TÜRKEI-BEITRITT: FAIR VERHANDELN

Beitrag für die Kirchenzeitung "Glaube und Leben" - Ausgabe Dezember 2004

Datum:
Samstag, 11. Dezember 2004

Beitrag für die Kirchenzeitung "Glaube und Leben" - Ausgabe Dezember 2004

Am 16.12.2004 wird der Europäische Rat, also die Regierungschefs in der EU, darüber entscheiden, ob Verhandlungen mit der Türkei über ihren Beitritt aufgenommen werden sollen. Diese Entscheidung ist von großer Tragweite für die Zukunft Europas.

Die Diskussion darüber ist nicht frei von Kurzschlüssen und Vorurteilen. Manch einer verbindet dies mit Visionen einer Erweiterung der Europäischen Union, ohne realistisch zu sein. Viele lehnen den Beitritt schon deshalb ab, weil damit ein bevölkerungsreiches muslimisch geprägtes Land in die EU einziehen würde.

Die Türkei verdient eine würdige Behandlung, gerade auch im Blick auf die 2,8 Mio Türken, die mit uns leben und für uns arbeiten. Deutschland und die Türkei haben schon seit langem gute Beziehungen und einen großen Austausch. In der Nazi-Zeit fanden dort viele verfolgte Deutsche Zuflucht. Heute erwartet die Türkei große Hilfe aus Deutschland für die Annäherung an die EU.

In Kopenhagen haben 1993 die Regierungschefs im Blick auf die jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas Kriterien für einen Beitritt zur Europäischen Union aufgestellt, die heute auch für die Türkei gelten. Zu ihnen gehört die Wahrung der Menschenrechte in Entsprechung zum Wertefundament der Europäischen Union. Die Türkei hat gewiss darin während der letzten Jahre Fortschritte gemacht. Aber es gibt auch noch Defizite, vor allem auch in der Anwendung und Einhaltung der Menschenrechte: Folter ist mancherorts weiterhin gebräuchlich; Todesfälle in Polizeigewahrsam werden oft nicht aufgeklärt; kritische Journalisten haben es schwer.

Viele Experten und Politiker sehen die Achtung der Religionsfreiheit als einen besonderen Gradmesser der Wahrung der Menschenrechte. Nun gilt die Türkei seit den zwanziger Jahren als säkularer Staat. Dennoch genießt der sunnitische Islam geradezu den Rang einer Staatsreligion, die privilegiert, aber auch kontrolliert wird. Der Freiheitsraum anderer Glaubensgemeinschaften, besonders auch der christlichen Kirchen, ist eingeschränkt.

Die Kirchen haben keinen gesicherten rechtlichen Status. Sie können weder Eigentum besitzen noch erwerben. Vermögen, das die Kirche einfach zum Leben braucht, muss deshalb von Einzelpersonen oder Stiftungen verwaltet werden. Dies erzeugt viele praktische Probleme. Es darf auch keine Ausbildung des theologischen Nachwuchses in der Türkei geben. Besonders die Griechisch-Orthodoxe Kirche leidet darunter. Der Ökumenische Patriarch, der weltweite Bedeutung hat, muss ein Türke sein. Die berühmte Theologische Hochschule auf der Insel Chalki ist trotz wiederholter Versprechen immer noch geschlossen. Geistliche und andere kirchliche Amtsträger erhalten bislang ihre Arbeitserlaubnis als Angestellte diplomatischer Vertretungen.

Es hat sich manches unter Ministerpräsident Erdogan verbessert, z.B. auch das Vereinsgesetz. Aber vieles steht nur auf dem Papier. Darum muss bei der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen von Anfang an auf äußerste Klarheit in der Wahrung der Menschenrechte und besonders im Blick auf die Religionsfreiheit geachtet werden. Es wäre wohl besser gewesen, die Beseitigung dieser Hindernisse und ihre positive Klärung vor Beitrittsverhandlungen zu verlangen. Wenn aber nun anders entschieden wurde, muss von Anfang an auf diese Mängel hingewiesen und ihre Beseitigung in einer überschaubaren Zeit verlangt werden. Es kann in grundlegenden Fragen der Menschenrechte innerhalb der Europäischen Union keine Zonen unterschiedlichen Rechtsverständnisses geben.

Es muss für beide Partner, für die Türkei, aber auch für die Länder der Europäischen Union, von Anfang an fair verhandelt werden. Zu dieser Fairness gehört auch das strikte Einhalten der Menschenrechte-Standards in der EU. Es kann kein unterschiedliches Freiheitsniveau geben. Diese Klarheit muss es von Anfang an geben.

© Karl Kardinal Lehmann

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz