Theologie der Zukunft – Zukunft der Theologie

Datum:
Sonntag, 11. Dezember 2005

Festvortrag bei der Verleihung des Eugen-Biser-Preises in der Allerheiligen Hofkirche der Residenz München am 11. Dezember 2005

Hinweis: Den Text der Laudatio, der Begrüßung und der Einführung in die Feierstunde der Preisverleihung finden Sie unter: www.eugen-biser-stiftung.de

Zunächst möchte ich mich bei Ihnen allen, besonders aber bei Eugen Biser, nach dem dieser Preis genannt ist, sowie bei allen Mitgliedern und Vorsitzenden der Gremien, nämlich des Stiftungsrates: Herr Prof. Dr. Richard Heinzmann, des Kuratoriums: Herr Dr. Heiner Köster, sowie des Vorstandes: Herr Helmut Linnenbrink für diese Auszeichnung bedanken. Zugleich bedanke ich mich für die anerkennenden Einführungen von Prof. Dr. Paul Kirchhof und natürlich von Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Eugen Biser und die Laudatio des mir schon lange in gemeinsamer ökumenischer Arbeit verbundenen und hoch geschätzten Prof. Dr. Gunther Wenz. Ich werde am Schluss einige Worte zu Eugen Biser sagen.

In dem folgenden Vortrag möchte ich darlegen, warum Kirche und Gesellschaft die Theologie brauchen und warum Theologie uns bei der Bewältigung unserer Zukunftsprobleme hilfreich sein kann.

I.

Der Glaube denkt. Diese Aussage ist nicht selbstverständlich, sondern bedarf der differenzierenden Reflexion. Nur durch einen solchen Schutz bleibt die ausgesprochene These richtig. Zwei extreme Anschauungen bestreiten ihre Wahrheit. Atheistische Aufklärung und Religionskritik sprechen dem Glauben, besonders in dogmatischer Gestalt, jegliche Partizipation an Rationalität ab. Er sei nichts anderes als eine Ausgeburt des Dunkelmännertums, das Exempel für Unwissenschaftlichkeit und Befangenheit in Vorurteilen, ein Hindernis bei der Aufklärung des Menschen über sich selbst, Erfüllungsgehilfe bei der reaktionären und emanzipationsfeindlichen Interessenvertretung der „Mächtigen“. Das andere Extrem kommt nicht selten aus den eigenen Reihen, wo man Sorge hat, die Reflexion könnte das Eigene und Besondere des Glaubens zerstören oder dieses durch ihre Kraft überwuchern. Dieses Misstrauen mit dem Vorwurf des „Zersetzens“ und des „Destruktiven“ pocht auf das nichtrationale Element im Glauben, z.B. auf das Vertrauen, auf die affektiven Werte („Gefühl“), die Frömmigkeit, den Gehorsam. Dahinter steht auch die Sorge, der christliche Glaube verrate durch eine zu enge Verbindung mit dem Denken die „Torheit des Kreuzes“ an den menschlichen Verstand. Gleichwohl hat die katholische Theologie immer die Überzeugung festgehalten, Glauben und Wissen könnten nicht in einen endgültigen Widerspruch zueinander treten und Glaube sei ein Gehorsam, der sich in Übereinstimmung mit der menschlichen Vernunft befindet. So erhebt sich die Frage, warum der Glaube auf das Denken angewiesen bleibt und wie die Vernunft beschaffen ist, welche die Wirklichkeit des Glaubens eröffnen kann.

Ich möchte vier Thesen entfalten:

1.Verantwortliches Denken im Raum der christlichen Offenbarung und Theologie gibt es nur, weil und insofern beide von Hause aus auf den christlichen Glauben bezogen sind und bleiben.

2.Der Glaube braucht das Denken, wenn er sich selbst treu bleiben will.

3.Die Kirche braucht die Anstrengung des Glaubensdenkens, wenn sie verantwortlich das Evangelium der Welt vermitteln will.

4.Auch die moderne Gesellschaft kann mindestens erkennen, dass ihr Theologie bei der Aufklärung über sich selbst, ihre Herkunft, und bei der Bewältigung ihrer Lebens? und Gestaltungsprobleme, ihre Gegenwart und Zukunft, „nützlich“ sein kann.

Die erste These ist einfach und klingt fast selbstverständlich, enthält jedoch bereits den ganzen Sprengstoff unserer Frage: Verantwortliches Denken im Raum der Offenbarung und Theologie gibt es nur, weil und insofern sie radikal auf den christlichen Glauben bezogen sind und bleiben. Die Theologie macht bewusst, dass alle Wissenschaft trotz ihrer Unentbehrlichkeit eine abgeleitete Größe darstellt. Die technischen Möglichkeiten und die unendlich scheinende Macht der Konstruktion und Produktion lassen uns leicht vergessen, wie sehr alle wissenschaftliche Zivilisation mindestens in ihrer Fragestellung von „Vorgegebenem“ herkommt. In der Theologie treibt sich das Denken nicht allein mit sich herum. Die Theologie offenbart in ihrer Weise und radikal dieses Angewiesensein auf ? sagen wir es ganz neutral – „Objekte“ außerhalb ihrer selbst. Ja, es macht geradezu eine tiefe Besonderheit der Theologie aus, dass sie diese Armut ihrer selbst tiefer begreifen lernt und in dieser stetigen Hinordnung dennoch Wissenschaft bleibt, d.h. keine Frage scheut und keinem Problem ausweicht.

Glaube erweist sich als Basis für die Bestimmung von Theologie. Er ist die Weise, wie die Wirklichkeit Gottes dem Menschen zugänglich und zu Eigen wird. Was ist „Glaube“? Er bedeutet eine unüberbietbare und letzte Entscheidung des ganzen Menschen zu Gott als dem Grund seiner eigenen Existenz, von Welt und Geschichte. Der Glaube umspannt dieses Ganze in seiner Einheit und Vielfalt. Er gewährt für die Gegenwart und die Zukunft Gewissheit, unzerstörbares Heil und Machtgewinn über die Wirklichkeit. Dabei ist das Wort „glauben“ im christlichen Sprachgebrauch keineswegs so naiv, wie es in unserer Alltagssprache klingt. Schon das Alte Testament ist in vielen Partien zurückhaltend in der Verwendung dieses Wortes, weil es um falsche Sicherheit, um die Religion gefühlvoller Vertrauensseligkeit und um die Illusionen fragwürdigen Sichgeborgenfühlens weiß. Die Erfahrung solcher Versuchung macht der Glaube selbst, wie er überhaupt nur seine eigene Identität behält, wenn er um seine Anfechtung, sein „Unwesen“ weiß und so um die ständige Reinheit seines Wesens kämpft und streitet. Erst wenn falsche Geborgenheit abgewehrt ist, wird der Blick frei, dass so etwas wie „Glauben“ zur einzigen Existenzgrundlage und zu einem Kriterium vollen Menschseins wird. Erst unter dieser Voraussetzung gilt das Wort von Jes 7,9: „Wenn ihr nicht glaubt, so habt ihr keinen Bestand.“ Der Glaube wird aus der Skepsis der Weltbewältigung und ihrer Erfahrung zum tragfähigen Fundament und zum Prüfstein, auf dem der wahrhaft Fromme in der Stunde der Erprobung und der Anfechtung durchhält. Von der Bewahrung des Vertrauens und der Zuversicht kann nur angesichts einer höchst bedrohlichen Situation gesprochen werden, die eher Raum zum Verzagen zu lassen scheint. Von daher wird einsichtig, warum „Glaube“ einen totalen Akt ungeteilten Einsatzes der ganzen Person darstellt und dass in ihm der Mensch auf die Frage nach dem Ganzen, dem Sinn, dem Grund und dem Ziel seines Lebens und der Welt antwortet.

Darum ist schon vom biblischen Wortsinn von „Glauben“ her deutlich, dass es Theologie als Bezugswissenschaft zum christlichen Glauben ohne Gott nicht geben kann. „Atheistische Theologie“ ist entweder ein Wortspiel mit paradoxen Spiegelungen des Faktums, dass keine Form des Wissens den geheimnisvollen Gott je verfügbar machen kann, oder es ist nur ein Spuk, weil man von etwas redet, was gleichzeitig verneint wird. Wo „Glaube“ dem religiösen Bereich entfremdet wird und wo man seinen Sinngehalt auf das innergeschichtlich Diesseitige überträgt und eingrenzt, wird er in der profanen Verwendung ideologieanfällig, wie schon einfache Redewendungen und Parolen „Glaube an sich selbst“, „Glaube an die Menschheit“, „Glaube an den Führer“ zeigen können. Auch wer einen anthropologischen und philosophischen Glaubensbegriff verwendet, muss sich fragen, wie der Mensch zuletzt die Last und die Rätselhaftigkeit des Daseins bestehen kann, ohne in den Enttäuschungen und Absurditäten der Sinnlosigkeit zu verfallen. Woher bezieht der Mensch das „Urvertrauen“, die „Zuversicht“, die er z.B. nach der neueren Psychologie bereits als Kind grundlegend zum Finden eines geglückten Daseins lebensnotwendig braucht? Woher kommt die Zustimmung zur Welt, die immer wieder alle unsere einzelnen Handlungen übergreift und trotz aller Negativität menschlicher Erfahrung Ja sagt zum Leben? Dabei bedeutet diese ursprüngliche und vorgreifende Zustimmung zum Ganzen der Welt keine simple Bestätigung einfach des Faktischen. Ein solches ursprüngliches Ja auf dem Grund der menschlichen Existenz hat den Mut, mit dem Widrigen und den bedrohlichen Mächten der Welt und des Menschen zu streiten, ist also alles andere als nur bewahrend, konservativ in einem schlechten Sinn. Ein radikaler Glaube bedeutet die Affirmation einer Welt, die noch nicht im Lot ist, aber gerade durch den menschlichen Einsatz zum Guten verändert werden kann. Ohne diesen Stachel der Weltveränderung, die allerdings für den Glaubenden beim eigenen „Umdenken“ einsetzt, verrät der Glaube sich selbst, weil er eine Vollendung und ein Gutsein der Welt wähnt, während er selbst grundlegend unvollendetes Unterwegssein ist.

Der christliche Glaube lebt von der Grundüberzeugung, dass die fundamentale Entscheidung zu diesem Ja zur Welt nur in dem, was wir „Gott“ nennen, begründet werden kann. „Der Mut zum Sein“ (Paul Tillich) gründet sich auf den Gott, der die Welt und den Menschen aus absoluter Freiheit vom Nichts in das Dasein rief.

Es ist unerlässlich, dem Menschen heute aufzuzeigen, wo er diesem Gott verborgenerweise in seinem Leben begegnen kann. Gott hat in der Tat viele Vornamen, wie Gerechtigkeit, Wahrheit, Barmherzigkeit und Liebe. Überall, wo dafür bedingungslos und selbstlos gestritten wird, wird ? mit der Schrift gesprochen ? der „unbekannte Gott“ verehrt (vgl. Apg 17,23). Doch gerade der höchste Einsatz zeigt auch die Enttäuschung und die Vergeblichkeit dieses Kampfes für das Wahre und Gute. Ja, mancher verzweifelt am Gelingen von Gerechtigkeit in dieser Welt, ganz zu schweigen von Barmherzigkeit und Liebe. Und hier ist der Ort, wo der christliche Glaube ganz radikal seinen Ursprung und seinen bleibenden Grund bezeugen muss: Gott offenbart sich in dem, was er für die Welt ist, in Jesus Christus. Wehe, wenn wir zu früh und zu unbedacht im christlichen Glauben von „Jesus“ reden, ohne das gewiss auch missverständliche Wort „Gott“ ausreichend bedacht zu haben. Aber auch wehe, wenn die Rede von Gott so abstrakt und so fremd wird, dass dieser Gott nicht mehr auf dem Antlitz unseres Menschenbruders Jesus erscheinen kann, weil wir mit unseren selbst gemachten Kategorien viel besser zu wissen vorgeben, wer, was und wie Gott sein darf.

Was sagt uns der christliche Glaube in diesem strengen Sinn für unser Leben? Ich will es an diesem Punkt nicht abstrakt referieren, so notwendig die Argumentation ist, sondern es zeugnishaft an einem Glaubensbekenntnis heutiger Christen aufzeigen:

„Für die Welt und für mich habe ich Vertrauen in Jesus von Nazareth.

Er ist der einzige Retter und Herr.

Er war wahrer Mensch,

wie es kein Mensch aus sich selber sein kann.

Er starb an einem Kreuz ? für die anderen, für die Welt,

wie auch für mich.

Er ist auferstanden.

Er ist gegenwärtig in allen Menschen,

und um ihnen zu dienen, sammelt er seine Kirche,

ohne unseren Unterscheidungen Rechnung zu tragen.

Er handelt durch die Menschen in der Geschichte,

um sie zu seinem Ziel zu bringen:

Eine Welt versöhnt in der Liebe.

Daher glaube ich nicht an die Unabänderlichkeit

weder des Krieges, noch des Hasses,

weder der Katastrophen, noch des Todes,

denn ich glaube, dass Jesus den Menschen befreit zu freien Entscheidungen.

Dank ihm hat mein Leben und auch die Welt einen Sinn.

Für die Welt und für mich hoffe ich auf Jesus von Nazareth: Er kommt!“.

Weil und insofern dies eine Botschaft ist, von der ich für mich und andere überzeugt bin, gibt es Theologie. Ohne diesen Wurzelgrund des gelebten Bekenntnisses verliert die Theologie die Luft zum Atmen. Man kann sich dann religionsgeschichtlich um die historische Herkunft und die Entzifferung heiliger Schriften und anderer Dokumente kümmern, aber man treibt im strengen Sinn keine Theologie. Objektivität, Rationalität und kritische Grundeinstellung der Theologie als Wissenschaft werden durch diese „Bindung“, wie noch zu zeigen sein wird, in keiner Weise gestört. Hier ist ein grundlegender Unterschied zwischen Religionswissenschaft, die selbstverständlich ihren eigenen Sinn und ihre Berechtigung hat, und „Theologie“, weil diese vom Anspruch der von ihr erkannten Wahrheit nicht getrennt werden darf.

Mit Absicht wurde jetzt das Wort Theologie gebraucht. Es geht nämlich nicht nur um ein beliebiges „Bedenken“ des Glaubens zu irgendwelchen Zielsetzungen. So kann sich jede Wissenschaft mit dem Glauben als einem Gegenstand ihrer theoretischen Neugierde befassen. Theologie bedeutet, dass es sich um Denken handelt, das der Wirklichkeit und der Selbstkundgabe Gottes nach deren eigenem Maß gerecht werden will. Darum ist Theologie „denkender Glaube“. Dieser vollzieht sich nicht nur in den hoch spezialisierten Formen heutiger wissenschaftlicher Theologie, sondern auch in vielen Formen und Vollzugsweisen, darin die Wirklichkeit Gottes in seiner Bedeutung für Mensch und Welt geistig erschlossen und verstehbar gemacht wird. In diesem Sinn haben z.B. Verkündigung, kirchliche Kunst und christliches Handeln eine theologische Dimension, auch wenn wir gewohnt sind, den Begriff „Theologie“ im engeren Sinn der Reflexion und Erforschung des Glaubens mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden zu reservieren.

Damit sind auch schon alle Probleme angesprochen, welche sich zwischen Theologie und Glaube, Wissenschaft und Kirche, Freiheit der Theologie und Bindung des Glaubens abspielen können. Darum dienen die folgenden Ausführungen eigentlich nur dem Nachweis, dass diese erste These, wird sie voll entfaltet, mit den anderen Grundsätzen wirklich und im Ernst vereinbar ist.

II.

Wenn der Glaube in seiner Funktion der Welterhellung und der Daseinsdeutung unersetzlich ist und nicht in abschließbares Wissen allein umgewandelt werden kann, was soll noch „Theologie“? Ist der Glaube nicht sich selbst genügend? Wird er in seiner Eigenart und Würde nicht geradezu gefährdet, wenn er auf der Ebene menschlichen Einzelwissens objektivierend analysiert und seziert wird? Kann der Glaube Glaube bleiben, wenn sich die Wissenschaft mit ihm beschäftigt?

Diese Fragen sind ernst, und sie haben von Anfang bis heute in verschiedenen Gestalten und Problemstellungen immer wieder die Theologie beschäftigt. Man denke nur an das paulinische Wort von der christlichen Botschaft als der Torheit des Kreuzes, „für Juden ein Anstoß (Skandalon), für Heiden eine Torheit“ (1 Kor 1,23), an den Kampf mit heidnischen Philosophien, an den Streit zwischen Glauben und Wissen, an Bonaventuras und Luthers Wort von der „Hure Vernunft“.

Die Antworten sind darum auch sehr verschieden ausgefallen. So hat man bis auf Karl Barth immer wieder gemeint, das Glaubensdenken sei darum entstanden, weil man zur Abwehr von Häresien und zum Schutz des Glaubens gegen Missdeutungen die Theologie brauche. Für diese These, dass sich die Notwendigkeit der Theologie primär aus dem Faktum der Häresie ergibt, spricht mancher kirchengeschichtliche Befund. „Oportet haereses esse“ (1 Kor 11.19): Es ist immer gerungen worden um den Sinn dieses Pauluswortes.

Wie immer genauer die Antwort lautet, es scheint, dass die These von der Geburt der Theologie aus dem Faktum der Häresie eine vielleicht „historisch“ durchaus richtige Teilwahrheit darstellt, dass sie aber die Frage „Wozu denkender Glaube und Theologie?“ nicht genügend beantwortet. Darum sei es erlaubt, die zweite These genauer zu entfalten: Der Glaube braucht das Denken, wenn er sich selbst treu bleiben will.

Wir erkennen heute viel deutlicher, dass „Gottes Wort“ nicht einfach vom Himmel gefallen ist, sondern bis hinein in seine Mitte der menschlichen Verantwortung aufgegeben ist. Darum möchte ich den Sinn dieser These zunächst am Beispiel und am Leitfaden des Offenbarungsverständnisses aufzeigen.

Wenn das Neue Testament das Zeugnis der Offenbarung in Jesus Christus schon in einem reflektierenden Glaubensdenken darbietet, dann ist jeder Vorstellung fertiger, absoluter und ungeschichtlicher Mitteilungen Gottes an die Menschen der Boden entzogen: Die Offenbarung, das „Evangelium“ ist von seinem innersten Wesen her als Wort und Botschaft auf den Glauben bezogen. Aber als solche auf das Heil des Menschen zielende Glaubens-Botschaft verlangt Offenbarung in einer einzigartigen Herausforderung die aufmerksame Gegenwart des Hörenden. Die Botschaft offenbart nur, indem sie jemandem etwas kundtut. Sonst ist sie nicht Botschaft. Wäre kein hörender Partner da, dann käme Gottes Wort gar nicht zur Sprache, es bliebe höchstens leerer Schall, der wieder in der echolosen Unbetreffbarkeit absoluter Einsamkeit verweht. Hören im vollen Sinne ist jedoch nicht bloß der passive Empfang irgendwelcher Laute, sondern das lichte Verstehen des uns Zugesagten. Das Offenbarungsgeschehen regt untrennbar vom konkreten Glauben zugleich auch schon zuinnerst das Denken an und provoziert die Reflexion des Menschen, um das eben Gehörte in seiner ihm eigenen Bedeutsamkeit aufzuhellen, es verständlich anderen mitsagen und so erst innerhalb einer bestimmten Welt den leibhaftigen Menschen als Botschaft ausrichten zu können. Es gibt kein „Wort Gottes“, das nicht schon von Anfang an als im Glauben gehörtes, frei empfangenes und darin zugleich auch als gedachtes Wort auftritt. Wenn uns also auch das von Gott Gesagte als solches im Glauben bestimmt ? und nicht wir die Bestimmenden sind! ?, so gehört zum Glauben gleich ursprünglich der im Hören schon einhergehende aktive Mitvollzug unseres Verstehens.

Man kann diese Vollendung von Offenbarung im gläubigen Verstehen noch etwas radikaler (und ein wenig einseitig) zur Anschauung bringen. Die christliche „Offenbarung“ verlangt von Grund auf den hörend-denkenden Menschen als ausgezeichneten Ort ihrer Wirklichkeit, ohne den sie als Heilsoffenbarung gar nicht sein kann. In jedem Glaubensgehorsam lebt eine für Gott entschlossene Freiheit, die erst (wenn auch nicht allein!) personales Heil annehmen lässt. Wenn der Mensch aber so zu den Bedingungen der Möglichkeit von Offenbarung gehört, dann übernimmt er zugleich die wichtige Aufgabe, diesen von ihm selbst eingenommenen Ort der Ankunft der Offenbarung Gottes als solchen dafür frei, d.h. offen zu halten. Da es sich dabei nicht um ein im Wesen von uns selbst bestimmbares Wort geht, sondern dieses sich als Wort Gottes mit seinem eigenen Anspruch in unserem entsprechenden Hören ereignet, trägt das menschliche Dasein zugleich eine hohe Verantwortung angesichts dieser es selbst bestimmenden und richtenden Botschaft: Das Hören muss diesem Wort, damit es in seiner unableitbaren Hoheit und Mächtigkeit bleiben und so sich zeigen kann, den freien Spielraum seines Erscheinens gewähren und in eins dafür Sorge tragen, dass dieses Wort, das dem Menschen zugesagt wird, zugleich ein menschliches bleibt, d. h. sich auch faktisch als verstehbar, sagbar und mitteilbar erweisen kann. „Begründung“ kann dieses Wort des Glaubens also nicht einfach herbeizwingen wollen, denn dieser Grund gibt sich primär von sich selbst her, wenngleich er nicht ohne das entsprechende menschliche Vernehmen zugänglich wird. Aber jedes Begründenwollen ist von hier aus schon anfänglich in einzigartiger Weise an diese Selbstpräsenz des Glaubens gebunden. Wird diese nicht beachtet, dann fällt die spezifische Weise dieser „Begründung“ bereits aus der Betrachtung heraus. Wir haben es dann im besten Falle mit einem Wort über Gott zu tun, aber nicht mehr mit einem „Wort Gottes“, insofern dieses nur von Gott her ein solches ist und bleiben kann.

Der Glaube muss zutiefst von dieser zweifachen Verantwortungsbereitschaft geprägt sein, den göttlichen Anspruch und die menschliche Verstehbarkeit seiner selbst zu wahren. Denkt der Glaube nicht immer wieder diesem seinem Wesen nach, so missversteht er sich selbst. Der Glaubende ist es also sich selbst vom Innersten her schuldig, dass er Rechenschaft gibt über sich selbst. Der Glaubende ist nicht er selbst, wenn er nicht die Verantwortungsbereitschaft zu diesem Dienst am Glauben selbst aufbringt. Damit ist auch schon – ohne weitere Begründung – gesagt, dass wir hier nur vom Glauben der personalen Entscheidung sprechen, der durch den Ernst seiner Annahme eine umwandelnde Kraft in das Dasein bringt und nicht als bürgerliche Konvention oder als ein unvermeidliches Geflecht historischer, psychologischer und soziologischer Voraussetzungen zum pervertierten Unwesen seiner selbst depotenziert wird.

Jeder Gläubige muss Rechenschaft seines Dienstes am Glauben geben und vor den Menschen den „Grund“ der in ihm wirksamen Hoffnung darlegen. Theologie gehört darum als „Rechenschaft der Hoffnung“ (vgl. 1 Petr 3,15) grundlegend zu jedem bewusst übernommenen und personal entschiedenen Christsein. Weil der christliche Glaube von Anfang an auf der Erhellbarkeit und Öffentlichkeit des Evangeliums bestand, hat sich die Reflexion des christlichen Glaubens schon sehr früh ausgebildet. Im Unterschied zu manchen Religionen hat das Christentum überhaupt erst in dem uns heute geläufigen Sinne die rationale Gestalt der Theologie entwickelt und gefördert. „Dasjenige Phänomen, das in methodologisch durchreflektierter Gestalt in der Hochscholastik die Bezeichnung ‚Theologie‘ annahm, aber bei prinzipieller Gleichartigkeit auch in anderer Gestalt ebenso genannt werden kann, begegnet allein im Christentum. Diese eigentümliche geschichtliche Tatsache darf man nicht einebnen in ein vermeintlich allgemeines Gesetz, wonach unter bestimmten Bedingungen in der Religionsgeschichte Theologie auftrete. Anzeichen, die man dafür anführen könnte ..., treffen nicht den Kern des als Theologie anzusprechenden Phänomens: nämlich dass der Glaube von sich aus auf Verstehen drängt in einer der Verstehenssituation angemessenen Weise.“. Im Wesen des christlichen Glaubens ist also der Grund gegeben, der Theologie möglich und notwendig macht.

Es ist dabei ganz unvermeidlich, dass der christliche Glaube in seiner Ausbildung zur Theologie von einem jeweils verschiedenen Wissenschaftsbegriff geprägt war. Darüber braucht hier nicht näher gehandelt zu werden, aber man muss sich vor Augen halten, dass die Geschichte der Wissenschaft und der Wissenschaftstheorie bis tief in die Neuzeit hinein von der Theologie mitgestaltet worden ist.

Wird das Verhältnis von Glaube und Theologie so verstanden, dann wird von selbst deutlich, dass die Theologie der Verkündigung des Evangeliums dient, ohne ihre Eigenart und ihren Theoriecharakter dadurch zu verlieren. Es handelt sich auch nicht um die „Anwendung“ oder die „Praxis“ der Wissenschaft. Vielmehr gehört der Bezug zur Verkündigung des Evangeliums deshalb zu den konstitutiven Bedingungen von Theologie, weil Glaube seiner Natur nach sich im antwortenden und verantwortenden Sicheinlassen auf die geschichtliche Situation erfüllt. Theologie ist also von ihrer Wurzel her missionarisch, oder sie ist nicht. Diesem Aspekt muss noch gründlicher nachgedacht werden.

Der denkende Glaube muss dafür Sorge tragen, dass der konkrete Mensch der Geschichte bis in alle Lebensbereiche und faktischen Aufenthalte hinein die eigene Mächtigkeit und daseinsverwandelnde Kraft des Glaubens erfahren kann. Es gibt so vieles, was dem Glauben und dem konkreten Daseinsverständnis zunächst jeweils bedeutungslos, unzugänglich, unrealisierbar und damit „heillos“ bzw. sinnlos erscheint. Das Glaubensdenken (in seinen verschiedensten Stadien und Stufen) nimmt sich nicht bloß so an, wie es sich immer schon versteht, sondern eröffnet sich selbst transzendierend bisher unbegangene Wege, schafft neue Bezugsmöglichkeiten zwischen „widersprechenden“ Sachverhalten und erweitert die bisherigen Lebens- bzw. Glaubens-Horizonte. Vom innersten Verständnis des Glaubens her ist diese Eröffnung aber nicht möglich in der pseudoreligiösen Esoterik eines weltlosen, nur verinnerlichten Glaubens, sondern entfaltet sich als lebendige Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Welt und deren Nöten: Die Botschaft des Glaubens muss radikal und unerbittlich mit dem konkreten Welt- und Daseinsverständnis des Menschen konfrontiert werden. Es ist keine Frage, dass hier zutiefst immer wieder gefragt und gesucht werden muss: Schleichende Verabsolutierungen partikulärer Momente und beschränkter Gesichtspunkte müssen aufgedeckt werden; die berückende Macht des trügerischen Scheins, der gängigen „Meinungen“ und der handfesten Interessen muss entlarvt werden; die unerbittliche Befragung wehrt sich gegen die lähmende Übermacht des rein Faktischen und plädiert durch den Hinweis auf die je größeren Möglichkeiten für die grundsätzliche „Offenheit“ des konkreten geschichtlichen Daseins (das sich diese freilich erst jeweils schaffen und geben lassen muss); gerade wenn das Glaubensdenken den Spiel-Raum schaffen bzw. eröffnen will, darin sich die gnadenhafte Zuwendung Gottes an den Menschen ereignet, und so den unendlichen Horizont für das Kommen Gottes frei und offen halten soll, muss es von sich selbst her „kritisch“ sein in einem ursprünglichen Sinn. Es muss zwischen Sein und Schein, Wahrheit und Beirrung zu unterscheiden wissen. Auch hier zeigt sich, dass der sich selbst recht verstehende Glaube von seiner Wurzel her Einsicht, Verantwortung und also Rechenschaft besagt.

Die Theologie wird dadurch auch zum Anwalt des Menschen im Verstehen der Offenbarung. Gerade weil hier Gott spricht, darf mehr und radikaler, gründlicher und kritischer gefragt werden als anderswo. Was manchem Außenstehenden als „Rationalismus“ und „Hybris“ der Theologie vorkommen mag – und wer möchte leugnen, dass es so etwas geben kann –, ist im Grunde nichts anderes als ein Ausdruck der unumstößlichen Gewissheit des Theologen, dass das Wort Gottes in seinem unendlichen Reichtum und in seiner unerschöpflichen Fülle durch menschliches Fragen und Suchen, Erkennen und auch durch den nicht auszuschließenden Zweifel nicht entleert werden kann. Thomas von Aquin, der am Schluss seines Lebens überhell sah, dass alles von ihm Geschriebene wie Stroh sei im Verhältnis zu dem, was er in seinem Glauben erfahren hatte, konnte darum den zuversichtlichen Satz schreiben: „Niemals wird der Glaube durch Erkenntnis entleert“.

Natürlich braucht der Theologe gerade in dieser Aufgabenerfüllung das Bewusstsein, selbst immer ein Glaubender zu sein. Dazu gehört die Demut und die Annahme der „Armut“ von Theologie: Das Wissen kann den Glauben nicht zu einer Vorstufe seiner selbst degradieren, sodass nur noch ein „Gefühl“, eine „Empfindung“ oder „unmittelbares Wissen“ übrig bleibt. Theologie kann nie Glauben schaffen, sondern kann nur die Strukturen des Glaubens aufzeigen und seine Inhalte begründen. Die Theologie denkt dem Glauben immer nach, geht ihm nicht schlechterdings voraus (wiewohl sie ihn korrigieren und leiten kann). Glaube als existenzielle Praxis ist von keiner Theorie einzuholen. Auch Praktische Theologie, sei sie noch so praxisbezogen, kann keinen Glauben erzeugen. Die Größe der Theologie erweist sich als ihre Ohnmacht. Vergisst sie dies, dann kann sie in der Tat destruktiv werden. Aber auch dann zerstört sie zunächst sich selbst, macht sich entbehrlich und wird vielleicht besser von der Philosophie, Soziologie und Psychologie verwaltet als von theologischen Surrogaten und Ideologien, die den Ort des Glaubens nun in Beschlag nehmen.

III.

Damit ist im Grunde auch schon unsere dritte These verständlich gemacht: Die Kirche braucht die Anstrengung des Glaubensdenkens, wenn sie verantwortlich das Evangelium der Welt vermitteln will. Der Glaube neigt gerade auch in seinen Gewohnheiten, institutionellen Formen und von seinem eigenen Unwesen her dazu, sich in seiner Einzigartigkeit abzuschließen und die stetige Auseinandersetzung mit seiner Umwelt zu versagen. In dieser Form der Selbstbehauptung, die sich auch in der Spielart autoritärer Lehre zeigen kann, spiegelt sich die Unableitbarkeit des christlichen Glaubens auf eine falsche Weise. Deshalb muss die Theologie den Glauben immer wieder für die jeweilige Gegenwart dialogfähig machen. Weil es sich um die christliche Botschaft im Kontext der konkreten Welt handelt, versteht es sich von selbst, dass die Theologie immer schon im Gespräch ist mit ihren Nachbarwissenschaften und mit sehr vielen wissenschaftlichen Einzeldisziplinen. In diesem Sinne ist das interdisziplinäre Gespräch der Theologie keine moderne Erfindung, sondern eine unerlässliche Grundvoraussetzung theologischer Arbeit überhaupt.

Dieser Dienst der Theologie an der kirchlichen Gemeinschaft und am Glauben der Kirche ist nicht unproblematisch. Dabei ist gar nicht in erster Linie an Konflikte mit dem kirchlichen Lehramt zu denken. Vielmehr ist das Verhältnis von Grund auf im besten Sinne fragwürdig. Der Theologe ist von Hause aus ein kritischer Begleiter des kirchlichen Glaubens. Er ist verpflichtet zu fragen, ob sich bestimmte Äußerungen des Glaubens mit dem Erstzeugnis der Bibel und mit der wirklich verpflichtenden Tradition der Kirche in Übereinstimmung befinden. Dies gilt nicht zuletzt für die christliche Praxis selbst, ihre Bräuche und ihre Sitten. Indem die Theologie den Glauben von seinem immer normativ bleibenden und unüberholbaren Ursprung her begründet und erhellt, liegt von der Natur der Sache her ein reformerisches Element in ihrer Arbeit: Im Zurückfragen auf den ursprünglichen Grund wird oft erst sichtbar, dass der gegenwärtige Glaube im Vergleich dazu partiell verstellt sein und sogar irregehen kann. Der Theologe ist aber nicht nur ein nach rückwärts gewandter Erforscher der historischen Dokumente des christlichen Glaubens und fragt nicht nur nach ihrem damaligen Sinn. Es geht ihm gerade darum, den geschichtsmächtigen Sinn des Gotteswortes für die Gegenwart und für die Zukunft zu entdecken. Darum ist die Theologie bei aller Bindung an die geschichtliche Offenbarung konstruktiv, d.h. sie möchte beim Bau der Kirche in Gegenwart und Zukunft wegweisend mithelfen.

Diese Funktion schafft gleichsam so etwas wie eine konstitutionelle Versuchlichkeit von Theologie. Es gibt immer wieder die Versuchung zu einem elitären Bewusstsein, das sich über den vorgeblich simplen Köhlerglauben erhaben fühlt. Der Theologe kann sich rascher der denkenden Avantgarde zurechnen, die dem Fußvolk und dem Tross der Kirche voraus zu sein scheint. Das Körnchen Wahrheit soll nicht verschwiegen werden: Die Theologie braucht auch das Experiment und die Hypothese, die notwendigerweise im Raum des Unerprobten stehen. Es muss in der Kirche Platz für solche Klärungsversuche geben. Wer dies nicht zulassen würde, verkennt den Verantwortungscharakter und auch den Risikoeinsatz, von denen jedes geistige Verstehen und erst recht der Glaube geprägt sind. Aber zu allen Zeiten kann daraus auch ein besserwisserischer Dünkel als Berufskrankheit erwachsen.

Es wäre natürlich falsch, wenn der Theologe seine unersetzliche Funktion an diesem Punkt absolut setzen würde. Dies ist heute nicht ganz selten, da mancher sich in seinem theologischen Geschäft primär als Vertreter nur der „Kritik“, des ideologiekritischen Verdachts und der „Innovation“ versteht. So wird z.B. die Mitarbeit in kirchlichen Gremien und Kommissionen mit dem Argument verweigert, man habe von vornherein eine kritische Position zu beziehen und nur für neue Modelle und Alternativen zur bisherigen Praxis zu sorgen.

Hier scheint mir ein vielfaches Selbstmissverständnis am Werk zu sein. Zunächst muss sich der Theologe eingedenk bleiben, dass er bei aller wissenschaftlichen Aufgabenstellung auf den Glauben der kirchlichen Gemeinschaft zurückbezogen bleibt, diesen auch persönlich von ihr empfangen hat und bei aller reflexiven Durchdringung der biblischen Botschaft auf die Seite der Glaubenden gehört. Schließlich darf die Theologie über diese grundlegende Solidarität hinaus nicht vergessen, dass sie von Hause aus geschwisterlich ist. Dies bedeutet, dass sie ihre Aufgabe nicht erfüllt, wenn sie in forscher Rücksichtslosigkeit und elitärer Überheblichkeit sich nicht um das konkrete Glaubensbewusstsein der Kirche kümmert. Vielmehr muss die Theologie gerade dann, wenn sie neue Wege beschreiten will und muss, dem Christen aufzeigen, dass die neuen Vollzugsweisen und Auslegungen des Glaubens ? wenigstens der „Substanz“ nach – in einer grundsätzlichen Korrespondenz und Kontinuität zum traditionellen Glauben stehen. Zwar gibt es die unvermeidliche Notwendigkeit, im Namen des Evangeliums auf Missverständnisse, falsche Vorstellungsweisen und Irrtümer aufmerksam zu machen. Doch erweist sich gerade in der Erfüllung dieser Aufgaben das konkrete Maß der Geschwisterlichkeit des Theologen gegenüber seinen Mitchristen.

Diese Forderung darf nicht dazu führen, die Aufgaben des Theologen aus irgendwelchen Motiven (z.B. eben falscher Rücksicht, des angeblichen Willens der „schweigenden Mehrheit“ usw.) zu beschneiden oder gar zu domestizieren. Es kann für ihn grundsätzlich kein Frageverbot in irgendwelcher Richtung geben. Dies tut er nicht aus hohlem und blasiertem Kritizismus, sondern weil er den Glauben der Kirche verstehbarer, werbender, sachgerechter und darum auch in echter Weise „zeitgemäßer“ sagen will, ohne ihm seine Identität und seine unkonventionelle Sprengkraft nehmen zu dürfen. Für die Theologie gehört es zur Pflicht, die geistige Herausforderung einer Zeit auch dann anzunehmen, wenn sie weiß, dass sie sich auch für sie selbst gefährlichen Fragen aussetzen muss. Es kann ihr nicht erspart bleiben, dass sie sich z. B. von Kant, Nietzsche, vom Marxismus, von der Psychoanalyse, von der Soziologie usw. auf Leben und Tod zur Bewährung ihres eigenen Anspruchs provozieren lassen muss. Sie würde ? auch das muss gesehen werden ? in anderer Weise gegen die Brüderlichkeit und die universal missionarische Kraft des Evangeliums verstoßen, wenn sie nicht die Schwierigkeiten einer Zeit mit ihren schmerzlichen Erkenntnissen und mit ihren Aporien teilt und bis zu einem gewissen Grade ausleidet. Dies ist etwas ganz anderes als ein modisches und kurzlebiges Sichanpassen an verschiedene Trends, denen auch die wissenschaftliche Theologie ? nicht zuletzt heute durch die Macht der Medien und der medialen Öffentlichkeit ? ausgesetzt bleibt.

Die Theologie muss sich auch gegenüber der Glaubensgemeinschaft bewusst bleiben, dass sie nicht für alle Fragen des kirchlichen Lebens allein und exklusiv kompetent ist. Wenn es auch keinen Lebensbereich in der Kirche gibt, der ihrer Reflexion entzogen werden kann, so sind bei der Entscheidung über wichtige Grundfragen des kirchlichen Lebens auch viele nichttheologische Faktoren von großer Bedeutung, wie z. B. die pastorale Komponente, die praktische Realisierbarkeit, legitime kirchenpolitische Gesichtspunkte usw. Es gibt einen falschen, weil totalitären Anspruch der Theologie auf das Ganze des Glaubens und des kirchlichen Lebens. Überhaupt macht die Theologie der kirchlichen Lebensgemeinschaft bei neuen Hypothesen und Lösungsvorschlägen zunächst „nur“ ein Angebot. Dieses muss als solches in Theologie und Verkündigung (sofern ein solcher neuer Entwurf überhaupt schon auf die Kanzel gehört!) gekennzeichnet werden. Der Christ hat ein Recht darauf, zu erfahren, dass es sich bei dieser oder jener Interpretation um das Gedankenexperiment eines einzelnen Theologen handelt, das noch nicht allgemein von der Wissenschaft auf- und angenommen ist. Große Theologie hat immer um den Dienst- und Angebotscharakter ihrer Glaubensreflexion gewusst. Es gibt im Übrigen kaum einen Theologen, auch keinen Kirchenvater, dem die kirchliche Glaubensgemeinschaft in allem theologisch gefolgt wäre. Dies ließe sich am besten aufzeigen an der Gnadentheologie des hl. Augustinus, dem die abendländische Theologie der Gnade unvorstellbar viel verdankt, gleichzeitig ist die Kirche ihm in entscheidenden Aussagen seiner Theologie (Prädestinationslehre, Heilspartikularismus) nicht gefolgt.

Dies sollte unsere dritte These erläutern: Die Kirche braucht die Anstrengung des Glaubensdenkens, wenn sie verantwortlich das Evangelium der Welt vermitteln will. Dies schließt aber auch umgekehrt den Grundsatz ein: Die Theologie muss ihre Funktion und ihre Stellung im Ganzen der kirchlichen Glaubensgemeinschaft beachten, wenn sie einen auch auf längere Sicht wirklich positiven und produktiven Dienst leisten will.

Wer die Funktionsunterschiede von Theologie, Lehramt, Charismen in der Kirche verwischt, tut niemanden einen Dienst. Die Theologie ist weder die servile Schleppenträgerin des kirchlichen Lehramtes noch ist sie der kühne Fähnrich von Progressismus und Modernität. Sie verliert gerade ihre kritisch-wissenschaftliche Funktion, wenn sie in irgendeiner Weise konformistisch wird oder sich der Parteilichkeit irgendwelcher Art aussetzt. Ihre Leidenschaft ist die Liebe zur Wahrheit, wie es jeder Wissenschaft zu Eigen ist. „Plato amicus, magis amica veritas“, sagt Thomas von Aquin im Anschluss an Aristoteles. Plato ist ein Freund, der noch größere Freund ist aber die Wahrheit.

Dies sind nur einige Ausschnitte aus einem stetigen Bemühen. Vielleicht ist deutlich geworden, was der Theologe durch den Auftrag des „denkenden Glaubens“ in die Gemeinschaft der Kirche einzubringen hat. Das Fragen und Ringen geschieht nicht nur mit sich und auch gegen sich, sondern zuletzt mit Gott selbst. Es ist der schönste Lohn dieses ? wie ich meine – immer noch aufregendsten Berufs in der Welt, wenn es dem Gottsuchenden ähnlich ergeht wie Jakob in seinem Gebet und Kampf mit dem Unbekannten: „Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Als der sah, dass er ihn nicht zu überwältigen vermochte, schlug er ihn auf das Hüftgelenk... Und er sprach: Lass mich los; die Morgenröte bricht an. Aber er antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn... Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst“ (Gen 32, 24?29).

IV.

Die Theologie muss sich, wie inzwischen deutlich geworden ist, aus sich selbst begründen. Sie kann nicht einfach von ihrer mehr oder weniger eingeräumten „Nützlichkeit“ her verstanden werden, wie sie sich in der Perspektive einer gesellschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung ergibt. Die biblische Offenbarung und erst recht der christliche Glaube verlangen von innen her nach der Erhellung ihres Sinngehaltes, d.h. nach der theologischen Reflexion. Die Frage nach der „Nützlichkeit“ des Glaubens von außen her ist eine zwar wichtige, aber letztlich doch sekundäre Betrachtung.

Diese Antwort reicht noch nicht aus, um Zweifel zu beseitigen, wozu denn Theologie gerade heute diene. Glaube, Kirche und Theologie werden von vielen Tendenzen in der modernen Gesellschaft in ihrer Existenz bestritten. Die Theologie hat hier die Funktion, die Vernünftigkeit, Universalität und Unentbehrlichkeit des christlichen Glaubens überzeugend darzulegen. Sie kann dabei nicht immer ihren Wahrheitsanspruch, noch besser: den Wahrheitsanspruch des Evangeliums bei den Fragestellern einlösen. Es ist darum schon viel gewonnen, wenn die Theologie die „Nützlichkeit“ der wissenschaftlichen Reflexion über Glaube und Kirche erweisen kann. Darum soll die vierte These formuliert werden: Auch die moderne Gesellschaft kann mindestens erkennen, dass ihr Theologie bei der Aufklärung über sich selbst, ihre Herkunft, und bei der Bewältigung ihrer Lebens- und Gestaltungsprobleme, ihre Gegenwart und Zukunft, „nützlich“ sein kann.

Diese These gilt zunächst in einem relativ noch vordergründigen Sinn: Die moderne Gesellschaft steht in ihrer geschichts- und herkunftslosen Struktur sehr oft in der Gefahr, dass sie ihre eigene Genese und die Bedingungen ihrer Entstehung nicht mehr kennt. Bei der Heraufkunft der modernen Welt haben aber Bibel, Christentum, Kirche und Theologie – oft verborgenerweise – einen maßgeblichen Anteil gehabt, auch wenn es oft im Modus der Auseinandersetzung, des Streits und der Entfremdung geschehen ist. Man denke z.B. an die Voraussetzungen zur Entstehung der modernen Wissenschaften (Rolle des Schöpfungsgedankens), an die Wurzeln der Menschenrechte und vor allem auch des Postulats der Menschenwürde. Eine Gesellschaft, die sich selbst in ihren Bedingungen aufklären und verändern will, muss zuerst einmal um ihre Herkunft wissen. Es geht dabei nicht nur um rein historische Herkunftsnachweise oder gar späte Elternrechte. Vielmehr gibt es in der heutigen Gesellschaft unter vielen Formen pseudotheologische Relikte, die in säkularisierter Gestalt in der Politik, in den Ideologien und oft ? freilich unerkannt ? in den Geisteswissenschaften auftreten. Messianische oder pseudo-messianische Traditionen, religiös anmutende Totalitarismen sind nur wenige Beispiele dafür. Hier muss die Theologie durchaus ideologiekritische Aufgaben erfüllen: sie muss aufweisen, wo ehemals theologisch-religiöses Gedankengut in anderen Ableitungen weiterlebt, unerkannt seinen Anspruch erhebt und inhuman werden kann. Solche Relikte müssen erst einmal identifiziert und auf ihre Bedingungen zur Realisierung überprüft werden.

Eine solche Antwort mag manchem schon für die Existenzberechtigung der Theologie genügen, aber es ist doch nur eine minimale Aussage, gleichsam eine Schwundstufe. Die Theologie muss nämlich über den Nachweis ihrer konstitutiven Rolle im Zusammenhang der Genese z.B. der europäischen Zivilisation oder der Neuzeit offensiv zeigen, was sie zur Bewältigung heutiger Lebensprobleme des Einzelnen und der Gesellschaft leisten kann. Unsere Welt ist pluralistisch, und zwar grundlegend. Sie kennt in der Beantwortung der Frage nach einem letzten Sinn des Lebens keine gemeinsame Antwort mehr. Sie ist ganz von der Frage nach den „Bedürfnissen“ gesteuert, welche die wirtschaftliche, biologische, physische usw. Dimension des Menschen betreffen und andere Wirklichkeitsbereiche ausgrenzen; sie ist perspektivisch und spezialistisch: kaum einer fragt nach dem Ganzen des Menschen, der Welt und der Geschichte, weil jeder unendlich in seinen Partikularismen verstrickt ist. Wo sind die Grundwerte, die alle miteinander verbindet? Die Theologie hat hier – gewiss nicht allein – die Aufgabe, die Frage nach dem Woher und Wohin, dem Ganzen und dem Sinn von Welt und Geschichte offen zu halten und so auch die Spur für einen Zugang zu Gott freizuhalten. Viele andere Themen und Probleme wären zu nennen: der Mensch als Person und als Wesen der Transzendenz, Schuld und Vergebung, Verminderung der Gewaltanwendung, Sterbebegleitung usw. In diesem Sinne kann die Theologie, wenn sie sich selbst versteht und wenn sie sich die Freiheit bewahrt, viel zur Zukunft unserer Welt, zu ihren Überlebensbedingungen und vor allem auch zum Frieden beitragen.

Die Gesellschaft ruft heute in vielen Ausweglosigkeiten nach den Kirchen. Oft können wir die Erwartungen, die an uns gestellt werden, einfach nicht erfüllen, z.B. in der Gewaltminimierung. Der offene oder mehr verborgene Ruf nach Glaube, Kirche und Theologie steht oft in einem umgekehrten Verhältnis zu der geübten Kritik.

V.

Dieser Preis ist ganz mit dem Namen Eugen Biser verbunden. Deshalb möchte ich am Ende gerne sagen, warum ich mich durch diesen Preis mit seinem Namen geehrt fühle und was Eugen Biser mir bedeutet. Viele von Ihnen haben in der Festgabe des Jahres 1998 im ersten Teil unter der Überschrift „Persönliche Beiträge“ das Nötige gesagt (An-Denken. Festgabe für Eigen Biser. Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste (hrsg. E. Möde, F. Unger, K. M. Woschitz, Graz 1998, 17-144). Darum darf ich auch etwas persönlich werden.

Eugen Biser gehört für mich zu den bahnbrechenden Denkern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die aus der Mitte des christlichen Glaubens heraus das Gespräch mit dem Denken der Neuzeit gewagt haben. Er hat es, wie sein Buch über Nietzsches „Gott ist tot“ München 1962, also am Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils veröffentlicht, zeigt, gerade auch in den tiefen Konflikten mit dem christlichen Glauben aufgesucht. So hat er auf der einen Seite in unzähligen Büchern die Kraft des christlichen Glaubens nach vielen Seiten hin entfaltet – vom ersten Buch über das Christusgeheimnis der Sakramente aus dem Jahr 1950 bis zu der kleinen, aber gewichtigen Schrift zur Neubegegnung mit dem Unglauben „Der obdachlose Gott“ aus diesem Jahr 2005. Wer schließlich den Glauben unserer Zeitgenossen neu vermitteln möchte, der muss sich radikal auf religiöse Sprachbarrieren und auf den Rang der Sprache und die Hermeneutik einlassen. Eugen Biser hat mit Bedacht auch von früh an die Medientheorie einbezogen. Immer wieder hat er jedoch Zuflucht genommen zu den großen Gestalten des biblischen Glaubens: zu Jesus, zu Paulus, zur Rolle des Geistes. Er ist überzeugt, dass das Christentum im Jahr 2000 an einer glaubensgeschichtlichen Wende steht und formuliert im Buch „Glaubenserweckung“ (Düsseldorf 2000) die Koordinaten der Zukunft. Unablässig und unermüdlich geht es um „Die Neuentdeckung des Glaubens“ (Stuttgart 2004). Das Eugen Biser-Lesebuch von Erwin Möde (Graz 1996) ist eine höchst eindrucksvolle Hinführung zur anthropologischen, therapeutischen, ekklesiologischen und mystischen Dimension dieses Denkens. Dass er die Chancen des Glaubens nie für sich behalten wollte, sondern alle Menschen zur Partizipation einladen wollte, zeigt exemplarisch eine der herausragenden Lebensleistungen Eugen Bisers, die Schaffung des Seniorenstudiums an der Ludwigs-Maximilians-Universität München. Mit großer Hellsicht hat schon der junge Biser sich für die Wahrung des Friedens in der heutigen Welt bemüht (vgl. das Buch „Der Sinn des Friedens“, München 1960). Nicht zuletzt darum hat er auch viele Freunde im Bereich der Politik und der öffentlichen Verantwortung, die er begleitet. Es bleibt nur noch zu erwähnen, dass Eugen Biser seit über 50 Jahren dem lebendigen Umgang mit der Dichtung treu geblieben ist, wie schon seine theologische Dissertation über Gertrud von le Fort aus dem Jahr 1956 zeigt.

Es gehört zu Eugen Biser, dass es nicht nur einen Ort und eine Disziplin gibt, wo er dieses Zeugnis in seinem langen Leben erbracht hat. Er hat an jedem Ort dafür viel gelernt: als Lehrer am Gymnasium, als Professor in Passau und Würzburg, in Philosophischen und Theologischen Fakultäten, in Wissenschaftlichen Akademien, besonders in der Europäischen Akademie für Wissenschaft und Kunst Salzburg, im Gespräch mit der vielfältigen Kunst ebenso wie mit dem modernen Unglauben, zusammen mit unseren Partnern aus der christlichen Ökumene und in der Begegnung mit Wissenschaftlern aller Disziplinen und Richtungen.

Schließlich fühle ich mich von unserer gemeinsamen Zugehörigkeit zur Erzdiözese Freiburg Eugen Biser aus Oberbergen im Kaiserstuhl eng verbunden. Nicht zuletzt durfte ich Karl Rahner nach der Emeritierung von Romano Guardini etwas beistehen, das Institut und den Lehrstuhl für christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie an der Münchener Universität, wie sie damals hießen, für die Zukunft auf- und auszubauen. Eugen Biser war auf seine Weise ein würdiger Nachfolger von Romano Guardini und Karl Rahner.

So werden Sie verstehen, warum ich Eugen Biser und seinem Werk eng verbunden bin und mich durch die Verleihung des mit seinem Namen verbundenen Preises außerordentlich geehrt fühle. Ich danke Ihnen und allen, die sich dafür eingesetzt und diese Feier vorbereitet sowie gestaltet haben.

 

(c) Karl Kardinal Lehmann

Redemanuskript - Es gilt das gesprochene Wort 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz