Im „Buch der Bücher“ ist von Anfang an die wohl tiefste Einheit von Glaube und Dichtung gegeben. Dafür hat die Bibel viele Genres und Gattungen. Die Bibel hat dabei immer auch Anleihen gemacht aus zeitgenössischen oder älteren Stoffen und Werken. Sie reicht auch tief hinab in die Welt der Mythen, mit denen sie sich auseinandersetzt. Gerade so hat sie in jedem Jahrhundert auch die Schriftsteller inspiriert, die freilich dabei ihre eigenen Wege gingen. Dies hat sich auch im 20. und 21. Jahrhundert nicht grundlegend geändert. Bert Brecht ist nur ein Beispiel dafür, wie mächtig die Bibel in ihren Anstößen heute noch ist.
Freilich haben sich im Lauf der Jahrhunderte Kirche als Ort, wo das Wort Gottes in der Bibel verkündigt wird, und Literatur, die immer mehr „weltlich“ wurde, sehr verschieden zueinander verhalten. Es gibt begnadete Dichter im Raum der Kirche, wobei wir einmal auch in andere Kulturräume schauen müssen, wie z.B. die Rolle des Johannes vom Kreuz und der Teresa von Avila in Spanien. Es wäre aber sträflich, wenn wir im Raum der Kirche selbstgenügsam wären. Denn auch die emanzipierten Schriftsteller haben den Menschen in der Kirche und gerade auch den Verkündigern etwas zu sagen. Die Suche nach dem Menschen, nach seinem Bild und dem Sinn seines Lebens, ist geradezu unerschöpflich. Immer wieder werden in der Kunst Einblicke und Einsichten zu Tage gefördert, die uns helfen, den Menschen in seiner ganzen Realität, mit seinen Höhen und Tiefen, mit seinen Ambivalenzen, gewiss auch in seinen Abgründen und Verlorenheiten zu verstehen. Darum bedarf es immer wieder der erneuten Begegnung von Glaube und Literatur, von Kirche und Kunst.
Ich danke deshalb der Bücherei am Dom und dem Katholischen Bildungswerk Mainz-Stadt, dass sie Patrick Roth, Stadtschreiber in Mainz 2006, für die Veranstaltung heute Abend im Dom gewinnen konnten. Hier ist ein guter Ort für Kunst. Hier ist sie seit mehr als einem Jahrtausend zu Hause. Dies sieht man nicht nur an den Denkmälern und an der Architektur, sondern ich denke auch z.B. an den Hymnus „Veni, Creator spiritus“, wohl verfasst von dem Mainzer Erzbischof Rabanus Maurus, dessen 1150. Todesjahr wir gerade begehen. Ich denke aber auch an die vielfältige musikalische Gestaltung unserer heutigen Gottesdienste. So hat auch eine Dichterlesung hier ihren Platz.
Viele von Ihnen kennen die wichtigsten Lebensdaten von Patrick Roth. Darum will ich nur einige wenige Hinweise geben. Er ist 1953 in Freiburg i. Br. geboren, ist in Karlsruhe aufgewachsen und lebt als freier Schriftsteller und Regisseur seit 1975 in Los Angeles. Bekannt wurde er zunächst als Dramatiker mit den Theaterstücken Die Wachsamen, Kelly und Die Hellseher. Geradezu berühmt wurde er in literarischen Kreisen vor allem durch drei Bücher Riverside, Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten und Corpus Christi, die als „Christus-Triologie“ mit dem Titel „Resurrection“, zugleich als drei Romane bezeichnet, in einer gemeinsamen Kassette erschienen. Die Frankfurter und Heidelberger Poetik-Vorlesungen belegen, dass Patrick Roth sich auf seine Weise auch der Reflexion im Bereich der Wissenschaften stellt.
Für sein umfassendes Gesamtwerk erhielt Patrick Roth mehrere Preise: 1992 den Rauriser-Literaturpreis, 1997 den Preis der Stiftung Bibel und Kultur, 2002 den Hugo-Ball-Preis der Stadt Pirmasens, 2003 den d.lit-Literatur-Preis und 2003 den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung. 2006 ist er bekanntermaßen Mainzer Stadtschreiber.
Patrick Roth ist wie kaum ein anderer Schriftsteller der Gegenwart mit einer ungewöhnlichen Direktheit immer wieder auf Gestalten und Themen der Bibel zugegangen. Dahinter steckt nicht nur ein großer Mut, sondern auch ein hohes Vertrauen, in diesen „Stoffen“ noch viel entschlüsseln und entdecken zu können.
Am heutigen Abend liest Patrick Roth die Erzählung „Magdalena am Grab“, die im Jahr 2002 erschienen ist und ursprünglich ein Kapitel aus den Frankfurter Poetik-Vorlesungen (Ins Tal der Schatten) aus demselben Jahr darstellt. Indem er darlegt, was für ihn Poetik ist und wie er den Schrifsteller versteht, kommt er in diesem III. Teil von selbst ins Erzählen. Der Erzählung ist ein wichtiges Zitat von C. G. Jung vorangestellt: „Die entscheidende Frage für den Menschen ist: „Bist du auf Unendliches bezogen oder nicht? Das ist das Kriterium des Lebens.“
Die Beschäftigung mit Maria Magdalena ist selbstverständlich in der Kirche nicht neu. Was gerade auch in den letzten Jahren dazu geschrieben worden ist, findet sich in Ansätzen selbstverständlich in der Bibel, aber ausführlicher in der Literatur, die die frühe Christenheit nicht unter die offiziellen Schriften der Kirche aufnahm. Ich nenne nur das Petrusevangelium, das Thomasevangelium, das Philippusevangelium und das Maria-Evangelium. Dabei geht es nicht nur um Maria Magdalena als Jüngerin Jesu, auch nicht nur um ihre Bedeutung als erste Zeugin der Auferstehung Jesu Christi, sondern sie erscheint in diesen Schriften auch als wichtige Gesprächspartnerin Jesu, geradezu als Lieblingsjüngerin und als Lebensgefährtin. Sie erscheint so auch als eine Übermittlerin von Offenbarung. Sie übermittelt Worte Jesu, die er nur ihr anvertraut hat. Vom vierten Jahrhundert an lassen sich Versuche nachweisen, die „Apostelin aller Apostel“, wie sie noch bis ins hohe Mittelalter zuweilen genannt wird, zu einem Geschlechtswesen besonderer Art zu machen. Die große Sünderin von Lk 7,36 ff. wurde mit der von bösen Geistern geheilten Maria Magdalena von Lk 8,2 zusammengesehen und zugleich mit der Maria von Bethanien, die Jesus salbt (Joh 12) identifiziert. Die Krankheit dieser Maria aus Magdala wurde auch als eine Folge ausschweifender Sexualität beurteilt. Die Probleme von Sünde und Sexualität sind oft auf Maria Magdalena projiziert worden. Später erscheint sie oft auch als eitle, ausgelassene Dirne.
In der Neuzeit wurden die Traditionen der drei Frauen, die Maria heißen, entflochten. Dadurch entstand wiederum ein neues Bild der Maria von Magdala. Dennoch wird sie immer wieder als Sünderin, Hure und Prostituierte gesehen. Auch die modernen Romane, die sich immer wieder mit ihrer Gestalt beschäftigen (z.B. L. Rinser, Mirjam, 1983; M. Fredriksson, Maria Magdalena, 1999), konnten sich von diesen Klischees nicht befreien. Die feministische Bewegung hat dieses Bild zu korrigieren versucht und wollte z.B. unter dem Titel „Initiative Gleichberechtigung für Frauen in der Kirche e.V. Maria von Magdala“ (1987) an die endgültige Einlösung der Frauenrechte in den Kirchen aufmerksam machen.
Wenn nun Patrick Roth seine Geschichte „Magdalena am Grab“ liest, hat dies nichts oder mindestens sehr wenig damit zu tun. Er geht ganz neu und auf seine Weise an den „Stoff“ heran. Seine Suche versteht er zunächst einmal geradezu detektivisch. Womit beginnt er im Schreiben? Antwort: „Schreiben ist Totensuche. Tot ist, was, tief in mir vergraben, kein Bewusstsein mehr streift. Paradoxerweise ist dieses ‚Tote’, das ich suche, sammle, einlese, nur ein mir Totes, d.h. tot, aber gleichzeitig hoch lebendig. Denn insofern wir nicht davon wissen, ist es ‚tot’, ist es uns tot, das heißt aber: wirklich unabhängig von uns. – Es agiert unabhängig, wirkt, hinterlässt seine Spur in Traum, Tagtraum, in Einfall, Phantasie, beeinflusst uns aufs Mächtigste im Unbewussten, jener Region der Psyche, in der die Schatten leben.“ Aber es bleibt nicht bei der Totensuche. Patrick Roth versteht das Schreiben als Totenerweckung: „Schreiben ist Totensuche. Im Autor, im Leser, wenn er zur Mitsuche verführt wird, wenn der Mut des Autors im Geist des Erzählten auf ihn übergeht. Schreiben ist Totenerweckung. Im Leser, im Autor. Der Autor sucht nach Totem – das heißt: nach etwas, das ihm tot ist, nach einer, die er vergessen hat, nach einem, der tot in ihm liegt. Tot, tief vergessen, schlafend – im Bewusstsein des Autors, des Lesers, jedenfalls nicht vorhanden. Aber etwas ist da. Sonst gäbe es keine Suche – sonst käme es erst gar nicht dazu.“
Wie er dies gestaltet, wie die Wirklichkeitsschichten einander überlagern und ineinander wie fließende Bilder übergehen, ja so aufgelöst werden – all dies erinnert gewiss an den Regisseur Patrick Roth. Hier kommt er ganz in die Nähe moderner Filmästhetik. Bei der Verarbeitung des „Stoffs“ spielen das Kino, Los Angeles, die Stadt des Films, die Literatur, die Tiefenpsychologie (besonders C. G. Jungs) und immer wieder die Bibel eine große Rolle. Viele sehen darin eine ganz besondere Qualität des Autors Patrick Roth. Revelation begreift er als das Heraufkommen einer „anderen Schicht, die vorher nicht zu sehen war“. Es vollzieht sich immer eine Überblendung im Sinne der Übergänge zwischen zwei übereinander gelegten Wirklichkeitsebenen. „Alles beginnt im Dunkeln“, so beginnt Patrick Roth seine Erzählung „Meine Reise zu Chaplin“ , er nennt diese Form des Erzählens Dissolve.
Dies wollen wir nun von ihm selbst hören. Daher schließe ich hier mit den einleitenden und hinführenden Worten.
© Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz