Theologie und Genderfragen
Vortrag bei der Fachtagung „Geschlechtergerechtigkeit in Beruf und Familie für Frauen in verantwortlichen Positionen in der Kirche“ auf Einladung der Unterkommission Frauen in Kirche und Gesellschaft der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz in der Kath. Akademie München am 18. März 2005
Inhalt
I. Ursprung, Sinn und Tragweite der Gender-Kategorie
II. Zum Verhältnis zwischen biologischem und sozialem Geschlecht
III. Auseinandersetzung auf dem Boden christlicher Anthropologie
IV. Abschließende Thesen zur Praxis
Wenn ich hier das Wort ergreife, tue ich es vor dem Hintergrund einer gut 25jährigen Beschäftigung mit den hier anstehenden Problemen. Ich habe mich besonders intensiv vor allem mit den philosophischen und theologischen Implikationen der modernen Frauenfrage beschäftigt. Die Überlegungen wurden bei größeren Veranstaltungen, wie z.B. der Tagung der „Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger katholischer Dogmatiker und Fundamentaltheologen“ 1988 und als Festvortrag bei den Salzburger Hochschulwochen vorgetragen und diskutiert. Dazu gehört auch das Thema „Die Emanzipation der Frau und die Antwort der Kirche“, das ich als Eröffnungsreferat des Vorsitzenden bei der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda am 19. September 1988 gehalten habe. Ich habe dieses Thema bewusst als erstes Eröffnungsreferat gewählt, da mir die Dringlichkeit immer deutlicher wurde. Ich werde mich hier nicht wiederholen. Freilich brauche ich auch nichts zurückzunehmen von dem, was ich mir früher erarbeitet habe. Auf einige Grundaussagen komme ich später kurz zurück.
Was ich hier jedoch als Aufgabe sehe, dies entspricht einmal der Themenstellung dieser Fachtagung und bedeutet zugleich auf der Linie meiner bisherigen Überlegungen die Fortführung der Auseinandersetzung mit der neueren Entwicklung. Insofern ist dieser Beitrag eine Art von Fortsetzung der früheren Versuche.
I. Ursprung, Sinn und Tragweite der Gender-Kategorie
Es wird zuerst gut sein, sich über den Begriff der Gender-Forschung zu verständigen . Dies ist notwendig, um nicht aneinander vorbeizureden, aber auch um die notwendigen Abgrenzungen treffsicher vornehmen zu können. Der englische Ausdruck gender hat sich rasch auch im deutschen Sprachraum etabliert. „Gender“ ist eine Bezeichnung vor allem in der Differenztheorie der Geschlechterforschung. Es geht dabei um das Geschlecht als gesellschaftlich bedingten sozialen Sachverhalt, und zwar in Abgrenzung gegenüber „Sex“ als natürlich gegebenes biologisches Faktum. Die Verwendung des Begriffs erfolgte im Zug der Ausdifferenzierung der Frauenforschung seit der ersten Hälfte der 80er Jahre. „Gender“ wurde zu einem Schlüsselbegriff der feministischen Theologie, und zwar im Sinne einer Kategorie der Kritik und der Theoriebildung. Im Genderbegriff ist – wie schon angedeutet – die Opposition zwischen sex und gender, dem biologischen und kulturellen Geschlecht, verankert. Die Genderforschung reflektiert die kulturellen Konzeptionen von Geschlecht und die Gründe für eine Opposition bzw. Über- und Unterordnung von Frau und Mann. Sie versucht zugleich, den Grunddualismus abendländischen Denkens von Männlichkeit und Weiblichkeit, oft noch in eine hierarchische Wertung eingeordnet, aufzubrechen. Die Genderkonzeption wendet sich gegen die Annahme von der „natürlichen“ Bestimmung der Geschlechter und vertritt die historisch und gesellschaftlich-kulturell bedingte Konstruktion des sozialen Geschlechtes. Das soziale Geschlecht ist also das Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses. Die Genderkategorie lehnt schon durch den Unterschied von sex und gender eine biologistische Begründung von Geschlechtscharakteren und Geschlechterrollen ab, die auf dieser Grundlage unveränderlich und legitimiert erscheinen. Weiblichkeit und Männlichkeit besitzen eine kulturell bedingte Vielfalt von Bedeutungsmöglichkeiten.
Die Genderkategorie gehört so in den größeren Kontext einer Verhältnisbestimmung zwischen Gleichheit und Differenz in der Relation der Geschlechter. Man muss jedoch zwei Begriffe noch hinzunehmen, die dazugehören, nämlich den Begriff des Konstruktivismus und der Dekonstruktion. Wenn die Genderkategorie zu einer Theorie oder einer Konzeption ausgebaut wird (meist unter dem Stichwort des Gender-Mainstreaming), spielt die Überzeugung, dass alle Wirklichkeit sozial und/oder politisch konstruiert wird, eine zentrale Rolle. Es wird dabei nicht nur die Leistung des Subjekts bei der Erkenntnis und Gestaltung von Wirklichkeit hervorgehoben, sondern dahinter steckt auch die Überzeugung, „dass wir die Welt, in der wir leben, durch unser Zusammenleben konstruieren“. Dieser Begriff von Konstruktion erfordert schließlich gegenläufig und zugleich ergänzend den Begriff der Dekonstruktion, weil man unter den beschriebenen Voraussetzungen von der Annahme ausgehen muss, dass man alle so genannten „natürlichen“ Phänomene destruieren muss, um auf die vom Menschen gemachten und keineswegs naturwüchsigen Gestaltungen zurückzukommen. Dies ist eine neue Konstellation, die den „alten“ Feminismus ablöst, dem vorgeworfen wird, dass er sich auf einen natürlichen und naturwüchsigen Begriff von Frau einlässt und darum angesichts der sozialen, historischen und politischen Vielfalt naiv erscheint.
Freilich wird auch deutlich, dass diese Anwendung der Genderkategorie nur zum Teil wirklich neu ist. Unwillkürlich wird man an das klassische Grundbuch des Feminismus erinnert, nämlich an „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir, wo es bereits 1949 gleichsam als Schlachtruf heißt: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, sondern wird es.“ Es ist nicht zufällig, dass die Pionierpublikationen für das neue Gender-Denken, nämlich Judith Butlers „Das Unbehagen der Geschlechter“ , diesen Satz und auch eine andere Aussage von L. Irigaray „Frauen haben kein Geschlecht“ an die Spitze setzt. Ich brauche hier nicht die spätere Entwicklung auf diese Anstöße hin darzustellen. Freilich könnte man auch auf noch frühere Quellen zurückgehen, z.B. G. Simmel .
Nun darf man selbstverständlich nicht unterschätzen, dass „Gender – Mainstreaming“ nicht nur eine theoretische Kategorie, sondern ein Konzept zur Herstellung von Geschlechterdemokratie bzw. Geschlechtergerechtigkeit ist. Es geht um die Gleichstellung von Frauen als eine durchgesetzte gesellschaftliche Norm. Danach ist in allen Ebenen und Bereichen, vor allem bei Entscheidungsprozessen, die Geschlechterperspektive einzubeziehen. Nach diesem Konzept sind alle Akteure für Geschlechterfragen und Frauenpolitik für Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen zuständig, also Männer und Frauen: beide Geschlechter. Dabei geht es vor allem um die Überwindung der Ausschließung und Diskriminierung von Frauen. Das Konzept wurde auf dieser Ebene auf der Weltfrauenkonferenz in Peking (1995) entwickelt und u.a. von der Europäischen Union im Vertrag von Amsterdam (1997) verankert. In gewisser Weise wurde das Gender-Konzept auch im Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa im Jahr 2004 in verschiedener Hinsicht formuliert. Die Gleichheit vor dem Gesetz wird gegenüber Diskriminierungen, auch wegen des Geschlechts oder der sexuellen Ausrichtung, abgesichert, wobei es noch zusätzlich heißt: „Die Gleichheit von Männern und Frauen ist in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, sicherzustellen. Der Grundsatz der Gleichheit steht der Beibehaltung oder der Einführung spezifischer Begünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht nicht entgegen.“
In mancher Hinsicht findet sich hier eine wichtige Neuerung. Während sich früher fast ausschließlich Frauen für Frauen in der Gleichstellungsaufgabe zuständig, kompetent und manchmal auch einzig fähig fühlten, sind in der Gender-Konzeption von Anfang an beide Geschlechter, nämlich Frauen und Männer, mit dieser Aufgabe betraut. Dabei gibt es freilich hier auch schwierige Konsequenzen, die nur angedeutet werden können. Wenn die These vertreten wird, dass das biologische in das soziale Geschlecht aufgelöst und die Kategorie Geschlecht am Ende überhaupt radikal in Frage gestellt wird, dann kann es natürlich leicht geschehen, dass die klassische Frauenpolitik zunächst einmal ihr Objekt geradezu verliert. Dies kann natürlich nicht der Sinn der Sache sein. Aber das Verhältnis von Gender-Studien und Frauenforschung, von Gleichstellung und Frauenpolitik muss zweifellos neu bestimmt werden, was gewiss nicht hier versucht werden muss.
II. Zum Verhältnis zwischen biologischem und sozialem Geschlecht
In diesem Zusammenhang ist es aber nun viel wichtiger zu sehen, wie die neueren Anschauungen in diesem „alten neuen Feminismus“ sich recht gegensätzlich verhalten. Dabei erscheinen z.B. Luce Irigaray und Judith Butler als ausgesprochene Antipoden. Bei beiden Autorinnen gibt es die Gemeinsamkeit, dass sie sich in ihren Texten dem methodischen Vorgehen der Dekonstruktion verpflichtet wissen, sich dann jedoch konkret und vorrangig anders orientieren: Butler primär an Foucaults Begriff des Diskurses, Irigaray stark an der Psychoanalyse Freuds und an ihrer Fortschreibung durch Lacan. Dabei ist Butler folgender Ansicht: Wenn die Geschlechterdifferenz als Produkt eines hierarchisch verstandenen, vom Verständnis des Mannes her dominierten, heterosexuellen Diskurses entlarvt ist, kann die Alternative in theoretischer und praktischer Hinsicht nur darin bestehen, dass die Geschlechtsrollen durch eine Art von Unterwanderung, ja geradezu durch eine Parodie, also subversiv, aufgesprengt werden und so auch in ihrer Anzahl prinzipiell offen sind. Die Naturwüchsigkeit der Zweigeschlechtlichkeit erscheint bei Butler durchweg als eine gesellschaftliche Konstruktion, während Irigaray an einer unhintergehbaren Geschlechterdualität festhält. Sie ist eine tatsächliche Differenz und ist unbeschadet des bisherigen patriarchalen Zuschnitts und der einhergehenden Verwerfung des Weiblichen theoretisch und praktisch anzuerkennen. Bei aller Gemeinsamkeit sind dies in der Tat tiefe Differenzen, die mit einem verschiedenen Verhältnis von Natur und Kultur zusammenhängen.
Allein schon die Gegenüberstellung dieser beiden Konzeptionen zeigt, wie bewegt die Diskussionen sein mussten und auch waren. Dies gilt natürlich besonders auch für die Diskussion dieser Entwürfe mit anderen Wissenschaften. Die Auseinandersetzung geht dabei sehr stark auf das Verhältnis von sex und gender, also die Relation vom „biologischen“ zum „sozialen Geschlecht“. Dabei gingen die verschiedenen Theoretikerinnen doch von der gemeinsamen Annahme aus, dass sich die Festlegung der Geschlechterdifferenz in einem gesellschaftlich und geschichtlich bedingten Prozess vollzieht, Geschlechtsidentität jedenfalls nicht „von Natur aus“ gegeben ist. Die Diskussion konnte dabei so weit gehen, dass der Unterschied zwischen einem biologischen und einem sozialen Geschlecht als trügerische Differenz gewertet wurde, denn auch das biologische Geschlecht sei eben nicht wirklich natürlich, sondern ebenfalls eine Konstruktion.
Es gibt in dieser Konzeption – auch wenn man dies kaum glauben möchte – schlicht kein naturhaft-biologisches Geschlecht! Freilich muss schon an dieser Stelle betont werden, dass diese Überzeugung von einer fließenden Identität oder der Zuschreibung (Attribution) eines bestimmten Geschlechtes von bestimmten Erkenntnissen methodisch geleitet und gefördert war, nämlich von lesbischen bzw. homosexuellen Personen und noch mehr von solchen, die eine Geschlechtsumwandlung erfahren hatten (Transsexualismus). Ich übergehe dabei das Argument, dass man ethnologisch Kulturen finde, wo die Geschlechtlichkeit des Menschen nicht strikt dichotom, also mit fixierten Rollenverteilungen an Mann und Frau, erfolge. Das Resultat war jedenfalls, dass auch das scheinbar so klar bestimmbare „biologische Geschlecht“ nicht so eindeutig ist. Die Überzeugung, dass es keine notwendige, naturhaft vorgeschriebene Zweigeschlechtlichkeit gibt, sondern nur verschiedene kulturelle Konstruktionen von Geschlecht, wird „Null-Hypothese“ genannt. Der neuere Feminismus hat dabei für den politischen und gesellschaftlichen Bereich die These vertreten, dass die in unseren Gesellschaften so typische Annahme der Existenz von genau zwei dichotomen Geschlechtern fast unweigerlich zu einer Hierarchisierung zwischen Geschlechtern führt, einem Prozess, in dem die Frauen wegen schon lange bestehender Machtverhältnisse sofort in die untergeordnete soziale Position gezwungen werden. Darum habe aber auch erst die Aufhebung dieser Konstruktion von Zweigeschlechtigkeit langfristig eine Chance, hier wahrhaft gleichberechtigte Relationen zwischen Personen herzustellen. Diese Debatte wurde vor allem in England und den USA geführt, etwas verspätet in Deutschland.
Wir sprachen bereits davon, dass in dieser Zeit Judith Butler und ihr Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“, das sich vor allem auf Nietzsche und Foucault beruft, zu einer regelrechten Kultfigur bzw. zu einer Kultperson wurden. Ihr Einfluss ist auch heute noch sehr groß und sollte nicht unterschätzt werden. Dadurch wurde die Kontextualität der Geschlechtsidentität grundsätzlich in ihrem ganzen Gewicht angesetzt. Die Differenzen zwischen weisen Mittelschichtfrauen aus dem Westen der USA und Frauen aus anderen Klassen, Ethnien und Weltreligionen würden dazu führen, dass diese nur selten gleiche Interessen und Probleme hätten. Man könne also von „den Frauen“ gar nicht sprechen. So behauptet Butler zugleich, dass der Identitätsbegriff irreführend und der Subjektbegriff nicht haltbar sei. Subjekte sind nicht „an sich“, sondern werden durch Sprache und Sprachspiele konstituiert. Hinter der Sprache findet sich kein Subjekt. Die Geschlechtsidentität scheint sich geradezu in ein relativ unstrukturiertes Spiel mit letztlich sprachlich konstruierten Identitäten aufzulösen. So gibt es eben letztlich auch kein vordiskursives Ich oder Subjekt. Es muss die Politik des neuen Feminismus sein, geradezu mit Strategien parodistischer Art die Zweigeschlechtlichkeit regelrecht zu unterlaufen und in Verwirrung zu bringen. Der rassistische Diskurs kann vornehmlich durch Ironisierung aufgelöst werden. Ohne feste Identitäten wären schließlich auch keine Hierarchisierungen mehr denkbar.
Diese Thesen haben eine enorme Breitenwirkung gehabt. Vor den Lesern hat sich eine geradezu faszinierende Welt sozialer Geschlechterentwürfe ausgebreitet, die geheime Wünsche nährten und viele Träume in eine erreichbare Nähe rückten. Es besteht auch kein Zweifel, dass damit manche Illusionen gestützt wurden. Die Einschränkungen des eigenen Daseins schienen leicht überwindbar zu sein. Allerdings hat diese Position von Judith Butler auch scharfe Kritik erfahren.
In der Diskussion wird – was hier nicht weiter verfolgt wird – die starke philosophische Abhängigkeit von Michel Foucault kritisch beleuchtet. Nun hat er wie wenige Machtverhältnisse analysiert, aber sie bleiben auch etwas diffus und ortlos. Notwendige Differenzierungen z.B. zwischen Autorität, Beauftragung, Macht, Herrschaft und Gewalt werden verwischt. Schließlich verabschiedet Judith Butler ähnlich wie Foucault die Annahme eines autonomen handlungsfähigen Subjekts. Trotz der Klärungsversuche in ihren späteren Werken bleibt dies gerade auch im Blick auf die politischen Handlungsmöglichkeiten der Frauenbewegung und eine künftige konkrete Programmatik schädlich, weil das Augenmaß für das, was bereits verändert worden ist und noch verändert werden kann, dadurch getrübt ist. Auch Erfolge können so nicht mehr geklärt werden.
Eine weitere Kritik bezieht sich auf eine idealistische Zuspitzung des Konstruktivismus, dass nämlich alles, was ist, nur innerhalb der Sprache zugänglich sei oder gar existiere. Geschlecht und Geschlechtsidentität hätten demnach nur einen sprachlich konstruierten Charakter. Aber sind denn tatsächlich alle Phänomene sprachlich konstruiert und konstruierbar? Dies ist in der Diskussion vielfach verneint worden. So hat Hilge Landweer darauf hingewiesen, dass es Geschlechtszeichen gibt, die nicht willkürlich, sondern ganz fundamental sind, keine weiteren Rückfragen mehr erlauben und unhintergehbar sind. Daraus folgt noch keine Determination von Geschlechtscharakteren, aber eben doch die Überzeugung, dass nicht alles beliebig konstruierbar ist, sondern dass es in Gesellschaften bestimmte Grunderfahrungen wie Tod oder Geburt gibt, die mindestens zu „Aufhängern“ für bestimmte soziale Konstruktionen werden. Nicht erst der Diskurs schafft also die Geschlechterdifferenz. In diesem Sinne muss man auch eine Realität jenseits der Sprache zulassen. Der Feminismus tut sich keinen Gefallen, wenn er dies leugnet.
Vor diesem Hintergrund muss man bedenken, dass diese Konzeption auch die konkreten Bezüge zur leiblichen Wirklichkeit des Frauseins verliert und so nicht aus der Verengung einer cartesianischen Bewusstseinsphilosophie herausfindet. In diesem Sinne wird seit einiger Zeit im neueren Feminismus die eigene Leiblichkeit der Frau tiefer entdeckt. Man ist mehr und mehr überzeugt, dass sich die Natur nicht einfach in Kultur, die Biologie nicht einfach in Soziologie auflöst und geradezu verschwindet. Sonst bleibt der Mensch am Ende auch in fiktiven Beziehungen und Bedeutungen gefangen. Dadurch wird schließlich Identität zerstört. Bipolarität ist eben nicht prinzipiell auszuschalten. Sonst verliert auch die Frauenbewegung im Blick auf ihre Ziele und ihre Programme ihr Subjekt, zu dem eben die eigene Leiblichkeit fundamental gehört: die Frau. So ist in vieler Hinsicht eine kritische Aufwertung der Leiblichkeit zu beobachten. Es geht nicht nur um das Anderssein der Frau, insofern es angeblich immer zur Unterwerfung führt, sondern gerade auch um ihr Eigensein im Anderssein.
III. Auseinandersetzung auf dem Boden christlicher Anthropologie
So muss am Ende die Frage aus den zerstreuten Einzelbemerkungen heraus in eine anthropologische Grundbesinnung hineinführen. Es ist ja in diesen ganzen Fragen nicht zu unterschätzen, dass man sich mit solchen Grundannahmen sehr rasch – ob bewusst oder unbewusst – in einem sehr differenzierten philosophischen, soziologischen und politischen Kontext mit entsprechenden Implikationen befindet. Wer sich den Fragen zuwendet, die in den erwähnten Gender-Studien behandelt werden, darf, wie dies deutlich aus den bisherigen Ausführungen hervorgeht, eine mühsame Reflexion nicht scheuen. Sonst besteht die Gefahr, dass er einer Verstehensvoraussetzung verfällt, die er nicht erkennt, und die so auch leicht zu Vorurteilen werden kann. Kritische Reflexion auf diese Voraussetzungen tut Not.
Ich habe oben schon bemerkt, dass ich früher bereits immer wieder den grundlegenden Modellen nachgegangen bin. Darum möchte ich diese Ausführungen nicht im Einzelnen wiederholen. Aber das Ziel der Überlegungen soll angegeben werden. Dabei wurden folgende Modelle ausgeschlossen: das Modell der Unterordnung und Minderwertigkeit der Frau gegenüber dem Mann, das Modell einer Vorordnung der Frau gegenüber dem Mann, das Modell der Androgynie. Ich kann aber auch keine Lösung im Modell einer abstrakten Gleichheit der Geschlechter erkennen, die im Namen der gleichen Würde und Rechte von Mann und Frau von allen geschlechtsspezifischen Differenzen absieht (darum „abstrakte Gleichheit“). Heute ist dies einsichtiger, denn die breit durchgeführte Egalitarismuskritik hat natürlich auch erhebliche Auswirkungen gehabt auf die feministischen Theorien. Bei allen einzelnen Bedenken gegenüber dem Modell der Polarität von Mann und Frau gab es doch Hinweise, um dieses Modell differenziert weiterzudenken.
Dies kann aber nicht heißen, dass es keine Eigenprägungen oder auch spezifische Ausprägungen des Frauseins gibt. Gewiss ist dies eine sensible Frage, weil ja längst erwiesen ist, wie rasch man Andersheit und Verschiedenheit offen oder unter der Hand umpolen kann und umgedeutet hat zu Höhereinstufungen oder zu niedrigeren Einschätzungen kommen kann („Hierarchisierung“). In der Tat geschieht dies sehr viel schneller und rascher, unbemerkter und verborgener, als die meisten denken. Ich verstehe darum jedes Zögern gegenüber einer Rede von Anderssein und Besonderheiten. Aber es ist gleichzeitig zu bestreiten, dass es keine biologischen und vielleicht auch psychologischen Gründe für Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Ich brauche dies hier nicht fortzusetzen oder gar zu wiederholen. Es empfiehlt sich freilich auch nicht, frühere, gut gemeinte Modelle der Polarität unverändert wieder vorzubringen. Dies heißt aber noch nicht, dass alle Einzelbeobachtungen in den Polaritätsmodellen falsch wären. Sie müssen freilich in ein neues Gesamtbild integriert werden.
Ein solches Gesamtbild nimmt den Ausgangspunkt zweifellos am besten bei der biblischen Grundaussage in Gen 26f.: „Und Gott sagte: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, zu unserem Abbild, sodass sie herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und über alles Wildgetier der Erde und über alles Kriechgetier, das auf der Erde kriecht. Und Gott schuf den Menschen als sein Bild: als Bild Gottes schuf er ihn, Mann und Frau, so schuf er sie.“ Danach gehört die Zweigeschlechtlichkeit zur Erschaffung des Menschen. Es kann kein „Wesen“ des Menschen geben, das von seiner Existenz in zwei Geschlechtern einfach absieht. Den Menschen gibt es von Anfang an nur in der Doppelausgabe von Mann und Frau. Der Text verbietet uns, das Frausein oder das Mannsein nur als einen Ausdruck gesellschaftlicher Prägung zu begreifen. Die Verschiedenartigkeit ist von der Absicht des Schöpfers her gewollt.
Auch in der biblischen und christlichen Ära ist es nicht leicht gewesen, diese Ebenbildlichkeit von Mann und Frau zusammen, nicht nur abstrakt festzuhalten, sondern auch konkret zu verteidigen. Es gibt dafür viele Beispiele, die m.E. noch nicht genügend für diesen Kontext erschlossen sind. Die Respektierung der Freiheit der Frau beim Eheabschluss ist ein solches Exempel. Die Unauflöslichkeit der Ehe ist gerade im Blick auf die Würde und Freiheit der Frau bei allem Machtwillen von Männern und gerade Herrschern von der Kirche immer wieder verteidigt worden. Wenn man die Geschichte der Orden richtig liest, sind die Klöster Stätten der Selbstbestimmung für Frauen. Es gibt also eine vielfältige Personalisierung der Frau durch den christlichen Glauben. Sie ist kein austauschbares Gattungswesen. Die Person ist einmalig. Dies gilt für die Frau nicht minder als für den Mann.
Aber gerade so gilt auch: Ein Mann ist keine Frau, eine Frau ist kein Mann. Verschiedenheit bedeutet keine Negativität. Das Menschsein umspannt das Mannsein und das Frausein. Sie ergänzen sich und bilden zusammen das unverkürzte Menschsein in je der männlichen und fraulichen Ausprägung. Aber deswegen ist der Mann oder die Frau für sich allein nicht einfach ein „halber Mensch“. Weil der Mann und die Frau jeweils vollwertige Personen sind und ihren eigenen Sinnwert in sich tragen, kann es so etwas wie Jungfräulichkeit und Ehelosigkeit geben, schließlich auch letztlich die Einehe. Hier ist noch viel aufzuarbeiten, gerade auch im Verständnis der Jungfräulichkeit.
Hier ist nun der Ort, um deutlich zu machen, dass die Gottebenbildlichkeit von Mann und Frau in diesem Sinne zu einer Gleichwertigkeit ohne jeden Abstrich führt. Es ist auch gut, dass die Bibel auf der ersten Seite diese Gleichwertigkeit, die der Sache nach zum Ausdruck kommt, nicht sofort in eine jeweilige Andersheit aufteilt. Aber Gleichwertigkeit, die die Würde und auch die Rechte beinhaltet, ist nicht einfach in jeder Hinsicht Gleichheit. Es soll eine Gleichheit geben im Blick auf die eben angesprochene Menschenwürde und die damit verbundenen Menschenrechte. In diesem Sinne muss man auch das zu selbstverständlich gebrauchte Wort von der „Gleichstellung“ verstehen. Die Gleichstellung verlangt gewiss die Herstellung derselben Lebensbedingungen von Mann und Frau im Blick auf die Einhaltung der Menschenwürde und die Entfaltung der Menschenrechte. Alles andere wäre eine unerlaubte Diskriminierung. Hier ist das heute oft inflationär gebrauchte Wort am Platz. Aber diese Notwendigkeit einer Gleichstellung verlangt noch nicht automatisch, dass man spezifische Geschlechtscharaktere von Mann und Frau leugnet oder einfach ausklammert. In diesem Sinne lässt also die Gleichwertigkeit ein Anderssein von Frau und Mann durchaus zu. Darum habe ich 1988 und schon vorher bewusst im Blick auf das früher schon genannte Polaritäts-Paradigma festgestellt, dass es bei allen Einwänden „immerhin den sonst bisher nicht zu findenden und unbestreitbaren Vorteil, Wesensgleichheit und einen wesentlichen Unterschied miteinander zu vermitteln“, erlaubt. Nur beide können in ihrer wechselseitigen Verwiesenheit das volle Menschsein repräsentieren. „Jede Theorie, die den Unterschied überzieht, würde die Gleichheit verletzen, jede Theorie, die die Gleichheit absolut setzt, tilgt den Unterschied.“ Auch heute noch möchte ich feststellen, dass „gerade die christliche Anthropologie es bisher zu sehr versäumt hat, auf ihre Weise dieses Modell zu erneuern und in das Gespräch der Gegenwart einzubringen“.
Ich weiß mich hier in guter Übereinstimmung mit Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, die sich seit vielen Jahren, wenn ich recht sehe, in derselben Richtung äußert. Im Blick auf diese Bestimmung stellt sie mit Recht fest: „Schwierig wird die Lösung deswegen, weil beides (Gleichwertigkeit und Anderssein) sein Recht hat. Beides muss zugelassen, d.h. aus der Sphäre von Anklage und Rechtbehalten herausgenommen werden. Gleichwertigkeit und Unterschied ausbilden heißt: den Unterschied leben dürfen und dabei nicht nach höherem oder geringerem Wert beurteilt werden. Dies scheint nach den Erfahrungen der Geschichte nur schwer gleichzeitig möglich und trotzdem macht es auf die Länge der Geschichte die Aufgabe aus. Beide Schwerpunkte werden sich in rhythmischer Abfolge immer wieder verschieben und in ihrem Gewicht ablösen.“ Genau dies ist gemeint.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die in diesem Beitrag geschilderte Weiterentwicklung der theoretischen Frauenfrage in den letzten 20 bis 25 Jahren gezeigt hat, wie produktiv dieses Grundmodell der christlichen Anthropologie ist, wenn wir es richtig und ganz handhaben. Allerdings muss es über die Ansätze hinaus, die hier versucht worden sind, noch tiefer begründet und weiter entfaltet werden.
IV. Abschließende Thesen zur Praxis
Ich habe mir nicht mehr, wie auch der Titel schon andeutet, zum Ziel gesetzt, die einzelnen Inhalte nun in die Praxis hinein zu verfolgen. Dies hängt gewiss nicht damit zusammen, dass ich diese Aufgabe gering schätze. Im Gegenteil, dies ist nochmals einer eigenen Bemühung wert, die nicht so leicht im selben Zusammenhang unternommen werden kann. Aber ich möchte doch in einer Art von Thesen einige praktische Konsequenzen formulieren, die in diesem Symposion gewiss schon bedacht worden sind und über die im Anschluss auch meinerseits noch ein intensiveres Gespräch erwünscht ist.
·Bei allen Bedenken gegen manche theoretischen Annahmen in den radikaleren Gender-Studien empfinde ich es als einen Gewinn, die einseitige Zuspitzung älterer Konzeptionen auf das Frausein allein und ein isoliertes Anderssein aufzulösen und die keineswegs wegzudiskutierenden Gestaltungsfragen nun eher aus einer Perspektive zu betrachten, die immer beide Geschlechter zugleich betrifft, umfasst und freilich auch beansprucht.
·Es ist dabei ein Vorteil, wenn fixierte Rollen zurücktreten und – ohne die jeweilige Identität aufzugeben – eine gewisse Plastizität und Flexibilität in der Gestaltung des Frauseins und Mannseins in den Blick kommt, die einerseits der historischen, gesellschaftlichen und ethnischen Vielfalt der Geschlechterverhältnisse näher kommt und anderseits auch heute den verschiedenen Verwirklichungsformen gerechter wird. Dies darf gewiss die Frage nach dem „Wesen“ von Mann und Frau und vor allem dieses Verhältnisses nicht ersetzen.
·Im Übrigen gibt es dafür auch einen leisen Hinweis in Gen 1,26f., indem nämlich dort in Vers 27c wörtlich zu lesen ist: „männlich und weiblich schuf er sie“. Eine solche Formulierung erlaubt einen stärkeren Austausch und auch einen etwas „fließenden“ Transfer in der Gestaltung des jeweiligen Mannseins und Frauseins.
·Es ist gewiss auch ein Vorteil, wenn in Institutionen Probleme und Aufgaben der „Gleichstellung“ nicht einfach nur von Frauen selbst und allein, sondern zugleich von Frauen und Männern verantwortet werden. Die Sache selbst gewinnt so an Dringlichkeit und hat dadurch vielleicht auch mehr Chancen einer wirklichen, nachhaltigen Realisierung. Diese Chance ist für die einzelnen Institutionen, auch in den Kirchen, jeweils zu bedenken.
·Es wäre jedoch nur die halbe Wahrheit, wenn man sich nur auf die gesellschaftliche Großfläche hinbewegen würde. Ich bin fest überzeugt, dass auch das einzelne Verhältnis zwischen Mann und Frau von solchen Perspektiven Nutzen ziehen kann. Dies betrifft vor allem auch eine neue Gestaltung der jeweiligen Gemeinschaft in Ehe und Familie. Zwar gibt es durchaus in gewisser Weise vorgegebene Grundschemata für dieses Zusammenleben, aber gerade heute muss dieses Zusammenleben bei der Individualisierung unseres Lebens mit allen Erfordernissen und Bedürfnissen des Einzelnen und der Gemeinschaft gestaltet werden. Dies bedarf der freien Übereinkunft zwischen Mann und Frau, die für die Zukunft Verbindlichkeit schafft. Darum ist die Vereinbarung mit dem jeweiligen Austausch an Gaben und Aufgaben wesentlich. Ein wichtiges Feld der Bewährung ist dabei die konkrete Vereinbarkeit von Beruf und Familie, für die der Staat zwar Rahmenbedingungen aufstellen kann, die jedoch am Ende nur von den einzelnen Ehepaaren umgesetzt und konkret verwirklicht werden können.
So bietet die hiermit angesprochene Phase der „alten neuen Frauenfrage“, wie ein Buch heißt, die Gelegenheit, manches doch wohl noch besser und wirkungsvoller zu realisieren, als dies bisher gelungen ist. Ich finde ein Wort von B. Sichtermann bestätigt: „Wir müssen immer beides tun: Auf Gleichheit pochen und die Verschiedenheit betonen, auf der Identität bestehen und in der Polarität unseren Platz behalten.“ Und schließlich will ich aus der umfangreichen Literatur am Ende noch ein anderes Wort anführen, das 1993 geschrieben worden ist: „Seit neun Jahrzehnten geht die Frauenbewegung in Wellen vorwärts und wieder zurück wie Ebbe und Flut und schwemmt jedes Mal die hart erkämpften Eroberungen wie Sandburgen ins Meer. Aber von jeder Phase sind immer Spuren zurück geblieben, die, auch wenn sie noch so zart sind, die Frauen daran erinnern, dass der Kampf lang und hart ist und manchmal so aussichtslos und sinnlos anmutet wie der von Don Quichote. Es scheint so, als ob keine Frauengeneration je dort ankommt, wo sie Freiheit, Gleichheit und Selbstverwirklichung finden kann. Eine jede scheint dazu verdammt, fast wieder von vorne anzufangen, so, als hätte es nie einen Fortschritt gegeben.“ Dies ist in vielem das Menschenlos, das uns auf der einen Seite entmutigen und auf der anderen Seite ermutigen kann. Wir dürfen gewiss nur den mutigen Weg nach Vorwärts wählen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort
Im Originalmanuskript sind eine Reihe von Fußnoten und Literaturangaben vorhanden.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz