Auch wichtige Ereignisse versinken oft im raschen Strudel der Zeit. Dinge, die wir glauben nicht so schnell zu vergessen, stehen oft erstaunlich schnell nicht mehr in unserem Horizont. Es gibt gewiss viele solche Beispiele aus allen Lebensbereichen.
In jüngster Zeit gibt es, so scheint mir, zwei Beispiele, wo wir gegen dieses Vergessen ankämpfen müssen. In beiden Fällen geht es um Wahlen. Aber nur auf die Abstimmungen zu schauen, wäre zu vordergründig. Ich meine den Regierungswechsel in der Ukraine und das Abhalten der Wahlen im Irak. In beiden Fällen geht es, auch wenn noch viel zu tun ist und vieles gefährdet bleibt, um den Sieg von Menschen, die über viele Generationen geknechtet waren. Darum geht es im Letzten zwar durchaus um politische Entscheidungen durch demokratische Legitimation, aber vor allem geht es um die Freiheit der Menschen im politisch-gesellschaft-lichen Leben.
Beide Völker verdienen hohen Respekt. Ein hochrangiger Ukrainer sagte noch vor den Wahlen: „Unser Volk war in Wahrheit noch nie frei.“ Betrachtet man das Ausmaß der Manipulationen und Bedrohungen, dann kann man über die Ausdauer der bisherigen Opposition nur dankbar sein. Wir sollten die von ihr durchwachten Tage und Nächte Ende 2004 nicht vergessen, denn die aktive Geduld und der hinhaltende Widerstand haben viel mehr Menschen Mut gegeben, als zunächst zu erwarten war.
Noch mehr Bewunderung kann man für das seit Jahrzehnten geschundene irakische Volk aufbringen trotz der massiven Bedrohung potenzieller Wähler. Mit dem Tod im Nacken hat eine respektable Mehrheit allen Gefahren getrotzt und hat gewählt. Dies zeigt, was diesen Menschen trotz der täglichen Einschüchterung durch den Terrorismus die Freiheit wert ist. So grässlich und fruchtbar die Opfer im Irak vor und nach Saddam Hussein waren, sie waren nicht umsonst, wenn es jetzt gelingt, auf der positiven Entscheidung der abgehaltenen Wahlen das Land wieder aufzubauen und zu befrieden.
Dabei ist jedem klar, dass in beiden Ländern mit diesen Wahlen zwar ein erster Sieg errungen ist, die Demokratie sich jedoch als Lebensform in der Breite des gesellschaftlich-politischen Denkens noch nicht durchgesetzt hat. Im Irak gibt es täglich noch die tödliche Bedrohung durch den Terrorismus. Er zielt besonders auf aktive Politiker, Armeeangehörige und Polizisten, die vor allem die Gewalt eindämmen wollen und die öffentliche Sicherheit verbessern müssen.
Auch in der Ukraine gibt es schleichende Versuchungen, die Mächte von früher wieder an die Schalthebel zu bringen. Die Parteien zerstreiten sich. Russland blickt immer noch misstrauisch auf einen ehemaligen Satteliten. In der Ukraine geht es aber vor allem auch darum, dass den bisherigen Machthabern, die oft blindlings in die eigene Tasche gewirtschaftet haben, das Handwerk gelegt wird. Gleiches Recht für alle ist immer noch ein fernes Ziel. Korruption spielt eine fürchterliche Rolle und ist wirklich eine schmerzliche Wunde.
Europa hat, gewiss immer auch innerhalb des transatlantischen Bündnisses eine hohe Pflicht, diese Errungenschaften nicht zu vergessen und diese Völker kontinuierlich und verlässlich zu unterstützen. Gerade hier ist in der Politik Nachhaltigkeit gefragt. Sonst könnten wir eines Tages schuldig werden, dass in beiden Ländern die Sternstunden der Freiheit wieder vom Horizont verschwunden sind. Bei beiden Beispielen wird sich aber auch zeigen, ob das neue Europa wenigstens langsam zu einer wirklich gemeinsamen Außenpolitik fähig wird.
© Karl Kardinal Lehmann
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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