Über die Einzigartigkeit des Holocaust

Anmerkungen zu einem Schlüsselthema im deutsch-jüdischen und im jüdisch-christlichen Gespräch

Datum:
Samstag, 11. Juni 2005

Anmerkungen zu einem Schlüsselthema im deutsch-jüdischen und im jüdisch-christlichen Gespräch

Vortrag bei der Festsitzung der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt am 11. Juni 2005 in Erfurt

Es ist verständlich, dass viele Menschen in unserem Land über 60 Jahre nach Kriegsende in allen Dingen eine „Normalisierung“ verlangen. Deutschland bewirbt sich um einen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Ein Deutscher konnte Papst werden. Kann man denn nicht auch – so vor allem auch Angehörige jüngerer Generationen – unter die ganze nationalsozialistische Epoche einen Schlussstrich ziehen? Gilt das trotz allem nicht doch auch für die zweifellos schlimmen Gräueltaten in den Konzentrationslagern und vor allem gegenüber den Juden?

I.

Ich will zur Veranschaulichung der Probleme nur auf ein Beispiel zurückkommen. Es lässt sich ja nicht übersehen, dass vieles unbewältigt geblieben ist. Darum flackern wieder schnell Konflikte auf. Man kann manchmal staunen, wie rasch sie ziemlich heftig werden. Der Kölner Erzbischof, Joachim Kardinal Meisner, hatte in einer Predigt am 6. Januar 2005, dem Dreikönigstag, Abtreibung und Euthanasie mit den Verbrechen Hitlers und Stalins in einem Satz genannt: „Zuerst Herodes, der die Kinder von Bethlehem umbringen lässt, dann u.a. Hitler und Stalin, die Millionen Menschen vernichten ließen, und heute, in unserer Zeit, werden ungeborene Kinder millionenfach umgebracht“, sagte Kardinal Meisner im Kölner Dom. Wenn der Mensch Gott vergesse, mache er sich nur allzu leicht selbst zu einem Gott, der sich Verfügungsgewalt über das Leben anderer anmaße. Der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dr. h.c. Paul Spiegel, hat umgehend deswegen den Kölner Kardinal scharf angegriffen. Er habe absolut kein Verständnis für Äußerungen, bei denen Abtreibung und Sterbehilfe mit den Verbrechen des Naziregimes gleichgesetzt würden. Solche Sätze seien eine Beleidigung von Millionen Holocaust-Opfern. Nach Protesten vor allem von jüdischer Seite strich Kardinal Meisner in der schriftlich dokumentierten Form der Predigt den Hinweis auf Hitler .

Auf der Sitzung des Ständigen Rates der Deutschen Bischofskonferenz am 24. Januar 2005 kam es zu einer allgemeinen Aussprache über die Situation. Dabei wurde, zunächst gar nicht beabsichtigt, der erwähnte Streit angesprochen. Es wurde im Protokoll folgende Notiz formuliert: „Eine einseitige und falsche Zitierung der Predigt von Kardinal Meisner zum Dreikönigsfest (insbesondere durch den Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland Paul Spiegel) hat kurzzeitig für Aufregung in den deutschen Medien gesorgt. Der Ständige Rat dankt Joachim Kardinal Meisner, der diese Situation souverän und klug gemeistert hat. In der weiteren Aussprache wird an ähnliche Erfahrungen mit dem öffentlichen Verhalten des Zentralrates erinnert und die Sorge um dessen kontraproduktive Wirkung zum Ausdruck gebracht.“ Obgleich das Protokoll des Ständigen Rates vertraulich und nur für den internen Gebrauch bestimmt ist, hat die Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln die Protokollnotiz veröffentlicht. Diese wiederum hat den Zentralrat der Juden empört. Einzelne Mitglieder des Zentralrates haben die Aussagen der Bischofskonferenz als „Kampfansage“ verstanden. Nun will ich nicht in die Einzelinterpretation eintreten. Die Situation hat sich jedenfalls nochmals verschärft, als Ende Februar 2005 aus dem kurz darauf erschienenen Buch des verstorbenen Papstes Johannes Paul II. „Erinnerung und Identität – Gespräche an der Schwelle zwischen den Jahrtausenden“ die Meinung des Papstes dahingehend zusammengefasst wurde, auch der Papst rücke die Abtreibung in die Nähe der Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten.

Der Papst wollte natürlich zuerst auf die Würde und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens aufmerksam machen. Dass der polnischen Papst, dessen Geburtsort Wadowice 30 km entfernt von Auschwitz-Birkenau liegt, dabei auch an die millionenfache Vernichtung menschlichen Lebens in der NS-Zeit denkt, ist wohl verständlich. Kardinal Joseph Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI., hat bei der Vorstellung des Papstbuches in Rom am 22. Februar 2005 die Vorwürfe zurückgewiesen. Die italienische Presse entschuldigte sich danach für die „verfälschende Zuspitzung“ der Papstworte. Die Lektüre des Papstbuches zeigt, dass der Text bedeutend differenzierter gesehen werden muss. Es geht nicht um einen Vergleich und auch gar nicht um eine Gleichsetzung verschiedener Formen von Vernichtung. Es ging dem Papst darum aufzuzeigen, wohin es führen kann, wenn der Mensch sein Leben radikal ohne Gott gestalten will. Schließlich haben der Präsident des Zentralrates der Juden und ich selbst am 25. Februar 2005 ein Gespräch miteinander geführt, um die Situation zu entspannen. Dieses endete mit einer gemeinsamen Presseerklärung vom gleichen Tag. Abgesehen von der Errichtung einer Arbeitsgruppe, die den inhaltlichen Dialog fortführen und den Dissens aufarbeiten soll, herrschte Einigkeit darüber, „dass die Singularität der Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Terrorregime nicht relativiert werden darf; dass es abwegig wäre, die Kritik des Zentralrates als ursächlich für wachsenden Antisemitismus zu verstehen; dass es stets einer besonders sensiblen Sprache bedarf, wenn der Holocaust im politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Reden aufgegriffen oder berührt wird“. Präsident Dr. Spiegel äußerte schließlich „nachdrückliches Verständnis für die hohe Bedeutung, die die katholische Kirche dem Schutz des ungeborenen Lebens beimisst“.

Diese Erinnerung an ein Ereignis vor nicht langer Zeit kann aufzeigen, wie sensibel die Sache ist und wie rasch sie sich wie eine Fackel lichterloh entzündet. Darum ist es notwendig, näher auf die Sache selbst einzugehen.

II.

Man kann wohl leicht und schnell ermessen, dass die Juden höchst aufmerksam sind, wenn der Holocaust rasch in Bezug gesetzt wird zu anderen Formen der Vernichtung menschlichen Lebens. Man sieht dies an der Äußerung Paul Spiegels, die katholische Kirche habe nicht begriffen oder wolle nicht begreifen, „dass es einen gewaltigen Unterschied gibt zwischen einem fabrikmäßigen Völkermord und dem, was Frauen mit ihrem Körper tun“ . Die systematische Vernichtung von ca. sechs Millionen Juden, die ideologisch vorbereitet und fabrikmäßig durchgeführt worden ist, ist ein Massenmord sui generis. Jeder Vergleich setzt sich der Gefahr aus, dass man das Ungeheuerliche dieser Ausrottung relativiert und so den Anfang einer Verharmlosung dieses Genozids begünstigt.

Es ist nicht zu übersehen, dass die nationalsozialistische Ideologie bereits bald nach der Machtübernahme im Jahr 1933 zur Einrichtung von Konzentrationslagern schritt und in gesteigerter Dynamik judenfeindliche Beschlüsse und Gesetze fasste, die in der so genannten „Reichskristallnacht“ (9. auf 10. November 1938) einen ersten Ausdruck fand und schließlich ab der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 die angestrebte „Endlösung der Judenfrage“ mit allen Mitteln vorantrieb . Die Juden waren durch viele Gesetze völlig aus der Gesellschaft ausgegrenzt, rechtlos, besitzlos und sollten keine Chance des Überlebens haben. Der unvorstellbare Vorgang, mehrere Millionen Menschen nach „rassischen“ Kriterien zu „selektieren“, zu deportieren und fabrikmäßig zu ermorden sowie zugleich deren letzte Habe, ja sogar die Haare und das Zahngold der Toten zu sammeln und zu verwerten, spiegelt die singuläre Art des Denkens und Vorgehens bei der Ermordung der europäischen Juden.

Es ist nicht leicht, von einem solchen ungeheuren Ereignis zu reden, wo uns regelrecht die Worte ausgehen. So hat schon damals ein Opfer der Konzentrationslager, der jüdische Autor Primo Levi, gesagt: „Uns wurde bewusst, dass unserer Sprache die Worte fehlen, um diese Beleidigung, diese Zerstörung des Menschen zu beschreiben.“ Gewiss konnte dies nicht heißen, dass man schweigt, weil einem die angemessenen Worte fehlen. Die Präzedenzlosigkeit des Holocaust konnte auch nicht bedeuten, dass man die Errichtung von Konzentrationslagern nicht in ihrer Genese studieren und untereinander in Bezug setzten sollte. Die Unvergleichlichkeit konnte auch nicht heißen, dass man aus historischer Sicht alle Ähnlichkeiten mit Sklavenarbeitslagern und anderen Lagern gleichsam von vornherein verbietet. Wie aber dann davon sprechen?

Man sieht dies bereits an den uns vertrauten Begriffen und Wörtern. Das Wort „Holocaust“ hat in den verschiedenen Sprachen einen etwas anderen Klang und eine nuancierte Bedeutung. Holocaust ist ein Wort der griechischen Bibelübersetzungen des dritten Jahrhunderts v. Chr. und wandert von da aus in die lateinischen Bibelversionen. Das Wort heißt zuerst nichts anderes als Brandopfer, Schlachtopfer (vgl. Gen 22,2; 1 Sam 7,9; 15,22; Hos 6,6). Der Begriff hat zunächst mit den im Tempel dargebrachten Gaben zu tun, den zum Himmel aufsteigenden Opfern. Das heutige Verständnis des Wortes ist verschiedene Wege gegangen. Während es in der deutschen Sprache noch eher mit diesem Opferverständnis verbunden ist, aber sich doch auch von jedem religiösen Kontext gelöst hat und sich sehr stark als das systematische Ausrotten des jüdischen Volkes versteht, ist das Wort im englisch-amerikanischen Sprachgebrauch sehr viel weiter und lässt sich darum auch einfacher auf andere Formen außerordentlicher Lebensvernichtung übertragen. Im Zusammenhang der nationalsozialistischen Judenverfolgung begegnet der Begriff offensichtlich bereits in den Jahren 1943/44, als amerikanisch-jüdische Publizisten und wohl auch englische Politiker das Wort zur Bezeichnung des Massenmords benutzten. Später trug der Film „Holocaust“, der 1979 auch mit großer Resonanz in der Bundesrepublik Deutschland ausgestrahlt wurde, sehr dazu bei, dass der Begriff „Holocaust“ sich sehr einbürgerte und auch verfestigte. Man wird aber einräumen, dass das Wort Holocaust mit seiner einstigen Bedeutung den einmaligen Vorgang des Genozids am jüdischen Volk nicht fassen kann. Die Verbindung zur Opferterminologie und damit zum Kult wirft weitere Probleme auf.

Dies ist wohl mit ein Grund, warum nicht wenige Juden und Wissenschaftler viel eher zum Begriff „Shoa“ neigen, um diese einmalige Katastrophe zu bezeichnen. Sie greifen damit ein Wort auf, das in der jüdischen Tradition auch schon früher zur Bezeichnung von schweren historischen Niederlagen verwendet worden ist. Es gibt dafür auch andere Begriffe, wie z.B. „geserah“ (Verfolgung), ein Wort das auch bereits bei den Verfolgungen während des ersten Kreuzzuges 1096 und wiederum beim Ende der mittelalterlichen Wiener Gemeinde 1421 erscheint. Ein anderes Wort ist „churban“ (Zerstörung, Katastrophe), das in Anlehnung an die Zerstörung des Ersten Tempels auftaucht. Diese beiden Worte haben durchaus einen religiösen Beiklang.

Das Wort Shoa ist zweifellos auch von der Bibel abgeleitet (vgl. Ex 2,23; Jes 6,11; 10,3; 47,11; 1 Sam 5,12). Shoa ist eine „alttestamentliche Bezeichnung für das Bedrohungspotential, das Fremdvölker wie Assur und Babylon als Gegner Israels charakterisiert und vor allem mit dem Bild tosender Wassermassen..., aber auch zerstörender Ungewitter... gezeichnet wird und so mit der Symbolik des Chaos behaftet ist“. Dadurch legt sich der Vorstellungskomplex einer ungeheuren Verwüstung nahe. Obwohl der Begriff aus der Bibel abgeleitet worden ist, hat er aber eine stark säkulare Bedeutung erhalten und wurde mehr und mehr zu einem Grundwort bei der Umschreibung des nationalsozialistischen Massenmordes an den Juden. Dies hat sich auch gewissermaßen amtlich darin gezeigt, dass in der Unabhängigkeitserklärung für den Staat Israel aus dem Jahr 1948 sich die Bezeichnung Shoa für die Judenverfolgung der Nationalsozialisten findet. Schließlich hat Shoa mit der Benennung des 1951 eingeführten Gedenktages an die Verfolgung der Juden als „Tag der Shoa“ an weiterer Verbindlichkeit gewonnen. Es ist kein religiöser Gedenkfeiertag, nimmt aber im gesellschaftlichen Leben einen zentralen Platz ein. Da die Bezeichnung Holocaust wegen der kultischen Verwurzelung im griechischen Alten Testament eher ungeeignet ist, kann Shoa wenigstens teilweise die vom Menschen ausgehende Verwüstung anzeigen, die jedoch einmalige Dimensionen enthält.

In dieser Perspektive ist es wiederum verständlich, dass man zur Kennzeichnung der nationalsozialistischen Judenverfolgung oft einfach „Auschwitz“ als verdichtetes Symbolwort einsetzt, um damit die Konkretion der Vernichtung besonders deutlich zu beschreiben. Manche ziehen auch den Begriff der „Endlösung der Judenfrage“ gerne heran. Früher hatte man darunter auch emanzipatorische Assimilations- und Siedlungsprojekte verstanden. Im Antisemitismus diente der Begriff der Verweigerung der Emanzipation und der Forderung nach diskriminierender Ausgrenzung der Juden, einschließlich z.B. der Nichtzulassung zum öffentlichen Dienst, der „Endjudung“ der Presse und des öffentlichen Lebens, der gesellschaftlichen Ächtung von „Mischehen“. Ab 1933 radikalisierte sich die Metapher bis zur „Endlösung“ im Sinne der Ausrottung. Bei der Wannseekonferenz 1942 ist das Wort schon ein fester, vorausgesetzter Begriff.

Zusammenfassend schreibt ein Kenner der Materie, Johannes Heil, die Situation folgendermaßen: „Dabei ist Shoa in Israel ein sich selbst erklärender, ansonsten aber, besonders im nicht-jüdischen Kontext, ein Begriff mit umschreibender und gelegentlich auch verunklarender Tendenz. Für Deutschland füllen beide Begriffe, Holocaust und Shoa, aber auch Auschwitz und alle daran geknüpften Begriffe, seit den späten 70er Jahren eine Leerstelle aus: es ist im Deutschen kein eigener Begriff entstanden, der den nationalsozialistischen zynischen Euphemismus Endlösung der Judenfrage angemessen ersetzte. So wurden nach 1948 entweder distanzierende Umschreibungen eingesetzt („Schicksal“, „Leid“, „Verfolgung“) oder – wo die Ereignisse beim Namen genannt wurden, - Reihungen vorgenommen: ‚[die Opfer wurden] ermordet... vergast, verbrannt, erschossen, zu Tode geprügelt oder [haben] die unmenschliche Behandlung im Konzentrationslager nicht überstanden’ (Th. Heuss, Unsere jüdischen Mitbürger). Mehr als 50 Jahre nach dem millionenfachen Mord an den europäischen Juden erscheint es unwahrscheinlich, dass künftig ein dem Geschehen angemessenerer und nicht berechtigter Kritik ausgesetzter deutscher Begriff gefunden werden kann.“

Vielleicht ist jetzt deutlicher geworden, warum man eine hohe Sensibilität braucht beim konkreten Gebrauch besonders des Wortes Holocaust. Das Bedeutungsspektrum mit seiner relativen Breite und zugleich Unbestimmtheit schafft Schwierigkeiten, besonders wenn der konkrete Gebrauch nicht näher bestimmt wird. Beim Wort Shoa ist dies weniger gegeben, aber nicht ganz ausgeschlossen. Darum ist man eher versucht, in diesem Kontext im Blick auf die nationalsozialistische Judenverfolgung von Shoa zu reden.

Gewiss hängt es auch damit zusammen, dass diese Sprachnot eine grundsätzliche Verlegenheit mit sich gebracht hat, sodass es zu dem berühmt gewordenen Satz Th. W. Adornos gekommen ist, nach Auschwitz könne man kein Gedicht mehr schreiben. Daran knüpft sich die Frage, ob und in welcher Form man über den im Namen Auschwitz symbolisierten Holocaust schreiben kann. Erlaubt dieser ungeheure Zivilisationsbruch überhaupt eine Fortsetzung kultureller Tätigkeit? So gibt es auch eine aus den USA stammende aufschlussreiche Untersuchung, wie sich die Erzählliteratur der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 mit dem Menschheitsverbrechen der Judenvernichtung auseinander gesetzt hat. Dabei stehen im Mittelpunkt bekannte Autoren wie Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen, Günter Grass, Peter Schneider oder Bernhard Schlink. Freilich gibt es hier auch wichtige „Außenseiter“, wie z.B. Hermann Lenz, Gert Hofmann, Alexander Kluge usw. Die Autorin stellt fest, dass man sich zwar - ähnlich wie in der öffentlichen Debatte - allmählich aus dem fast völligen Schweigen über den Holocaust gelöst hat und von Generation zu Generation auch eine neue Sprache gefunden hat. Es bleibe jedoch weitgehend bei ritualisierten Trauergesten, es fehle die Fähigkeit, sich wirklich emotional den begangenen Verbrechen völlig zu stellen. So spiegele sich in der Literatur selbst bei allen Bemühungen und Fortschritten immer noch „die Sprache des Schweigens“.

Vielleicht muss man jedoch noch andere Schriftsteller und Dichter, ja auch literarische Fomen, z.B. die Lyrik miteinbeziehen. So bin ich überzeugt, dass Paul Celan, z.B. in der „Todesfuge“ eine eigene Sprache zur Vergegenwärtigung des Grauens gefunden hat. Ähnliches gilt für Nelly Sachs.

III.

So wird man jenseits der Begriffsgeschichte wieder zurückgeworfen auf die Fragen nach der Singularität des Holocaust. Das Problem ist ja, was heute fast schon wieder vergessen ist, in besonderer Weise im so genannten Historikerstreit verhandelt worden. Die Kontroverse deutscher Historiker im Zeitraum von 1986 bis 1988 ging um die Frage, ob die nationalsozialistische Judenvernichtung mit anderen Formen des Massenmordes „vergleichbar“ sei. Die Kontroverse begann mit einem Artikel von Jürgen Habermas in der Wochenzeitung „Die Zeit“ (11. Juli 1986), in dem die Thesen der Historiker Andreas Hillgruber und Ernst Nolte zurückgewiesen wurden, die – ich verkürze – in historischer Perspektive die Singularität in Frage stellten, was zu einer relativierenden Neubewertung des Holocaust und der nationalsozialistischen Diktatur führen konnte. Es geht hier jedoch nicht um eine gewiss notwendige und sorgfältige Darstellung vor allem der Positionen von E. Nolte. Habermas erklärte, dass die Auschwitzverbrechen in der ganzen Weltgeschichte so einzigartig seien, dass keine Relativierung zulässig sei. Eine solche Relativierung könne nur auf einer Verharmlosung des nationalsozialistischen Regimes und seiner Verbrecher hinauslaufen. Daher sei der Vergleich zwischen den NS-Verbrechen und denen des Kommunismus – vom russischen Bürgerkrieg über Stalin bis Pol Pot – abzulehnen. Es gibt keine „Normalisierung der Vergangenheit“.

Wir müssen uns hier nicht mit der These beschäftigen, ob die Singularität der NS-Verbrechen sich vor allem aus der Tradition eines „deutschen Sonderweges“ erklärt, der konsequent in das Dritte Reich geführt habe. Jedenfalls darf man feststellen, dass der „Historikerstreit“ letztlich zu keinem bleibenden Ergebnis gekommen ist. Zwar wurden A. Hillgruber und E. Nolte gewiss in die Defensive gedrängt, aber grundlegende Fragen blieben kontrovers und vor allem unbeantwortet zurück. Dabei ging es besonders um die Frage einer „Historisierung der NS-Zeit“ . Dabei sollte deutlich bleiben, dass E. Nolte die Einzigartigkeit der Nazi-Verbrechen nicht in Frage stellte. Es ist deutlich geworden, dass Singularität gewiss nicht Unvergleichbarkeit meinen kann. Ohne einen solchen Vergleich könnte man letzten Endes auch die Singularität nicht begründen. Singularität meint natürlich auch nicht bloß, dass jedes Ereignis in der Geschichte etwas Individuelles und Einmaliges ist. „’Einzigartigkeit’ bezieht sich vielmehr auf etwas, was eben einzig in seiner Art ist. Singularität kann in diesem Zusammenhang also vernünftigerweise nur bedeuten, dass unsere Untaten so weit aus der Reihe der anderen herausragen, dass mit ihnen ein neues Kapitel der Geschichte menschlicher Untaten aufgeschlagen ist, dass sie qualitativ nennenswert über die anderen hinausgehen. Insofern wären sie in der bisherigen Geschichte beispiellos – womit freilich keineswegs schon gesagt sein kann, dass sie es auch in Zukunft sein werden. Mit diesem Ausdruck wird also weder das Menschengeschlecht, noch künftige Weltgeschichte verharmlost. – Der Vergleich aber, durch den allein Singularität sich feststellen lässt, ist schwierig. Die Geschichte der Massenmorde... ist... noch nicht geschrieben worden. Obwohl im Einzelnen von manch einem unter ihnen mehr erforscht ist, als im allgemeinen Bewusstsein präsent gehalten wird.“

Der Grund für diese Einzigartigkeit bestand nicht zuletzt darin, dass vorher wohl noch nie ein Staat beschlossen hatte, eine bestimmte Menschengruppe einschließlich aller Alten, der Frauen, der Kinder und der Säuglinge möglichst restlos zu töten, und diesen Beschluss mit allen nur möglichen staatlichen Machtmitteln in die Tat umzusetzen. Es handelt sich nicht nur um eine unvorstellbar große Welle des Mordens, sondern es ging um den Versuch der systematischen Ausrottung eines ganzen Volkes, die geradezu industriell betrieben worden ist . Im Historikerstreit wurde – ich meine mit Recht – nicht nur eine Steigerung oder ein neuer Modus in der Skala der Möglichkeiten des Tötens aufgezeigt, sondern eben auch ein qualitativer Sprung dargelegt. „Denn es war nicht nur die massenhafte Vergasung völlig neu, sondern auch das Non-Plus-Ultra der Menschenverachtung, das sich darin äußert, dass den Mördern nicht einmal der Aufwand an Grausamkeit und Konfrontation mit der schreienden Not der Opfer zugemutet wurde, dessen es sonst bedarf, sondern dass es zuletzt nur mehr die kalte, fabrikmäßige Vernichtung gab.“ Wem das Wort Singularität weniger zusagt, der sollte sich mit Überlegungen von Chr. Meier befassen, von einer radikalen oder einer völligen Ausnahmeartigkeit der Judenvernichtung zu sprechen. „Das Bewusstsein des ganzen Ausmaßes dieses Verbrechens ist zugleich die Voraussetzung dafür, dass wir diese Wahrheit wirklich zu Gesicht bekommen; dass wir ihr nicht unwürdig begegnen; dass wir nicht zu flach ansetzen beim Versuch, uns zu ihr zu verhalten. Wir sollten über ihr den Versuch zur ‚Ausmerzung’ von Roma und Sinti, zur Vernichtung der polnischen Eliten und andere Untaten, etwa mannigfache Mordaktionen gegen russische Dörfer oder den Tod von drei Millionen russischen Kriegsgefangenen, die teils erschossen wurden, teils in den Lagern umkamen, nicht vergessen. Nur werden sie vom Holocaust an den Juden weit überragt und vermögen sich aus verschiedenen Gründen in der Geschichtserinnerung bei weitem nicht so nachhaltig geltend zu machen.“

Man kann natürlich auch die „Einzigartigkeit“ in einer problematischen Weise übersteigern. Dann könnte unter der Hand die Präzedenzlosigkeit der Shoa geschmälert werden. Dies wird deutlich an dem gewiss in mancher Hinsicht problematischen Buch von Norman G. Finkelstein über die Holocaust-Industrie . Es ist eine Streitschrift. Sie greift die jüdischen Organisationen in den USA frontal an und wirft ihnen vor, eine regelrechte Holocaust-Industrie entwickelt zu haben, die sich ausschließlich der systematischen Ausbeutung jüdischen Leidens in der Zeit des Nationalsozialismus verschrieben habe und zu Unrecht eine historische Einzigartigkeit der jüdischen Katastrophe postuliere. Das wahre Geschehen werde durch die Machenschaften einer „Holocaust-Ideologie“ verdeckt und geradezu unkenntlich gemacht. Gewiss leugnet er nicht das Genozid an den europäischen Juden. Er wehrt sich wie andere schon vor ihm (R. Hilberg und P. Novick) gegen eine Sakralisierung des Holocaust. Man nehme dadurch den Holocaust aus dem historischen Kontext und verleihe ihm durch eine Art von Liturgisierung geradezu eine fetischisierte Einzigartigkeit. Hier wird besonders Elie Wiesel für sein Eintreten im Sinne der Einzigartigkeit des Holocaust angegriffen. Der Judenmord würde als ein quasi-religiöses, unverstehbares Ereignis symbolisiert. Es gäbe auch die Tendenz zu einer latenten Verkitschung des Holocaust. Im Übrigen würde der Holocaust dadurch eben auch zum Instrument einer moralischen Erpressung. Dies führe auch zu einer merkwürdigen Mischung der Entschädigungspolitik aus Moralisierung und Kommerzialisierung. Man wirft Finkelstein wohl mit Recht vor, dass er gerade in dieser Hinsicht nicht ausreichend die Fakten berücksichtigt.

Man muss jedoch, wie mir scheint, eine Bemerkung von Finkelstein ernster nehmen. Er kritisiert die „historische Dekontextualisierung des Holocaust“ mit der Tendenz zur Liturgisierung und Verkitschung der Erinnerung. Hier ist auf die Ausführungen von A. Assmann und U. Frevert hinzuweisen, die auf das Problem einer herrschenden „Erinnerungsinflation“ aufmerksam machen. Wenn es auch immer noch notwendig ist, das Unsägliche zu erinnern und dabei nicht nachzulassen, so droht eben doch in der Tat auch, dass das Gedenken einen manchmal äußerst fragwürdigen kulturindustriellen Zuschnitt erfahren hat. N. Frei hat dies, mindestens für die Phase von 1945 bis 1957, mit dem Stichwort „Vergangenheitspolitik“ umschrieben. Manche Formen der folgenden „Vergangenheitsbewältigung“ und der „Vergangenheitsbewahrung“ sind auch manchmal in der Gefahr einer Beschwichtigung dessen, was gewesen ist. Die Allgegenwärtigkeit und das Übermaß an Holocaust-Symbolik können dabei helfen, das wahre Geschehen geradezu zu verdrängen. Holocaust kann in diesem Sinn ein regelrechtes Zauberwort werden. So wird die adäquate Darstellung der wahren Geschichte zu einem Problem: „Das Dilemma scheint unlösbar. Ohne kulturindustrielle Vermittlung können die Überlebenden und Nachgeborenen sich nicht an Auschwitz erinnern; aber die nachtotalitäre Gesellschaft bringt eine Form des Erinnerns hervor, die das, was wirklich in Auschwitz geschah, hinter dem kulturellen Artefakt ‚Holocaust’ verschwinden lässt.“ Beim Begriff der Kulturindustrie darf man dabei nicht nur an eine konsequente Ökonomisierung der Ereignisse denken, vielmehr geht es auch um auf Konsum ausgerichtete Ästhetisierung und Banalisierung der schrecklichen Ereignisse.

Man muss also die Spannung zwischen einer gleichzeitigen Singularität und einer Aktualisierung, die bis zur Verkitschung geht, aushalten. Die Beschäftigung mit dem Holocaust darf sich nicht zunehmend vom geschichtlichen Kontext loslösen. Es könnte sonst sein, dass man sich ständig auf die Geschichte beruft und doch sie zugleich in einem tieferen Sinne vergisst. Man verweigert sich dann der wahren Singularität. „Gleichzeitig allerdings ist stets zu bedenken, dass die Form, in der Millionen von Menschen in- und außerhalb der Konzentrationslager gequält und ermordet wurden, so einzigartig und sinnlos ist, dass sich jegliches politische Argument und jegliche Instrumentalisierung des Holocaust verbieten sollte. Erinnerung als ideologisierter Gebrauch von Vergangenheit stößt beim Holocaust an eine nicht transzendierbare Grenze.“ Immerhin kann auch J. Habermas in ähnlicher Hinsicht sagen: „Die Aufarbeitung (der Vergangenheit) droht stehen zu bleiben im Palaver der Show-Veranstaltungen.“

In diesem Sinne gibt es zusätzlich auch eine Warnung gerade von jüdischer Seite für den Umgang mit der Shoa. Der deutsche Schriftsteller Rafael Seligmann hat immer wieder gemahnt, der moderne Hebräer dürfe sich nicht einer „Surrogatidentität“ hingeben. Die Shoa sei eben nicht eine Quelle jüdischer Identität. „Der Genozid war die schlimmste Katastrophe der hebräischen Geschichte – eine eigenständige jüdische Leistung war es nicht. Wer den Völkermord in den Mittelpunkt jüdischen Bewusstseins stellt, erhebt damit konsequent Adolf Hitler an Gottes Stelle zum Schöpfer jüdischer Identität: das wäre der mentale Endsieg des Antisemitismus.“ Und im Blick auf Dokumente und Gedenkstätten sagt Seligmann ebenso wie zu historischen Darstellungen: „Doch als Basis eines zukünftigen Judentums taugen diese Bausteine nicht. Ein lebendiges Judentum muss sich auf seine traditionell geschaffenen Werte besinnen. Glaube lässt sich nicht verordnen, doch die Kenntnis der jüdischen Geschichte, der Überlieferung und Kultur ist unabdingbar, um hebräisches Dasein zu rechtfertigen... Der Weg in die Zukunft beginnt für Juden wie Nichtjuden mit dem Kennenlernen der eigenen Geschichte. Sie darf nicht bei Auschwitz stehen bleiben, und Streit ist unvermeidlich. Doch bitte so lebendig und erleuchtend wie in der Judenschul.“ R. Seligmann steht längst nicht allein mit dieser Warnung. So schreibt P. Novick im Geleitwort „An die deutschen Leser“ seines Buches über die Risiken im Umgang mit dem Holocaust, dass die amerikanische Judenschaft den Holocaust spät „ins Zentrum des eigenen Selbstverständnisses und der Selbstdarstellung“ gerückt habe. Er kritisiert mit prominenten Vertretern des amerikanischen Judentums, „dass eine auf den Holocaust gegründete Identität – auf eine von niemandem intendierte Weise – andere Grundlagen der jüdischen Identität verdrängt und unter vielen amerikanischen Juden ein ‚Opferbewusstsein’ erzeugt habe, das weder passend noch wünschenswert sei.“

IV.

Damit sind wir auch wieder bereit, um zum Anfang zurückzukehren. Ich will dies aber nicht ausweiten. Es ging um den Begriff und Gebrauch des Wortes Holocaust. In Frage stand, ob Kardinal Meisner geradezu ein Sakrileg begangen hat, indem er millionenfachen Völkermord der Nazizeit zu den millionenfachen Abtreibungsopfern von heute in Beziehung setzte.

Es ist schon aufgezeigt worden, dass vor allem in den angelsächsischen Gesellschaften der Begriff Holocaust sehr viel offener und vieldeutiger ist, also auch leichter angewendet wird auf andere Formen der Lebensvernichtung. Dies geht auch ganz eindeutig aus der vielfältigen Literatur hervor. Es gibt viele Beispiele dafür, dass man z.B. in den USA unbefangener im Blick auf die hohen Abtreibungszahlen von Holocaust redet als bei uns. Dies gilt aber nicht nur für den amerikanischen Sprachbereich. So kann auch der belgische Moraltheologe M. Schooyans unbefangener vom Abtreibungsskandal im Zusammenhang der NS-Ideologie reden. Er sieht eine „grundlegend gleiche lebensfeindliche Inspiration zwischen Abtreibungs- und Naziideologie“. Andere Beispiele könnte man anführen. Diese Vergleiche stellen jedenfalls nicht die Einzigartigkeit des historischen Holocaust in Frage. Sie unterstreichen diese sogar. Menschenverachtende Denkmuster werden – fern des historischen Faktenvergleichs – in Zusammenhang mit „Holocaust“ gebracht. Hier muss man die verschiedenartige Anwendung des Holocaust-Begriffs ins Auge fassen. Dies kann gewiss zu Missverständnissen führen, aber es gibt eben doch, wenn man den weiteren Begriff von Holocaust wahrnimmt, durchaus ein Fundament – auch wenn es nicht jedem passt. So hat z.B. E. Wiesel gelegentlich von einem „nuklearen Holocaust“ gesprochen.

Gerade auch ein Angehöriger des jüdischen Volkes kann bei dieser weiten Bedeutung von Holocaust verstehen, warum ein Kirchenmann hier irgendwie doch Zusammenhänge zwischen dem heutigen Abtreibungsskandal und der Ausrottung eines ganzen Volks sieht. Die Kirchen verstehen schon die Unterschiede, wir sehen in der grundlegenden Gefährdung des menschlichen Lebens aber auch mögliche Analogien. Die Abtreibungsopfer auf der ganzen Welt gehen schließlich in die Millionen, und zwar in jedem Jahr. Darum nehmen wir auch Kardinal Meisner, der an einer nicht unwesentlichen Stelle seine Äußerung präzisiert hat, in Schutz. Auch wenn z.B. ich selbst nicht so reden möchte wie er, so sind wir doch an diesem Punkt und in dieser Sache mit Kardinal Meisner uneingeschränkt derselben Überzeugung. Und wir berufen uns beim Skandal der Abtreibungsopfer auch auf die Bibel. Zu den grundlegenden Geboten Gottes gehört der unteilbare Schutz des Lebens, wie er im fünften Gebot gefordert wird. Gott ruft uns damals wie heute bei der Entscheidung zwischen Leben und Tod zu: Du sollst nicht töten! Ja, man muss es wörtlich aus dem Deuteronomium hören: „Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor... Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen.“

Wir sprachen am Anfang von den vielen, die einen „Schlussstrich“ verlangen. Aber man kann nicht erledigen, was nicht zu erledigen ist. Juden und Nichtjuden müssen den Holocaust als Mahnung an die ganze Welt begreifen, nicht zu vergessen, dass das Böse weiterhin bleibt, auch wenn es leise ist.

 (c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort. - Im Original sind eine Reihe von Fußnoten enthalten.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz