann man einfach davon absehen, dass es sich um frühestes, vollwertiges menschliches Leben handelt? Gibt es nicht eine merkwürdige Einstellung zu den „Objekten“, wenn man diese Frage ständig ausklammert? Es gab ja immer wieder auch heilsame Unterbrechungen solcher Umgangsweisen mit dem Menschen und der sterblichen Hülle, die er zurücklässt. Ich war sehr beeindruckt, dass mich in Freiburg an der Universität in der Wiederaufnahme eines alten Brauches die Professoren und die Studenten der Pathologie baten, ich möge jeweils Anfang November zu einer Feierstunde und zu einem Friedhofsgang für die Menschen kommen, mit denen sie sich konkret in der Pathologie beschäftigten. Neben dem Experiment und dem Sezieren ist die Pietät nicht verloren gegangen. Wäre dies nicht auch ein Hinweis auf andere Weisen des Umgangs mit dem Menschen in seinen verschiedenen Phasen?
Ich komme nochmals auf die Sprache zurück, z.B. den „Zellhaufen“. Solche Rede ist – wie schon gesagt – sehr verräterisch. So begrüße ich es sehr, dass dieses Wort „Zellhaufen“ von den Sprachwissenschaftlern an dritter Stelle zum „Unwort“ des Jahres 2002 ausgerufen worden ist. Die Sprachforscher werten den Begriff Zellhaufen als „sprachliche Verdinglichung von menschlichem Leben“. Biotechniker würden damit versuchen, die ethischen Vorbehalte gegen Manipulationen an Embryonen oder gar deren Tötung zu unterlaufen.
An einem Beispiel soll am Ende gezeigt werden, was dies heißen könnte. Als ich – wie berichtet – die Hand- und Lehrbücher der Embryologie und Humangenetik studierte, fiel mir auf, wie wenig selbstverständlich es ist, dass ein Embryo gezeugt wird und ein Menschenkind auch wirklich das Licht der Welt erblickt. Besonders in dem aufschlussreichen, höchst lehrreichen Buch von H. Zankl „Von der Keimzelle zum Individuum“ , das in jedem Kapitel sehr sorgfältig die unzähligen Möglichkeiten von Störungen und Fehlbildungen hervorhebt, kann man lernen, was für eine fast unglaubliche Fügung es ist, dass ein ursprünglicher Keim, kaum größer als ein Punkt am Satzende, zu einem so faszinierenden Menschen heranwächst. Neueste Forschungen scheinen dies noch mehr zu bestätigen. So ist die Einnistung ein kritischer Vorgang, an dem jede zweite frühe Schwangerschaft scheitert, noch bevor sie von der Frau bemerkt wird.
Ich bin erschrocken, wie selbstverständlich wir dies alles betrachten. Der Humangenetiker darf wohl auch in den Augen der Wissenschaft darüber gar nicht sprechen. Er wäre unwissenschaftlich. Aber ist er menschlich, wenn er dies routinemäßig auf Dauer ausklammert und verschweigt, vor welchem Wunder des Lebens er immer wieder steht? Die Griechen sahen den Anfang des Denkens im Staunen. Ist es der Wissenschaft verboten, mitten in ihren objektivistischen Entdeckungen, auch einmal zu staunen? Oder hat Martin Heidegger vielleicht doch Recht mit dem provozierenden, viel zu wenig beachteten Satz: Die Wissenschaft denkt nicht. Warum nicht?
Die verschiedenen Denkweisen und Zugänge müssen sich in ihrer recht unterschiedlichen Gestalt tolerieren und in gewisser Weise auch annehmen. Die einzelnen Perspektiven ergänzen und korrigieren sich. Sie machen hinsichtlich der Forschung, der philosophischen Reflexion, der Ästhetik, der religiösen Sicht und des rechtlichen Schutzes des Embryos das Ensemble jenes Diskurses aus, von dem am Anfang dieses Beitrags die Rede war.
Dabei darf auch die Nähe von Denken und Dichten nicht vergessen werden. Im Blick auf unser Thema habe ich immer wieder den Psalm 139 angeführt. Es gibt aber auch jüngere Texte, die uns nachdenklich machen können. Sie sehen das Staunen nicht vor der Wissenschaft noch an deren Ende. Es steht einfach als mindestens gleichwertige Möglichkeit neben jenem Sich-Wundern, das den Anfang des Warum-Fragens, der weiterführenden Neugierde und der klärenden Wissenschaft ausmacht. Als Beispiel möchte ich ein Gedicht von Franz Werfel aus dem Jahre 1943 anführen:
Ich staune
Ich staune, dass die rote Farbe rot ist,
Ich staune, dass die gelbe gelb erglimmt.
Ich staune, dass, was ringsum lebt, nicht tot ist,
Und dass, was tot ist, nicht ins Leben stimmt.
Ich staune, dass der Tag alltäglich nachtet,
Wenn ihm das Licht verwest zur Dämmerung.
Ich staune, dass frühmorgens überfrachtet
Von Sonnenglück, ein neuer kommt in Schwung.
Ich staune, dass durch alle Lebenssprossen
Das Männ- und Weibliche geschieden bleibt.
Und diese Zweiheit, niemals ausgenossen,
Als Wonne unsre Herzensfluten treibt.
Mein Staunen ist kein Forschen nach dem Sinne.
Mein Staunen ist des Sinnes selbst der Sinn.
Nur durch Erstaunung werd ich meiner inne.
Ich staune, dass ich staune, dass ich bin.
Zu diesem fundamentalen Staunen gehört auch die Entdeckung, dass die Wirklichkeit, so wie sie uns erscheint, auch gut ist „‘Ich staune‘, heißt dann auch: Ich finde es gut, ja preiswürdig, dass es so ist“. Das Staunen führt bis zu dieser Bejahung des Seins, die auf der einen Seite ein ontologisches Grunddatum ist und auf der anderen Seite auch der Schöpfungserzählung der Bibel entspricht, wenn es dort heißt: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.“ (Gen 1,31a) Von hier aus führt eine Brücke vom Staunen zur Ehrfurcht vor dem Leben, die sich wie zwei Schwestern aus derselben Familie gegenseitig rufen und sich ergänzen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Im Originaltext sind eine Reihe von Fußnoten enthalten
Die Heiligsprechung des Opus Dei-Gründers Josemaría Escrivá de Balaguer am Sonntag, 6. Oktober 2002, ist Anlass, um sich mit seiner spirituellen und kirchlichen Gestalt näher zu befassen. Dies ist bei jedem neuen Seligen und Heiligen notwendig. Im vorliegenden Fall ist es jedoch ganz besonders wichtig. Dies ergibt sich nicht so sehr aus dem Grund, dass der im spanischen Kulturkreis gebürtige und davon bestimmte Prälat schon mehr als 27 Jahre tot ist, sondern ein Hauptgrund dafür ist die Tatsache, dass seine Gestalt auch als Seliger und Heiliger von vornherein überdurchschnittlich geprägt ist durch das Vorverständnis, das jemand zu dem von ihm gegründeten Werk, dem Opus Dei, mitbringt. Obwohl die Auseinander-setzung darüber nachgelassen hat, gibt es bis in die jüngste Zeit hinein sehr dezidierte Darstellungen und auch heftige Diskussionen (Vgl. z.B. P. Hertel, Schleichende Übernahme. Josemaría Escrivá, Sein Opus Dei und die Macht im Vatikan, Oberursel 2002 (Publik forum); ders., „Ich verspreche euch den Himmel", Düsseldorf ²1980; K. Steigleder, Das Opus Dei, Zürich (4. Auflage) 1991; Paulus-Akademie (Hg.), Opus Dei – Stoßtrupp Gottes oder „Heilige Mafia"?, Zürich 1992.).
Diese haben auch vor der Heiligsprechung nicht Halt gemacht. Um so notwendiger scheint es mir zu sein, nun einmal sine ira et studio auf die spirituelle Gestalt des Opus Dei-Gründers zurückzukommen.
Die Stoßrichtung der Kritik wird leicht erkennbar aus dem Klappen-Text des Buches von P. Hertel „Schleichende Übernahme". Dort heißt es, gewiss auch in der Intention der Werbung: „Unglaublich, was immer noch geschehen kann: Die Heiligsprechung von Josemaría Esrivá, Gründer des Opus Dei. Eine Absicht seines Geheimbundes ist es, die Macht in der römisch-katholischen Kirche zu erobern. Das unverschmutzte Opus Dei solle als Werk Gottes die nach dem letzten Konzil verschmutzte Kirche reinigen und zur Tradition zurückführen. Weil der Papst nicht nur vom Hl. Geist inspiriert sei, müsse Opus Dei auch diese Lücke füllen. – Peter Hertel... deckt auf, mit welchen Mitteln die straff organisierte Formation sich in den Kommandozentralen festsetzt. Der Machtzuwachs des Geheimbundes ist rasant, der Verwaltungsapparat des Papstes durchsetzt, die Wahl des nächsten Papstes vom Opus Dei ‚gut‘ vorbereitet. Die aufgedeckten Regelverstöße auf dem kirchlich vorgeschriebenen Weg der Heiligsprechung zeigen auf, mit welchen Finessen Opus Dei arbeitet."
Es wird nicht leicht sein, sich ein in jeder Hinsicht ungeschminktes, möglichst vorurteilsfreies Bild zu machen von einem Heiligen, der wie alle anderen Menschen auch schließlich ein Anrecht hat auf die Wahrung des guten Rufes und die Vermeidung von Vorurteilen oder gar Vorverurteilungen. Ich sehe in der möglichst unbefangenen Darstellung des Lebens und Wirkens, vor allem auch der spirituellen Gestalt Escrivás die einzige Möglichkeit, durch diese Vorurteile und Verzerrungen hindurch zur authentischen Gestalt durchzustoßen. Dies soll in diesem Beitrag versucht werden. Man kann auf die Dauer das spirituelle Profil – die kleine Schrift „Camino" ist in über 40 Sprachen übersetzt und in über vier Millionen Exemplaren verbreitet – nicht einfach übergehen.
Als Voraussetzung zur Erfassung der spirituellen Gestalt mag es gut sein, zuerst die wichtigsten Daten der Biographie von Josemaría Escrivá zu erwähnen. Er hat in der Zeit von 1902 bis zu seinem Tod 1975 eine für Europa und besonders für Spanien schwierige Zeit durchlebt, mit zwei Weltkriegen und dem Spanischen Bürgerkrieg der Jahre 1936 bis 1939. Er ist am 9. Januar 1902 in Barbastro in der spanischen Provinz Aragón als zweites Kind von José Escrivá y Corzán und Maria Dolores Albás Blanc geboren worden. Die Schwester Carmen war um drei Jahre älter. Der Vater besaß einen Tuchladen und eine kleine Schoko-ladenfabrik. Mit zwei Jahren war der Junge so schwer erkrankt, dass die Ärzte ihn bereits aufgegeben hatten. Die Eltern gelobten im Fall seiner Genesung eine Wallfahrt zu dem altehrwürdigen Gnadenbild von Torreciudad. In der Tat wurde das Kind ganz plötzlich und überraschend gesund. Zwischen 1910 und 1915 sterben die drei nach ihm geborenen Schwestern Rosario, Mariá Dolores und Chou im Alter zwischen 9 Monaten und 8 Jahren. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg beginnt er das Gymnasium an einer von Piaristen geleiteten Schule in Barbastro (1912-1915). Zwischen 1915 und 1917 macht der väterliche Betrieb Bankrott. Die Familie zieht weg und übersiedelt nach Logroño.
Um den Jahreswechsel 1917/18 hatte der Fünfzehnjährige ein Erlebnis, das sein Leben entscheidend prägen sollte. Er entdeckt im Schnee die Fußspuren eines Unbeschuhten Karmeliten. Sie wecken in ihm den Wunsch nach einer großherzigen Bereitschaft für Gott.
Es ist das erste Ahnen einer Berufung. Er entschließt sich, Priester zu werden. Er beginnt im Jahr 1918 das Theologiestudium als Externer im Priesterseminar in Logroño. Der Wunsch wurde immer lebendiger, das Leben auf irgendeine Weise großzügig für Gott einzusetzen. Aber er wusste noch nicht, wohin ihn dieser Ruf führen könnte. 1919 wird der sehnlich von ihm selbst erwartete Bruder Santiago geboren. Dieser sollte, wenn Josemaría Priester wird, seinen nun leeren Platz für die Familie ersetzen.
Nach Abschluss der Studiengänge in humanistischer Kultur und Philosophie wechselt er von 1920 bis 1927 zur Fortsetzung des Theologiestudiums an die Päpstliche Universität von Saragossa. Der Weg zum Priestertum und besonders zum Diözesanpriester war nicht selbstverständlich. Lange hatte er überlegt, ob er nicht in den Karmel eintreten sollte. Einige Zeit zog es ihn jedoch zur Architektur hin. Er achtete das Priestertum. „Zu Hause hatte ich gelernt, dass Priestertum zu achten und zu ehren. Aber das war nichts für mich, das war etwas für andere!" (D. M. Helming, Fußspuren im Schnee. Josemaría Escrivá. Gründer des Opus Dei, St. Ottilien 1991, 13.) Deshalb war auch sein Vater ziemlich überrascht und erstaunt. „Eines guten Tages sagte ich meinem Vater, dass ich Priester werden wollte. Es war das einzige Mal, dass ich ihn weinen sah. Er hatte zwar andere Pläne für mich, widersetze sich aber nicht. Er sagte nur: Mein Sohn, überlege dir das gut. Die Priester müssen heilig sein. Es ist sehr hart, kein Zuhause und keine irdische Liebe zu haben. Denke noch einmal darüber nach. Aber ich werde mich nicht widersetzen." ( Ebd., 13f.)
Josemaría war ein hervorragender Student der Theologie. Er wuchs auch in seinem inneren Leben. Täglich besuchte er das Gnadenbild der Mutter Gottes vom Pilar. Viele Nächte verbrachte er still für sich auf einem Balkon mit Sicht auf das Allerheiligste in der Seminar-Kirche. Er fastete oft, schlief auf dem Fußboden und verrichtete andere Werke der Buße, um sich Gott auch im Blick auf seinen Leib ganz verfügbar zu halten.
Wenige Monate vor der Priesterweihe starb plötzlich sein Vater am 17. November 1924. Der beispielhafte Einsatz des Vaters für die Familie hat Escrivá tief geprägt. Die Eltern erzogen den Sohn in großer Freiheit. Er wird später einmal sagen, dass er seinem Vater die Berufung verdankt und dass er jeden Morgen und jeden Abend die Gebete spricht, die er von seiner Mutter gelernt hat. Kaum übertreffbare Worte findet er über die Mütter, die „wirklich heroisch sind, auch wenn sie niemals spektakulär in Erscheinung treten. Sie machen keine Schlagzeilen – wie man so sagt –, aber sie opfern sich immer wieder auf, sie stellen freudig ihre Wünsche und Neigungen zurück, sie verschenken ihre Zeit oder verzichten auf Selbstbehauptung und auf mögliche Erfolge, damit ihre Kinder glücklich sind." ( Ebd., 15.)
Am 28. März 1925 wurde Josemaría zum Priester geweiht und feierte zwei Tage später in der Mutter Gottes-Kapelle der Kathedrale in Saragossa seine Primiz. In dem kleinen Dorf Perdiguera auf dem Lande übernahm er die Vertretung des erkrankten Pfarrers. Er lernte das harte, schwere Leben der kleinen Leute, aber auch des Landpfarrers kennen. Wie in Spanien oft üblich, holte er seine Familie, nämlich Mutter, Schwester und Bruder, nach Saragossa. Sie sollten ihn aber selten sehen. Denn im Jahr 1923 hatte er bereits ein Zusatzstudium der Rechtswissenschaften an der staatlichen Universität von Saragossa begonnen. Im Januar 1927 macht er dort das juristische Abschlussexamen und übersiedelt bald danach nach Madrid, um seine Studien mit dem Doktorrat im Zivilrecht abzuschließen, was dann erst 1939 gelingt. Er hatte dieses Studium mit Billigung seines Vaters im Jahr 1923 begonnen. Der Vater sah darin wohl so etwas wie eine zusätzliche Sicherheit. In Saragossa arbeitet er auch in der Krankenseelsorge. Gleichzeitig hat er eine Dozentur für Römisches Recht und für Kirchenrecht an einer Akademie inne. Außerdem gibt er Privatstunden, um seine Familie unterstützen zu können. Schließlich kümmerte er sich mit einigen Mitstudenten, wie schon in Saragossa, so auch jetzt in Madrid um sozial Schwache und Schwerkranke. Den Waisen- und Straßenkindern erteilte er Katechismus- und Erstkommunionunterricht. Zugleich ist er Seelsorger für die Lehrenden und Lernenden der Hochschule. Josemaría war ein gebildeter, gewandter und trotz seiner durchlöcherten Schuhe ziemlich eleganter junger Mann. Seine Studenten konnten kaum glauben, dass er sich mit dem „Proletariat" abgab. Sie haben ihm nachspioniert – er ging tatsächlich zu den Randsiedlern.
Im Grunde wartete Josemaría jedoch immer noch auf einen Wink des Herrn, um Klarheit über seine Berufung zu finden. Dies sollte sich bald ändern. Am Schutzengelfest (2.10.) des Jahres 1928 beschäftigt er sich während einiger Besinnungstage nochmals mit seinen geistlichen Notizen aus den letzten zehn Jahren. Wie er selbst berichtete, „sah" er dabei plötzlich in seiner vollen Gestalt das, was später „Opus Dei" heißen sollte. Er bleibt später mit Informationen über dieses Ereignis ziemlich zurückhaltend, aber es ist kein Zweifel, dass der 26jährige Priester hier die geistliche Geburt der von ihm gegründeten Gemeinschaft erfahren durfte.
Es ist auch zugleich der „Kern" dieser Botschaft erkennbar: Menschen aus allen Berufen und sozialen Situationen sollen inmitten ihres alltäglichen Tuns nach der Fülle des christlichen Lebens streben. Er sollte diesen Laien den göttlichen Ruf bewusster machen und Wege der Heiligung in der beruflichen Arbeit und in der Erfüllung der gewöhnlichen Aufgaben der Christen weisen. Hier liegt auch das Zentrum seiner Botschaft, die er im Jahr 1966 in einem Interview mit der New York Times folgendermaßen formulierte: „Der Geist des Opus Dei greift die herrliche, jahrhundertelang von vielen Christen vergessene Wirklichkeit auf, dass jede Arbeit, die im Menschlichen lauter und rechtschaffen ist, zu einem göttlichen Tun werden kann. Wenn man Gott dienen will, gibt es keine belanglosen oder zweitrangigen Arbeiten: alle sind von größter Bedeutung. – Um Gott zu lieben und ihm zu dienen, ist es nicht nötig, auffallende Dinge zu tun. Alle Menschen ohne Ausnahme ruft Christus auf, vollkommen zu sein wie ihr himmlischer Vater vollkommen ist (vgl. Mt 5,48). Heiligwerden bedeutet für die überwiegende Mehrzahl der Menschen, ihre eigene Arbeit zu heiligen, sich in dieser Arbeit selbst zu heiligen und die anderen durch die Arbeit zu heiligen, damit sie täglich auf dem Weg ihres Lebens Gott begegnen. – Die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung, die eine immer stärkere Bewertung der Arbeit mit sich bringt, erleichtert offensichtlich den Menschen unserer Zeit das Verständnis für diesen Aspekt der christlichen Botschaft, den die Spiritualität des Opus Dei so sehr hervorhebt. Entscheidend aber ist das Wehen des Heiligen Geistes, der in seinem lebensspendenden Wirken unserer Zeit zum Zeugen einer tiefen Erneuerung im ganzen Christentum hat machen wollen. Liest man die Dekrete des Zweiten Vatikanischen Konzils, so erscheint als ein wichtiger Teil dieser Erneuerung gerade die neue Wertschätzung der gewöhnlichen Arbeit und der Würde der Berufung zu einem christlichen Leben und Arbeiten mitten in der Welt."( Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, Köln 1969, 4. Auflage 1992, 84f. Die in diesem Band gesammelten Interviews aus den Jahren 1966-1968 geben einen ausgezeichneten Einblick in Leben und Werk von Josemaría Escrivá.)
Offensichtlich konnte der noch erstaunlich junge Priester diese Vision anderen von Anfang an mit äußerster Klarheit vor Augen führen. Sie war auch nicht an eine konkrete historische Situation gebunden, obgleich es immer um die Umsetzung der empfangenen Botschaft vor Ort und in der konkreten Zeit ging. Er war überzeugt, dass es dafür eigentlich nur zweier Mittel bedarf, nämlich das Kreuz und das Evangelium. Nun erfolgt rasch der Ausbau dessen, was er in der Vision gesehen hatte. Bereits im Jahr 1930 wird ihm deutlich, dass zum Opus Dei Frauen gehören sollten. Es wäre aufschlussreich, der Bedeutung und Stellung der Frau näher nachzugehen. Die ersten Berufungen kommen. Das erste Apostolische Werk, die Akademie DYA, wird in Madrid eröffnet. Die ersten wichtigen Schriften erscheinen im Jahr 1934: „Geistliche Betrachtungen" und „Der heilige Rosenkranz", das erste ein Vorläufer des Camino, der Rosenkranz erschien mit über 100 Auflagen in 20 Sprachen.
Während des Bürgerkrieges, der am 18. Juli 1936 ausbricht, bleibt Josemaría Escrivá unter Lebensgefahr in Madrid. Im September 1937 besorgt er sich über den Konsul von Honduras die nötigen Dokumente, um Spanien verlassen zu können. In einem Gewaltmarsch überquert er die Pyrenäen und trifft am 2. Dezember 1937 über Andorra in Frankreich ein. Während des Bürgerkriegs, der am 28. März 1939 endet, lebt er eine Weile in Burgos und nimmt zunächst von dort die Apostolische Arbeit wieder auf. Nach dem Krieg ist er wieder in Madrid. Ein wichtiger Einschnitt ist die Approbation des Opus Dei am 19. März 1941 als „Fromme Vereinigung" (pia unio). Bald darauf gründet er die „Priesterliche Gesellschaft vom Hl. Kreuz", die eng mit dem Opus Dei verbunden ist. Am 22. April stirbt unerwartet seine Mutter. Am 11. Oktober 1943 erhält das Opus Dei die erste Approbation vom Hl. Stuhl. 1944 werden die ersten aus den Opus Dei hervorgegangenen Priester geweiht, darunter auch der spätere Nachfolger von Josemaría Escrivá, der lange Zeit mit ihm zusammenarbeiten sollte: Don Alvaro Del Portillo. Alle drei Neupriester waren Ingenieure. Als 1947 die Säkularinstitute offiziell kirchlich gegründet werden (Vgl. dazu G. Pollak, Der Aufbruch der Säkularinstitute und ihr theologischer Ort, Vallendar 1986.), erhält auch das Opus Dei die Zulassung nach dieser neuen Form geistlichen Lebens. Der Gründer ist nicht glücklich über diese Form, aber sie ist das, was unter den gegebenen Möglichkeiten am ehesten seiner Vision entspricht.
Rasch erfolgt der weitere weltweite Ausbau der Gemeinschaft. Seit 1946 lebt Josemaría Escrivá als Generalpräsident des Opus Dei in Rom. Der Gründer wird öfter vom Papst Pius XII in Privataudienz empfangen. 1948 wird das „Collegium Romanum Sanctae Crucis" als Studienzentrum eröffnet, in dem Tausende aus allen Ländern der Welt ihre geistliche Bildung erhalten. Es ist vor allem für die Priester gedacht. Im Jahr 1950 gewährt Papst Pius XII. dem Opus Dei die endgültige Approbation. 1952 beginnt in Pamplona der Aufbau der Universität von Navarra, die dem Gründer bis ans Lebensende ganz besonders am Herzen liegt. Im Jahr 1953 wird das Bildungszentrum auch für die Frauen des Opus Dei eröffnet (Vgl. dazu Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 129-172.) In dieser Zeit dürfen auch Nicht-Katholiken und Nicht-Christen Mitarbeiter werden. Hatte er im Jahr 1939 das Doktorrat in den Rechtswissenschaften erhalten, so wird er im Jahr 1955 an der Päpstlichen Lateranuniversität das Doktorat in Theologie erhalten. 1960 empfängt der neue Papst, Johannes XXIII., den Generalpräsidenten in Audienz. Während des Zweiten Vatikanischen Konzils wirkt vor allem Don Alvaro Del Portillo als Berater mit (Zum Opus Dei und zum Konzil, vgl. P. Berglar, Opus Dei, Salzburg 1983, 267-278.). Josemaría Escrivá begibt sich in dieser Zeit und danach als Pilger zu vielen europäischen Heiligtümern, übrigens auch nach Guadalupe in Mexiko.
Im Jahr 1975 begeht er in Rom sein Goldenes Priesterjubiläum. Ende Mai führt ihn seine letzte Reise nach Spanien. Wenige Tage nach seiner Rückkehr nach Rom, am 26. Juni, stürzt er in seinem Arbeitszimmer zu Boden und stirbt. Jede Hilfe, die ihm noch zuteil wird, ist vergeblich. Anderthalb Stunden dauerte der Kampf um sein Leben. Sein Leichnam ruht in der Krypta der Kirche Maria vom Frieden im Zentralsitz der Prälatur in Rom.
Bald nach seinem Tod entsteht eine große Wallfahrt zu seinem Grab. Es sind besonders viele junge Menschen. Die Pilger kommen aus allen Erdteilen. Bereits am 12. Mai 1981 wird der Seligsprechungsprozess eröffnet, der 1986 auf der Diözesanebene abgeschlossen und am 17. Mai 1992 durch die feierliche Seligsprechung zu Ende geführt wird.
Im Jahr 1982 gibt Papst Johannes Paul II. der Öffentlichkeit seine Entscheidung bekannt, das Opus Dei als Personalprälatur zu errichten. Mit der Apostolischen Konstitution „Ut sit" vom 28. November kommt die juristische Suche nach einer angemessenen kirchlichen Organisations-Gestalt des Opus Dei an ein Ende. Es ist die rechtliche Form, die Josemaría Escrivá immer gesucht und gewünscht hatte. Die Personalprälatur, angeregt durch das Dekret über Dienst und Leben der Priester des Zweiten Vatikanischen Konzils (PO 10), soll für Weltpriester eine eigene Möglichkeit der Inkardination schaffen, um deren mobilen und flexiblen Einsatz zu ermöglichen. Eine endgültige Regelung erfolgt einerseits im Motu proprio „Ecclesiae Sanctae" und anderseits im Rahmen des neuen Kirchenrechtes (vgl. cc. 294-297 CIC). Damit können auch im Jahr 1983 die Statuten der Prälatur vom Hl. Kreuz und Opus Dei erlassen werden. (Näheres dazu bei A. de Fuenmayor u.a., Die Prälatur Opus Dei. Zur Rechtsgeschichte eines Charismas. Darstellung, Dokumente, Statuten = Münsterischer Kommentar zum CIC, Beiheft 11, Essen 1994 (Übersetzung aus dem Spanischen, wo das Werk 1989 erschienen ist), 4. Auflage, Navarra 1990. In diesem Band sind auch alle wichtigen Dokumente abgedruckt: 513-679. Die Statuten wurden auch eigens herausgegeben: Rom 1982.)
Die Personalprälatur besteht aus Weltpriestern und ist geprägt durch ihren Zweck. Das Personalbistum ist eine Diözese, deren konstitutiver Teil des Gottesvolkes neben dem Territorium durch eine personale Kategorie umschrieben ist (vgl. can. 372 § 2 CIC). Die Personalprälatur ist ein eigenständiger, zweckgebundener, für die Weltgeistlichen bestimmter Inkardinationsverband, den es nur in der lateinischen Rituskirche gibt. Zur Personalprälatur gehören also die in ihm inkardinierten Priester, aber auch die der Prälatur eingegliederten Laien. Alle vereint eine einzige Berufung, ein Geist, ein Ziel, eine Leistung. Das Opus Dei ist bisher die einzige Einrichtung mit dieser Bezeichnung. Sie weicht in ihrer Struktur von der im CIC vorgezeichneten Gestalt ab. Die Diskussion über diese Form einer Gemeinschaft, die weder dem Ordensstand noch dem Säkularinstitut entspricht, geht weiter.
Die Seligsprechung hatte ein großes Echo. So wurde der Ruf nach einer Heiligsprechung immer lauter. In der Tat konnte Johannes Paul II. bald nach der Feier des 100. Geburtstages von Josemaría Escrivá am 6. Oktober 2002 unter großer Anteilnahme die Heiligsprechung vollziehen. (Zur Selig-sprechung vgl. den Bildband: Geh ein in die Freude deines Herrn. Seligsprechung von Josefmaria Escrivá, Gründer des Opus Dei, Köln 1992. )
Viele Veröffentlichungen des Gründers erschienen nach dem Tod und haben in vielen Sprachen sehr hohe Auflagen erreicht. Die wichtigsten Bücher sind: Der Weg (Köln 1983); Die Spur des Sämanns (Köln 1986); Im Feuer der Schmiede (Köln 1987); Christus begegnen (Köln 1981); Freunde Gottes (Köln 1980); Der Kreuzweg (Köln 1981); Der Rosenkranz (Köln 1976 u.ö.). Im Zusammenhang der Heiligsprechung begann auch das Erscheinen der bisher umfangreichsten, auf drei Bände berechneten Biographie von Andrés Vásquez de Prada. (Der Gründer des Opus Dei. Josemaría Escrivá. Eine Biographie. Band 1: Die frühen Jahre (Köln 2002). Dieser Band endet mit dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs 1936. Band 2 soll die Jahre 1936 bis 1945, Band 3 die Jahre 1945 bis 1975 umfassen. Zum 100. Geburtstag und zur Heiligsprechung erschien ein wichtiger Band „Josemaría Escrivá. Profile einer Gründergestalt", herausgegeben vom früheren Prälaten der deutschen Region, César Ortiz, Köln 2002.)
Mit dieser biographischen Skizze sind zugleich auch die Umrisse der spirituellen Gestalt von Josemaría Escrivá sichtbar geworden. Nach langer Zeit des Wartens ist, so haben wir gesehen, bei der entscheidenden Vision vom 2. Oktober 1928, die Grundintuition mit großer Deutlichkeit erkennbar geworden. Ein Kern liegt in der Aussage, „dass jede Arbeit, die im Menschlichen lauter und rechtschaffen ist, zu einem göttlichen Tun werden kann. Wenn man Gott dienen will, gibt es keine belanglosen oder zweitrangigen Arbeiten: alle sind von größter Bedeutung. – Um Gott zu lieben und ihm zu dienen, ist es nicht nötig, auffallende Dinge zu tun". Es gibt viele Interpretationen, um das damit Gemeinte näher zu entfalten. (Vgl. dazu P. Berglar, Opus Dei, 278ff.; V. Messori, Der „Fall" Opus Dei, Aachen 1995 (italienische Ausgabe: Mailand 1994), C. Ortiz (Hg.), Josemaría Escrivá, 123, 225ff., 253ff., 311ff., 347ff.; D. Le Tourneau, Das Opus Dei, Stein am Rhein 1987, 49ff.; P. Rodgríuez u.a., Das Opus Dei in der Kirche, Paderborn 1997, 107ff., 159ff.; )
Vielleicht ist das Wort von der „neuen Weltverantwortung", das wir auch im Titel benutzen, noch zu künstlich und anspruchsvoll für das Elementare, das in dieser Spiritualität zum Ausdruck kommt. Escrivá geht davon aus, dass der Christ ein unbefangeneres, freilich keineswegs naives Verhältnis zur Welt und zu seiner Arbeit gewinnen muss.
Hier setzt er sich am stärksten von den klassischen Orden ab. Er bestreitet entschieden und grundlegend, dass nur derjenige ein ganz auf Gott gerichtetes Leben führen kann, der auf irgendeine Weise Abstand von der Welt hält, so z.B. durch Klostermauern, Gelübde, Ordenskleid und auch Ordensregeln. Er sah es als falsch an, dass das eigentliche christliche Leben faktisch oft gleichgesetzt worden ist mit der Abgeschiedenheit von der Welt, wie dies ein Ideal vieler Ordensgemeinschaften war. Auch die Weltpriester haben nach Escrivá ihr persönliches religiöses Leben weitgehend in dieser Richtung, wenn auch in abgemilderten Formen, orientiert. Weil der Laien-Christ oft noch stärker Versuchungen und Zerstreuungen ausgesetzt ist, hat man ihm ein Leben nach dem Evangelium gar nicht zugetraut und ihn nicht selten als einen „Christen zweiter Klasse" gesehen, der die bedingungslose Nachfolge Jesu Christi nicht beschreiten könne. Die Laien selbst haben sich nach Escrivá dieser negativen Vorstellung zu lange gebeugt.
Diese Tradition prägte – gewiss mit Ausnahmen – nach Escrivá die ganze katholische Kirche. Es scheint, dass sie im Spanien der 20er und 30er Jahre besonders krasse Formen angenommen hatte. Es liegt also gewiss etwas Revolutionäres darin, wenn Escrivá sich mit solchen Argumenten nicht mehr mit einer ausgedünnten Ordensspiritualität für Laien abfinden möchte. Er traut der Gnade Gottes im Wirken vieler Laienchristen mehr zu. So hat Escrivá ganz grundlegend die Berufung jedes Christen in den Vordergrund gestellt. Wiederum ist hier das Time-Interview vom 15. April 1967 aufschlussreich: „Am ehesten ist das Opus Dei zu verstehen, wenn man sich das Leben der ersten Christen vergegenwärtigt. Sie lebten ihre christliche Berufung mit uneingeschränkter Hingabe; sie suchten ernsthaft jede Vollkommenheit, zu der sie durch die einfache und erhabene Tatsache der Taufe gerufen waren. Äußerlich unterscheiden sie sich nicht von den anderen Leuten. Die Mitglieder des Opus Dei sind normale Menschen, die einer normalen Arbeit nachgehen und in der Welt als das leben, was sie sind: als christliche Staatsbürger, die den Forderungen ihres Glaubens ganz entsprechen wollen." (Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 50. Vgl. auch ebd., 49ff., 77ff., 87ff.) Kann man nicht verstehen, dass dieses Programm, auch wenn es vielleicht manchmal missverständlich umgesetzt wurde, viele Menschen anzog und anzieht?
Die Unbefangenheit dieser Worte kann leicht täuschen. Es handelt sich keineswegs um eine naive Zuwendung zur Welt. Der Gründer war sich vollkommen klar, dass derjenige, der mehr in der Welt lebt, um so tiefer die Wurzeln seiner Existenz in Gott erfahren muss. Nicht zur Abkehr von der Welt ist der Laien-Christ gerufen, sondern zu ihrer verantwortlichen Gestaltung im Sinne des Schöpfers. Immer wieder kommt die Formulierung vor: sich durch seinen Beruf heiligen, seinen Beruf heiligen und die anderen durch den eigenen Beruf heiligen. Im Jahr 1967 formuliert Escrivá diese grundlegende Überzeugung in einer Predigt mit folgenden Worten: „Für euch, Männer und Frauen der Welt, steht jede Flucht vor den ehrbaren Wirklichkeiten des alltäglichen Lebens im Gegensatz zum Willen Gottes... Gott ruft euch auf, ihn gerade in den materiellen, weltlichen Aufgaben des menschlichen Lebens und aus ihnen heraus zu dienen. Im Labor, im Operationssaal eines Krankenhauses, in der Kaserne, auf dem Lehrstuhl einer Universität, in der Fabrik, in der Werkstatt, auf dem Acker, im Haushalt, in diesem ganzen, unendlichen Feld der menschlichen Arbeit wartet Gott Tag für Tag auf uns... Es tut unserer Zeit Not, der Materie und den ganz gewöhnlich erscheinenden Situationen ihren edlen, ursprünglichen Sinn zurückzugeben, sie in den Dienst des Reiches Gottes zu stellen und sie dadurch, dass sie zum Mittel und zur Gelegenheit unserer ständigen Begegnung mit Jesus Christus werden, zu vergeistigen." (Zitiert nach D. M. Helming, Fußspuren im Schnee, 22)
Deshalb hat Escrivá immer auch wieder Leute gesucht und mit ihnen gerungen, die ein intensives weltliches Leben führten und große Aufgaben erfüllen mussten. Er hielt die Einsatzbereitschaft und die Disziplin solcher Menschen für günstige Voraussetzungen, um sich in ähnlichem Maß auch für geistliche Ziele einzusetzen, die die alltäglichen Aufgaben nicht etwa verdrängen, sondern – wie er gerne sagte – „veredeln". Er war überzeugt, dass Menschen, die den beruflichen Anforderungen eher ausweichen und auch wenig Änderungsbereitschaft erkennen lassen, weniger geeignet sind für das Opus Dei. Eine solche Aussage kann im Blick auf die Armen, Schwachen und Bedrängten gewiss zwiespältig werden. Aber die entscheidende Stoßrichtung ist klar. Es kommt nicht in erster Linie darauf an, dass Escrivá die Mächtigen und Einflussreichen aufsuchen und gewinnen wollte, sondern Menschen mit einer hohen Bereitschaft zum Einsatz und auch zur Veränderung. Das ganze menschliche Leben muss in der Kontemplation wurzeln. Immer wieder sagte Escrivá, die Waffe des Opus Dei sei nicht die Arbeit, sondern das Gebet.
Damit hat er manchmal Menschen in der Welt geradezu verblüfft. Prof. Victor García Hoz, Psychologe und später Mitglied von Opus Dei, erzählt uns: „Im Jahre 1941 sagte Don Josemaría einmal zu mir: ‚Gott ruft dich auf dem Weg der Kontemplation.‘ Ich war total verblüfft. Ich war schließlich ein verheirateter Mann mit damals drei Kindern, zu denen noch weitere dazukommen konnten und tatsächlich auch kamen. Außerdem hatte ich hart zu arbeiten, um meine Familie zu ernähren. Dass jemand einem Mann wie mir Kontemplation, geistliche Beschaulichkeit, als ein erreichbares Ziel hinstellte, das war in der damaligen Zeit einfach ungeheuerlich" (Ebd., 21.). Die Welt selbst wird so für den Laien im strengen Sinn zum Ort der Begegnung mit Gott. Jederzeit und an jedem Ort stehen die Wege der Kontemplation allen offen, die arbeiten. „Alles Wesentliche an der christlichen Berufung bleibt unverändert. Doch neu ist die Weise, sie zu verwirklichen. Nachdem anderthalb Jahrtausende lang das Ordensideal vorherrschte, greift das Opus Dei wieder die Art auf, mit der die Christen der ersten Jahrhunderte ihren Glauben lebten. Ein in mancher Hinsicht gewagtes Unternehmen. Kein Wunder, dass es bei aller Zustimmung auch auf Missverständnisse und Skepsis, ja Ablehnung stieß und stößt." (Ebd., 22.)Gerade hier darf man nicht vergessen, dass von den über 80.000 Mitgliedern in fast 100 Ländern nur 2% Priester sind.
Ich verzichte darauf, diese Aspekte zu vertiefen und weiter zu entfalten. Wenn man jedoch Escrivá verstehen will, muss man immer wieder zu diesem grundlegenden Gedanken zurückkehren. Nur von daher ist es auch verständlich, dass er in relativ kurzer Zeit so viele Menschen ansprach, die mitten im säkularen Leben standen und dennoch Christen sein wollten. Viele haben einen solchen Weg der Heiligung mitten in der Welt gesucht, ihn aber mit den traditionellen Wegen nicht finden können.
Dennoch ist dieser Weg eigentlich nicht etwas Neues. Mit Recht hat der Gründer immer wieder gesagt, dieser Geist des Opus Dei sei „so alt wie das Evangelium – und wie das Evangelium so neu". (Ebd.) Er verweist auf das frühe Christentum. Aber es gibt natürlich auch Akzentuierungen und Vorläufer, die solche Gedanken bereits thematisierten. Man wird hier, wie in allen Lebensprozessen, nicht immer alles mit Zitaten nachweisen können. Escrivá hat sich bestimmt manche Aussagen der Ordensspiritualitäten zu eigen gemacht, z.B. das Benediktinische Ethos des „Ora et labora" („Bete und arbeite"). Dies gilt ganz gewiss auch für das „Gott suchen in allen Dingen" des hl. Ignatius von Loyola und des Jesuitenordens, aber vermutlich auch für die Spiritualität der Theresia von Lisieux, in der das alltägliche Leben eine besondere Form der Heiligung erfährt. Schließlich darf man nicht vergessen, wie zentral „Heiligung" im AT und NT ist, besonders auch in der reformierten Tradition. (Vgl. z.B. J. Zmijewski, Heiligung, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflag, Band IV, Freiburg i.Br. 1995, 1331-1332.)
Bei diesem Vergleich denke ich z.B. an Aussagen der folgenden Art: „Ich versichere euch, wenn ein Christ die unbedeutendste Kleinigkeit des Alltags mit Liebe verrichtet, dann erfüllt sich diese Kleinigkeit mit der Größe Gottes. Das ist der Grund, warum ich immer und immer wieder betone, dass die christliche Berufung darin besteht, aus der Prosa des Alltags epische Dichtung zu machen. Himmel und Erde scheinen sich am Horizont zu vereinigen; aber nein, in euren Herzen ist es, wo sie eins werden, wenn ihr heiligmäßig euren Alltag lebt." (Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 177 (Nr. 116). Besonders hingewiesen sei auf den beinahe klassischen Text „Die Welt leidenschaftlich lieben", ebd., 173-183, eine Ansprache an der Universität von Navarra am 8. Oktober 1967.) Wenn man in die Kleinigkeiten des Alltags Liebe hineinlegt, dann wird man auch die Spuren Gottes darin finden. Alles andere ist für Escrivá „Blechmystik", die letztlich aus eitlen Träumereien und falschen Idealismen besteht. Escrivá scheut sich nicht, unmittelbar die ganz materielle Wirklichkeit als Feld christlicher Bewährung zu sehen und spricht wiederholt von einer „Materialisierung" des christlichen Lebens oder auch von einem „christlichen Materialismus". Wir haben vielleicht heute Schwierigkeiten mit einer solchen Sprache. Aber jeder, der verstehen will, kann diese Sprache deuten und auslegen – was wir ja sonst auch machen.
Ich denke aber auch an die Einschätzung der irdischen Dinge und ihre Autonomie bei Thomas von Aquin, der den Eigenwert der Schöpfungswirklichkeit und das Gutsein der aus den Händen Gottes hervorgegangenen Welt unmissverständlich betont. Man wird aber auch nicht fehlgehen, wenn man an Männer wie Thomas Morus denkt, die ihre Überzeugung aus dem Gewissen mit ihrem Leben besiegelten. Es ist jedoch das Verdienst von Escrivá, dass er mit Entschiedenheit die Ansätze der Tradition aufgreift und daraus wirklich nicht nur eine „Spiritualität für Laien", sondern eine „laikale Spiritualität" schafft. In diesem Sinne ist Escrivá ohne jede Frage ein Vorläufer des Zweiten Vatikanischen Konzils. Viele Aussagen des Konzils über die Berufung zur Heiligkeit in der Kirche und zum Glaubenszeugnis in Kirche und Welt haben hier ihre Wurzeln.
In dieser Grundintuition ist alles andere vorgezeichnet. Deshalb ist es auch nicht notwendig, an dieser Stelle die Konsequenzen sichtbar zu machen. Dies gilt z.B. für die Suche nach einer adäquaten rechtlichen Form, in der die Grundgedanken des Opus Dei angemessen gelebt werden können. „Für einen Lebensweg, der die Heiligung des Laien-Christen im Alltag und durch ihn zum Ziel hatte, für die spezifische Berufung zu etwas Unspezifischem also, gab es in der Kirche noch kein juridisches Modell. Erst das realiter von Menschen in aller Welt gelebte Opus Dei schaffte nach und nach eine innerkirchliche Gegebenheit, welcher schließlich, gemäß den organischen Lebensprinzipien der Kirche die adäquate Rechtsform zuwachsen musste." (P. Berglar, Opus Dei, 11) Diese Einsicht bestimmt auch manche andere Eigenheiten des Opus Dei. So gibt es im Bereich der irdischen, säkularen Probleme eine große innere Freiheit, wie sie der Einzelne im Alltag seines Berufes auch braucht, während die Ausrichtung auf ein transzendentes, übernatürliches Ziel mit großer Gemeinsamkeit verfolgt wird.
Ich kehre kurz an den Anfang zurück. Es kam mir darauf an, die spirituelle Grundgestalt des neuen Heiligen darzulegen. Wenn die Kirche einen neuen Heiligen geschenkt bekommt, dann muss sie sich auch fragen, was der Geist Gottes durch einen solchen Zeugen hindurch der Kirche einer Zeit sagen möchte. Wir haben dies vielleicht bisher zu wenig versucht. Dies gilt nicht nur für Josemaría Escrivá, sondern auch für Mutter Teresa, Edith Stein, Adolf Kolping, Maximilian Kolbe, Titus Brandsma und manche andere. Es wäre ein unverzeihliches Versäumnis, wenn wir uns nicht wenigstens mühen würden, das spezifische Zeugnis in dieser Bedeutung für uns heute zu entdecken.
Deshalb habe ich mir auch den Mut genommen, einmal alle üblichen Diskussionen über das Opus Dei zurückzustellen. Ich will dabei nicht leugnen, dass es in der Vergangenheit da und dort bei der Inkulturation eines solchen Werkes in unserer Gesellschaft Probleme und Missverständnisse gegeben hat, die freilich auf mehreren Seiten liegen. Aber die spirituelle Herausforderung, die im Opus Dei liegt, darf nicht einfach mit Rückgriff auf diese Verdächtigungen abgewürgt werden. Leider gehen nicht wenige Veröffentlichungen auf das grundlegende Charisma von Josemaría Escrivá überhaupt nicht ein. (Vgl. R. Hutchison, Die heilige Mafia des Papstes, München 1996; M. del Carmen Tapia, Hinter der Schwelle. Ein Leben im Opus Dei. Der schockierende Bericht einer Frau, Zürich 1993; J. Ropero, Im Bann des Opus Dei. Familien in der Zerreißprobe, Solothurn 1995; zur Auseinandersetzung vgl. auch Opus Dei. Ziele, Anspruch und Einfluss, hrsg., von H. Schützeichel, Düsseldorf 1992, vgl. hier auch die Beiträge von H. St. Puhl; „Katholischer" Fundamentalismus. Häretische Gruppen in der Kirche, hrsg. von W. Beinert, Regensburg 1991. Vgl. auch oben Anm. 1)
Es scheint mir gerade darum ein Gebot der Stunde zu sein, mit Sorgfalt und Fairness das Profil des neuen Heiligen genauer zu betrachten. Wenn das Opus Dei selbst in der Verwirklichung des Werkes etwas falsch gemacht hat oder machen sollte, dann muss man es zuerst gewiss an der Bibel, besonders aber an der Gestalt des Gründers und seiner Vision messen. Alles andere wäre nicht seriös. Darum macht man es sich zu einfach, wenn man versucht, das Opus Dei als eine Sekte oder gar so etwas wie eine Mafia abzustempeln.
Die Kirche kann es sich heute nicht leisten, Charismen, die in ihr entstanden und aufgeblüht sind, zu verachten. Sie kann sich auch nicht leisten, Bewegungen dieser Art gegeneinander auszuspielen. Ich bin fest überzeugt, dass wir angesichts der großen Herausforderung des christlichen Glaubens heute alle Kräfte bündeln müssen, um bei aller Ausformung im Einzelnen aus der Mitte des Glaubens heraus ein gemeinsames Zeugnis vor der Welt ablegen zu können. Dies ist gerade auch wichtig in der Stoßrichtung dessen, was Josemaría Escrivá im Blick auf eine „laikale Spiritualität" wollte. Die Kirche muss die Laien befähigen, inmitten ihrer säkularen Tätigkeit authentische Zeugen des Evangeliums zu sein. Es ist gar nicht möglich, dass der Arm der verfassten Kirche überall hinreicht. Es braucht die Selbstständigkeit aller Christen je an ihrem Ort, um dem Evangelium in allen Feldern unseres Lebens einen Weg zu bahnen und Raum zur Entfaltung zu geben. Davon wird in hohem Maß die Zukunft der Kirche abhängen.
Ich will evtl. vorhandene Probleme nicht verdrängen oder gar verdecken. Aber sie können wirklich nur gelöst werden, wenn wir uns der zündenden Idee im Leben und Wirken des heiligen Josemaría Escrivá stellen. So möchte ich mit einer wichtigen Aussage des neuen Heiligen schließen: „Es versteht sich von selbst, dass sich diese Vorstellungen von einem heiligmäßig gelebten Alltag kaum verwirklichen lassen, wenn man nicht im Besitz jener vollen Freiheit ist, die dem Menschen – auch nach der Lehre der Kirche – aufgrund seiner Würde als Ebenbild Gottes zusteht. Die persönliche Freiheit – wenn ich von Freiheit spreche, meine ich natürlich immer eine verantwortungsbewusste Freiheit – besitzt eine wesenhafte Bedeutung für das christliche Leben. – Versteht also meine Worte als das, was sie sind: als Aufforderung, tagtäglich und nicht nur in besonderen Notsituationen eure Rechte auszuüben, ehrlich eure staatsbürgerlichen Pflichten in Politik, Wirtschaft, Universität und Beruf zu erfüllen und mutig die Folgen eurer persönlichen Entscheidungen sowie die Bürde der euch zustehenden Autonomie auf euch zu nehmen. Diese christliche Laienmentalität wird euch dazu befähigen, jede Form von Intoleranz und Fanatismus zu meiden; oder positiv ausgedrückt: sie wird euch helfen, in Frieden mit all euren Mitbürgern zusammenzuleben und das friedliche Zusammenleben in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu fördern." (Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 178 (Nr. 117).)
So kommt es in erster Linie darauf an, endlich einmal den heiligen Josemaría Escrivá selbst zu Wort kommen zu lassen. Dies sollte mein Beitrag sein, sich dieser oft verkannten Gestalt neu zu nähern und sie besser zu verstehen. Die Heiligsprechung vom 6. Oktober 2002 könnte dabei eine wichtige, ja entscheidende Hilfe sein.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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